Es fällt auf, dass in der Umgangssprache und in der Fachliteratur die Begriffe Verhaltensauffälligkeit und dissoziales Verhalten ausschliesslich für negativ empfundene Abweichungen von den Erwartungsnormen bei Kindern und Jugendlichen verwendet werden. Weder völkermordende Politiker und Generäle, noch korrupte Präsidenten oder New-Economy-Banker werden dagegen als verhaltensauffällig oder gar dissozial bezeichnet. Mit dieser Einschränkung des Begriffs auf Kinder und Jugendliche gelingt es der normvertretenden Erwachsenenwelt nicht nur, sich selbst als scheinbar nicht verhaltensauffällig darzustellen, sondern sie erhebt sich zudem kritiklos zu einer unbefugten Urteilsinstanz (Köck/Ott 2002).
Der Begriff Verhaltensauffälligkeit erfasst ja nur die äusserste Schale des menschlichen Seins. Das Verhalten ist das, was wir am anderen Menschen zuerst wahrnehmen – und uns dazu sofort auch Vorstellungen bilden. Wir nehmen direkt wahr wie das Gegenüber spricht, steht, sich bewegt, wie das Du sich verhält und was sich da auf der Theaterbühne seines Lebens abspielt. Das Theaterstück der eigenen Biografie soll ja eigentlich ein Besserungsstück sein, bei dem das Individuum etwas zu lernen hat. Unsere Aufgabe im Leben besteht darin, so Friedrich Nietzsche, die Natur und unsere eigene Natur zu vervollkommnen. Er gab gleich die Anweisung mit, dabei auf das Gewissen zu hören: «Was sagt dein Gewissen? Du sollst der werden, der du bist» (Nietzsche 2009, 137). Heute scheint das Leben bei vielen Menschen allerdings eher auf ein hedonistisch-genussorientiertes Lustspiel oder ein social-mediales Scheintheater der Selbstdarstellung hinauszulaufen.
Bei verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist das nicht anders. Aber auf der Hinterbühne haben wir es hier vornehmlich mit Dramen zu tun. Hinter ihrem auffälligen Verhalten finden wir im Gefühlsleben immer Bindungsstörungen, Leiden, Aggressionen, Selbstunsicherheit, Selbstzweifel, fehlende Geborgenheit und Akzeptanz. Bei Gewalt oder sexuellem Missbrauch haben wir als Ergebnis meist klare psychiatrische Diagnosen und oftmals Störungen aufgrund von Traumata. Dies äussert sich im Willensleben als fehlende Willenskräfte, die sich als sofortiges Aufgeben bei Schwierigkeiten, als Mangel an Einsatzkräften und Durchhaltewillen zeigen oder auch als fehlende Frustrationstoleranz.
Als dissoziales Verhalten werden verschiedene Problemverhaltensweisen bezeichnet, deren gemeinsames Merkmal die Verletzung von altersgemässen sozialen Erwartungen, Regeln und informellen wie formellen Normen ist (Beelmann/Raabe 2007; Lösel/Bender 2005). Unter dissozialem Verhalten von Kindern- und Jugendlichen werden vier Gruppen von Problemverhaltensweisen zusammengefasst: oppositionelles, aggressives, delinquentes und kriminelles Verhalten. Betrachten wir die einzelnen Verhaltensweisen genauer:
- Oppositionelles Verhalten bezeichnet vor allem Akzeptanzprobleme von Autoritäten (Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen) und unangemessene Wut- und Streitreaktionen wenn die eigenen Interessen nicht durchgesetzt werden können (Quay 1999).
- Aggressives Verhalten umfasst Verhaltensweisen, die auf die Schädigung von Sachen und Personen ausgerichtet sind, dabei ist eine Schädigungsabsicht Ziel des Verhaltens, wie z.B. bei Vandalismus (Berkowitz 1993).
- Delinquentes Verhalten beinhaltet als Sammelbegriff abweichendes Verhalten während der Pubertät und Adoleszenz. Darunter fallen auch Verstösse gegen formelle Normen, die aber nicht strafrechtlich relevant sein müssen wie Bedrohen, Lügen, Stehlen, Unterricht stören, Schule schwänzen, gelegentlicher Drogenkonsum.
- Kriminelles Verhalten bezeichnet schliesslich schwere bis massive Verstösse gegen geltende Rechtsnormen und Gesetze, die meist eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen wie Diebstahl, Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Mord und neu auch Mobbing.