1.2 Der Begriff ‹Nacherziehung›

Für dieses Buch habe ich bewusst nicht einen Titel gewählt wie ‹Pädagogik von Jugendlichen mit herausforderndem Verhalten›. Der Begriff Erziehung ist absichtlich gewählt. Er ist älter als der Begriff Pädagogik, der erst im 18. Jahrhundert gebräuchlich wurde. Erziehung verweist mehr auf Tätigkeit, auf eine gesellschaftliche Notwendigkeit oder «unvermeidliche soziale Tatsache» (Tenorth 2010, 16). Pädagogik dagegen erscheint neutraler, offener, allgemeiner. Oder wie Tenorth formuliert: «Als Begriff empfiehlt sich ‹Erziehung› auch deswegen, weil Pädagogen ihn anscheinend nur ungern verwenden und sich von den Konnotationen dieses Geschäfts eher fernzuhalten suchen. Im Verständnis von Pädagogen gilt Erziehung – anders als ‹Bildung› – als anstössig, nicht selten nur als Prozess der Fremdbestimmung.» (Tenorth 2010, ebd.)

Noch weniger gehört der Begriff Nacherziehung zum Standardvokabular der heutigen Pädagogik. Er ist in der allgemeinen Bevölkerung und ebenso bei den meisten pädagogisch Professionellen klar negativ besetzt. Argumentiert wird, der Begriff entspreche nicht dem ‹heutigen Standard von Erklärungsansätzen›, er wird als entwertend empfunden, lasse das ressourcenorientierte Denken vermissen, assoziiere Bilder wie ‹Klosterschule›, ‹Durchgreifen›, ‹Repression›. Mir ist bewusst, dass der Begriff Nacherziehung gegen die heute übliche ‹neutrale› oder ‹positiv ressourcenorientierte› oder ‹politisch korrekte› Formulierungsart verstossen mag. Dissozialisierte Jugendliche verhalten sich beim Eintritt in eine Institution auch nicht neutral, sind nie positiv, ressourcenorientiert oder korrekt. Lassen Sie sich als Leser:in diesen Begriff der Nacherziehung zumuten. So wie die Jugendlichen sich uns, und wir uns ihnen, zumuten lassen müssen.

Nacherziehung kommt fast ausschliesslich zur Anwendung, wenn bei Kindern und Jugendlichen gesellschaftlich dissoziales Verhalten festgestellt wurde. Dissoziales Verhalten wird damit als ‹actio› – Nacherziehung als zu erfolgende ‹reactio› verstanden. Wir alle haben in unserer Biografie die Erfahrung gemacht: im Leben gelingt nicht alles auf Anhieb. Und manches, was wir als gelungen oder gar gesichert in unserem Leben betrachten, gelingt uns plötzlich nicht mehr oder geht uns verloren. Bisweilen machen wir auch zu viele Schritte auf einmal oder üben uns im Multitasking. Dann merken wir später, vielleicht, dass wir erforderliche Zwischenschritte verpasst oder Details nicht beachtet haben, die sich nun als Defizite herausstellen. Oder wir entwickeln uns in eine falsche Richtung bis wir zur Feststellung gezwungen werden, nicht mehr weiterzukommen. Dann müssen wir umkehren und eine andere Richtung wählen. Wir alle kennen aus unserem Leben Irrläufer, Nachprüfungen, Korrekturen, Richtungswechsel oder Neuanfänge. Von der Schule her kennen wir auch das ‹Sitzenbleiben›: Wer am Ende des Schuljahres ungenügende Noten hat, nicht mitgekommen ist, erhält eine neue Chance, um in einem zweiten Durchgang das zu lernen, was beim ersten Mal nicht verstanden, nicht erfolgreich geübt und gelernt wurde. Das Schulsystem reagiert also mit einer Nachschulung bei Situationen, in denen seine Leistungen für den Lernerfolg des Kindes oder Jugendlichen unvollständig, nicht erfolgreich oder gar vergeblich sind. Das Ziel dieser besonderen Leistung ist die weitere Integration einzelner Schüler:innen und eine Schadensbegrenzung für ihre Zukunft. Gleiches kennen wir beispielsweise von den Versicherungen, die selber wieder rückversichert sind oder von der Rechtsprechung, die Urteile bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens revidiert resp. ihre Gesetze nachbessert.

Wenn eine Rechnung nicht aufgeht müssen wir nachrechnen, wenn das Denken nicht zum Ziel führt, müssen wir nachdenken, wenn Erziehung nicht geglückt ist, müssen wir nacherziehen. Der Begriff Nacherziehung ist möglichst in dieser neutral-sachlichen Form zu verstehen. Er wird dort verwendet, wo in der elterlichen Erziehung, in der Sozialpädagogik oder Schulpädagogik etwas nicht geglückt ist – und deshalb andere als bisher erfolglos versuchte Vorgehensweisen gefordert werden. Es geht damit «um die zunehmend wichtige Reaktion der Erziehung auf vorangehende Erziehung, als pädagogisches Handeln im Blick auf die jeweilige Vorgeschichte» (Prange/Strobel 2014, 184). Damit ist Nacherziehung – und Erziehung als solche – «die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsachen» (Tenorth 2010, 20). Prange/Strobel (2014, 190) kommen zum Schluss: «Die sozialen Systeme steigern ihre Funktionstüchtigkeit, indem sie Prozeduren der Korrektur ihrer eigenen Entscheidungen vorsehen und Massnahmen der Selbstkontrolle treffen, mit denen sie auf ihre dysfunktionalen Effekte reagieren. Kurz: Nacherziehung ist die Reaktion der Erziehung auf ihre prinzipielle Unvollständigkeit und darüber hinaus auf ihr manifestes Misslingen.» Sie propagieren sogar, dass sich heute jeder Mensch unserer Gesellschaft durch die Erfordernis der éducation permanente oder der Kultivierung der Lernfähigkeit im Prozess der Nacherziehung als Anpassung an die jeweiligen neuen Lebenserfordernisse befindet. Es ist eine Definitionssache, ob wir uns lieber in lebenslänglicher Nacherziehung sehen oder als lebenslang Lernende. Klar ist, dass Lern- und Erziehungsprozesse auch im Erwachsenenalter weitergehen.

Inhalte und Methoden der Nacherziehung werden weder in der Sozialpädagogik, Heilpädagogik oder Schulpädagogik noch in der Entwicklungspsychologie oder Sozialpsychologie gelehrt. Diese Wissenschaften etikettieren Jugendliche ‹mit besonderen Bedürfnissen›, ‹… mit sozial-emotionalen Störungen›, ‹…. mit herausforderndem Verhalten›, ‹…. mit sozialen Verhaltensauffälligkeiten›, ‹… mit erhöhtem Sozialbedarf›. All diese Ausdrücke wollen die Jugendlichen be- und umschreiben. Dieses Buch beschreibt auch einige Persönlichkeitsmerkmale der Jugendlichen. Es behandelt vielmehr Haltungen und Prozesse als Anforderungen an die erwachsenen Professionellen.

Die Notwendigkeit von Nacherziehung hat in den letzten zwei Jahrzehnten in unserer Gesellschaft an Bedeutung gewonnen. Der Begriff ist aber bereits vor über 100 Jahren von Sigmund Freud geprägt worden und wurde dann von den frühen psychoanalytisch orientierten Pädagogen wie Adler, Furtmüller, Pfister, Aichhorn weiterverwendet. Freud spricht an einzelnen Stellen von Nacherziehung, um das Verhältnis des Analysanden zu seiner bisherigen Biografie zu beschreiben. So bezeichnet er 1916/1917 in den ‹Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse›  die «psychoanalytische Behandlung» als eine «Art von Nacherziehung» (Freud 1998, 469). Die Formulierung lässt erkennen, dass Freud zwischen Therapie und Erziehung eine gewisse Gemeinsamkeit sieht; aber er bezeichnet die Therapie lediglich als eine Art von Nacherziehung – in ihrem Wesen und Gehalt ist sie nicht Erziehung. Die Gemeinsamkeit der therapeutischen und pädagogischen Situation besteht darin, die Ergebnisse der bisherigen Erziehung (Werte, Haltungen, Emotionen und Handlungen) anzuschauen um daraus Korrekturen abzuleiten, als eine «Korrektur der Erziehung» (Freud 1991, 305). Freud hat den Unterschied zwischen Therapie und Erziehung immer klar betont, beispielsweise in seinem Geleitwort zum Buch ‹Verwahrloste Jugend› von August Aichhorn[1]. Freud hält dort 1925 fest, «dass die Erziehungsarbeit etwas sui generis ist, das nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung verwechselt und durch sie ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes kann von der Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten.»

Freuds Aussage, Nacherziehung sei eine «Korrektur der Erziehung» ist in zweifacher Hinsicht interessant. Erstens ist Nacherziehung als Korrektur einer Ersterziehung in unserer Gesellschaft ein öfters anzutreffendes Problem geworden. Lehrer:innen, Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen sehen sich häufiger mit Jugendlichen konfrontiert, die lediglich eine ungenügende Kinderstube genossen haben. Freuds Aussage hat nach rund hundert Jahren damit an Aktualität gewonnen. Zweitens hat Freud eine damals neue Erkenntnis ausgesprochen: Erziehung ist nicht in einem bestimmten Alter abgeschlossen und vollendet. Vorher galt fast durchgängig die als Tradition gültige Meinung, dass Erziehung mit der Geburt ihren Anfang und mit dem Mündigwerden ihr definitives Ende hat. Was bis zur Mündigkeit nicht erreicht werden konnte, wird der erwachsene Mensch nicht mehr oder nur noch unter Schwierigkeiten lernen. So wie es im Sprichwort heisst: «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» Man gestand dem Menschen selbstverständlich auch vor Freud die Möglichkeit des Weiterlernens als Erwachsener zu. Aber diese Entwicklung war nicht mehr Teil des Erziehens und des Erzogenwerdens. Sie wurde vielmehr als Teil der Selbstbildung oder praktischen Lebenserfahrung des Erwachsenenlebens betrachtet. Freuds Gedanke war in dieser Hinsicht neu: Es kann auch eine Nacherziehung geben, quasi als Erziehung nach der Erziehung, als Reaktion oder Korrektur der Ersterziehung. Die Phase der (Erst-) Erziehung) dauert nach heutiger Ansicht von der Geburt bis zum Pubertätsbeginn. Nach Remo Largo haben Eltern «mindestens 12 Jahre Zeit, ihr Kind zu erziehen. Wenn es in die Pubertät kommt, können sie nur hoffen, dass sie ihre Sache gut gemacht haben. Den Jugendlichen kann man nur noch beistehen» (Largo/Czernin 2011, 92). Ebenso geht der dänische Pädagoge und Familientherapeut Jesper Juul (2010, 13) davon aus, dass Eltern 12 bis 13 Jahre Zeit und die Möglichkeit haben, erzieherisch auf das Kind einzuwirken, es zu beeinflussen, zu bilden, heranzuziehen und in die Gesellschaft hinein zu erziehen.

Wie die Realität zeigt, gelingt es der grossen Mehrheit der Eltern immer wieder, ihren Kindern und Jugendlichen eine hinreichend gute Erziehung[2] zu bieten, so dass diese in ihrem Elternhaus aufwachsen und sich in unserer Gesellschaft mehr oder weniger gut zurechtfinden können.

Halten wir fest: Nacherziehung erfolgt immer im Anschluss an eine Ersterziehung. Zuerst muss von Erwachsenen ja etwas gezeigt, vermittelt und vom Kind resp. Jugendlichen gelernt werden, damit wir darauf zurückkommen, daran anschliessen können. Nur wenn eine Ersterziehung im Elternhaus nicht glückt und nachfolgend ambulante Erziehungsversuche wie Beizug der Erziehungsberatung, Familientherapie, Erziehungsbeistand, Familienbegleitung nicht gelingen, kommt es am Ende zu einer stationären Nacherziehung. In der Ersterziehung geht es immer darum, den Anschluss an das schulische Lernen, die Ausbildung und die gesellschaftliche Integration zu finden. In der Nacherziehung bleibt die Zielsetzung identisch – aber der pädagogische Aufwand vervielfacht sich. Das heisst, die Investition von pädagogischer Alltags- und Beziehungsarbeit durch geschulte Fachkräfte, der Zeitaufwand und die Finanzen sind um vieles aufwändiger. Abgesehen davon ist eines der Hauptprobleme der Nacherziehung, die jungen Menschen überhaupt für einen Veränderungsprozess zu öffnen und zu motivieren. Viele Jugendliche vollbringen in Institutionen während Monaten Anpassungsleistungen. Sie halten die vorgegebenen Institutionsregeln grossenteils ein, mit dem Ziel, möglichst rasch ‹rauszukommen›. Eine Einsicht in eigenes Fehlverhalten oder gar eine Motivation für eine Verhaltensänderung mit der Endabsicht, sich in diese Gesellschaft integrieren zu wollen ist in solchen Anpassungsleistungen absolut nicht vorhanden.

Nacherziehung mahnt in vielerlei Hinsicht an Saners Begriff der ‹Nicht-optimalen Strategien›. ‹Optimale Strategien› beschreibt er als Verhaltenspläne der Spieltheorie, die mit Gewissheit zu gewünschten Resultaten führen. Dagegen sind beispielsweise die ‹Spiele› der Politik, Sozialarbeit, Behindertenbetreuung oder der Diplomatie in mehrfacher Hinsicht zu komplex um all die Einflussfaktoren verstehen zu können. In solchen Lebensbereichen bleibt uns nichts anderes übrig, als mit Nicht-optimalen Strategien zu arbeiten (Saner 2002, 9). Andere Wissenschaftler bezeichnen dies als offene Grundfragen (vgl. Prange/Strobel 2014; Riessland 2003; Krüger/Romer 2003).

So stehen wir als Pädagog:innen in der stationären Nacherziehung oftmals vor offenen Grundfragen, die vier Ebenen umfassen:

Abb. 1: Grundfragen der Nacherziehung

Unsere Gesellschaft wird sich in den nächsten Jahren vermehrt mit solchen Fragen auseinandersetzen müssen. Die Zahl von sozial nicht integrierten Kindern und Jugendlichen wird weiterhin zunehmen. Darunter hat es etliche Jugendliche mit medizinisch-psychiatrischen Diagnosen, Entwicklungsdefiziten und massivsten Beziehungsstörungen, die aus ihrer Sicht nichts zu verlieren haben, keine Skrupel oder Grenzen kennen weil sie sich innerlich niemandem verpflichtet fühlen ausser manchmal einer Mutter. Aus einer gesellschaftlichen Normalsicht erscheinen die Handlungen solcher Jugendlicher oft völlig sinnlos. Aber die Jugendlichen sehen in ihren Handlungen durchwegs einen Sinn oder ein Ziel. Ob es uns gelingt, diese vermehrt ‹unerzogenen› oder ‹bösen› Jugendlichen nachzuerziehen, ihnen innerhalb der Gesellschaft eine humane Lebensgestaltung zu eröffnen, ihnen eine Lebens- und Arbeitsperspektive anzubieten, ist offen. Dass uns dies bei möglichst vielen Jugendlichen gelingen möge, ist ein anzustrebendes Ziel und wäre für unsere Gesellschaft von grossem Vorteil.

Damit ist das pädagogische Feld der Nacherziehung abgesteckt. Versuchen wir nun, eine erste Definition der Nacherziehung festzulegen, da eine solche in der Literatur bisher nicht zu finden ist.


[1]     Aichhorns Buch trägt den Untertitel ‹Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung›. Er beschreibt darin eindrücklich seine Pionier-Bemühungen um eine psychoanalytisch orientierte Nacherziehung von verwahrlosten Jugendlichen. Aichhorn ist damit wohl der erste Autor, der sich aus einer tiefen humanistischen Sicht mit der Problematik von verwahrlosten Jugendlichen und möglichen Hilfestellungen aus psychologischer Sicht befasst.

[2]     Für mich war dieser Begriff der ausreichend guten Mutter («good enough mother») von D.W. Winnicott immer wieder tröstlich: es genügt, eine hinreichend gute Mutter oder ein hinreichend guter Vater zu sein (= durchschnittlich gut ist hinreichend gut), damit die Erziehung und damit die Entwicklung eines Kindes gelingt. Wir müssen nicht den Anspruch haben, Supermütter oder Superväter oder auch SuperpädagogInnen zu sein – aber hinreichend gut müssen wir erziehen können.