Zuerst die gute Nachricht: auch die empirische Erziehungswissenschaft ist der Ansicht, dass der oben stehende Erziehungsbegriff einengt. So stellt Steinebach (2003, 17) bei Brezinkas Definition vier offene Baustellen fest:
- Es werden keine Aussagen gemacht über die Zielsetzungen von Erziehung, d.h. was mit Pädagogik angestrebt werden soll. «Sofern Erziehungswissenschaft als empirische Wissenschaft verstanden wird, können Entscheidungen über Normen und Werte als Erziehungsziele nicht Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses sein. Sie bleiben dann entweder Philosophie und Theologie oder gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen überlassen» (Steinebach 2003, ebd.).
- Erziehung geschieht nicht nur von erwachsenen Erziehenden an die zu erziehenden Kinder und Jugendlichen. Erziehung wird zunehmend als wechselseitiger Prozess verstanden.
- Erziehung geschieht nicht nur in geplanten Handlungen. Veränderungen von Dispositionen treten auch als Begleiterscheinungen wenig oder anders geplanter Handlungen auf.
- Erziehung geschieht nicht nur von einer Person in Bezug auf eine andere. Menschen setzen sich selbst Ziele, wählen Mittel und setzen diese Mittel um und verändern so direkt oder indirekt ihr Wissen, Denken, Fühlen, Wollen und Handeln.
Für die Nacherziehung sind die Punkte (2) bis (4) problemlos übernehmbar. Das Problem für die Nacherziehung liegt primär in den kursiv dargestellten Inhalten von Punkt (1): Weil die Erziehungswissenschaft sich seit einigen Jahrzehnten primärals empirische Wissenschaft definiert, kann sie keine Entscheidungen über Normen und Werte als Erziehungsziele machen, da diese nicht Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses sind.
Wenn die Erziehungswissenschaft für sich feststellt, dass sie nichts zu Normen- und Wertefragen in der Erziehung beitragen kann, da diese nicht Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses seien, gleicht dies einer Bankrotterklärung. Da erhängt sich der Diskurs in seiner Schein-Wissenschaftlichkeit. Denn jede Erziehung von Kindern sollte sich – und Nacherziehung muss sich – in den Erziehungszielen an gesellschaftlichen Normen und Werten orientieren und ihre Handlungen danach ausrichten. Es gehört zum Hauptauftrag von stationären Massnahmen, verhaltensauffällige oder dissozialisierte Jugendliche eben in diese Gesellschaft hinein zu sozialisieren resp. zu resozialisieren. Diese Arbeit geschieht immer in Bezug auf die geltenden gesellschaftlichen Normen und Werte. Die Jugendlichen sollen schlussendlich Teil dieser Gesellschaft werden als eigen- und fremdverantwortliche junge Menschen.
Von einer anderen Seite betrachtet heisst dies: verhaltensauffällige oder dissozialisierte Jugendliche haben gegen Normen und Werte der Gesellschaft verstossen. Sie werden deshalb von dieser Gesellschaft sanktioniert zum Beispiel mit Schulverweis, Beistandschaft, Vormundschaft, jugendgerichtlicher Arbeitsleistung oder einer stationären Massnahme. Es ist Aufgabe jeder Gruppe oder Gesellschaft dafür zu sorgen, dass ihre geltenden Gesetze, Regeln, Normen und Werte eingehalten werden. Und es ist ebenso ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass nach Regelverstössen irgendwelche Reaktionen oder auch Sanktionen erfolgen. Sanktionen haben mit das Ziel, dem Regelverstösser mitzuteilen: Das darfst du nicht mehr tun! Das liegt hier nicht drin! Das hat negative Folgen für dich! Passe dich nächstes Mal besser an die Regeln an! Folglich sind in der Nacherziehung Diskussionen und Entscheidungen über Normen und Werte als Erziehungsziele immer Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Es ist zu akzeptieren, dass dieser wissenschaftliche Diskurs nicht Teil der heutigen Erziehungswissenschaft ist – deswegen ist er jedoch noch lange nicht der«Philosophie und Theologie oder gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen überlassen» wie dies Steinebach schreibt. Eine Aussage wie diese zeigt anschaulich das Theorie-Praxis-Problem auf, das heute zwischen den theoretischen Erziehungswissenschaften und angewandter Pädagogik besteht. Bei diesen Themen gilt für mich: Nacherziehung kann und muss nicht immer wissenschaftlich begründet sein – Hauptsache sie hilft den Jugendlichen.
Der Diskurs über Normen und Werte beschäftigt die Erziehungswissenschaft und die praktische Pädagogik gleichermassen – wenn auch aus ganz anderen Ursachen und mit anderen Zielsetzungen. Die Thematik Normen und Werte in der (Nach-) Erziehung und die Abgrenzung zur Erziehungswissenschaft wird in Kap. 2 behandelt.