Nacherziehung ist heute ein kleines Feld der Pädagogik, das vor allem innerhalb der Sozialpädagogik beackert wird. Eingebettet zwischen den Grossbaustellen der Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Psychologie und Jugendpsychiatrie liefern diese die Grundlagen, Theorien und Methoden der Nacherziehung. Die grössten Überschneidungen bestehen im Bereich der Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen.
Abgrenzung zur Heilpädagogik
Beim Begriff Heilpädagogik ist die Vorsilbe ‹Heil›[1] unterschiedlich interpretierbar. Einerseits meint Heil eine umfassende (physische und seelische) heilende Erziehung und andererseits verweist sie auf Ganzheitlichkeit. Aus der katholischen Theologie kommend, propagierte Bopp (1930) nicht nur eine heilende Pädagogik sondern gar eine Heilspädagogik. Heil in Heilpädagogik bedeutet jedoch nicht heilen im medizinischen Sinne als Wiederherstellung eines gesunden, beeinträchtigungsfreien Zustandes. Der zentrale Grundgedanke in der Heilpädagogik ist heute vor allem die Ganzheitlichkeit: eine ganzheitliche Betrachtung, Behandlung und Integration des Menschen. Es soll nicht allein die Behinderung oder die erschwerten Lebensbedingungen und deren Bearbeitung und Lösung betrachtet werden. Bei den Problemstellungen ist vielmehr der ganze Mensch zu betrachten und einzubeziehen. Die Theorie und Praxis von Heilpädagogik sind weite Felder, sie umfassen schulische und ausserschulische Angebote für Menschen mit Auffälligkeiten und Behinderungen. Allgemein bezeichnet man als Heilpädagogik Erziehungsbemühungen, welche auf die Förderung von Menschen abzielen,
- die sich in den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht altersgemäss entwickelt haben oder
- die aus Sicht ihrer Umwelt als fehlentwickelt gelten;
- deren altersgemässe Lebensgestaltung nicht möglich oder zumindest deutlich erschwert ist;
- die sich ausgegrenzt fühlen (vgl. Speck 2008; Eitle 2003).
Heilpädagogik setzt immer da an, wo scheinbar nicht mehr viel zu machen ist. Die gebräuchlichsten, jedoch nicht einheitlich definierten und benannten Arbeitsfelder umfassen: Probleme der körperlichen Entwicklung (z.B. Stoffwechselstörungen oder muskulär-neuronale Erkrankungen), emotionale Probleme (z.B. Überforderung oder familiäre Beziehungsstörungen), kognitive Auffälligkeiten (z.B. mangelnde altersgemässe Unterstützung, Lernbehinderungen), Sinnesbehinderungen (z.B. Seh-, Hörbehinderungen oder Sprachbehinderungen), soziale Probleme (Verhaltensauffälligkeiten, Beziehungsstörungen), Schwerst- bzw. Mehrfachbehinderungen.
Entwicklungsprobleme und -störungen werden in der Heilpädagogik im Zusammenhang mit den jeweiligen individuellen Entwicklungsbedingungen betrachtet. Zur Systematisierung werden Stärken und Schwächen, Belastungen und Ressourcen unterschiedlichen Systemebenen zugeordnet. Um diese verschiedenen Ebenen einzubeziehen, muss das Vorgehen in der Heilpädagogik mehrperspektivisch und ganzheitlicher sein. Im Unterschied zur Allgemeinen Pädagogik ist sie systembezogener (Gesellschafts-, Schul-, Familiensystem) und individuumsbezogener. Ganzheitlichkeit, System- und Lebensweltbezogenheit, Persönlichkeitsentwicklung und Integration sind Kern- und Leitbegriffe der Heilpädagogik.
Das zentrale Anliegen der Heilpädagogik ist die Vermeidung der Ausgrenzung oder die Ermöglichung der Integration des einzelnen Menschen (Steinebach 2003, 298; Lotz 1988). Steinebach bemängelt aber zugleich, dass diese Begriffe trotz definitorischer Bemühungen mehrdeutig und vage sind, weil sie den empirischen Anforderungen nicht genügen (ebd. 297). Das ist die Sicht des empirischen Wissenschaftlers. Die Heilpädagogik selbst versteht sich dagegen als eine «wissenschaftliche Disziplin der Pädagogik» (Eitle 2003, 8). Wobei der heilpädagogischen Gilde klar ist, dass sich ein separatistischer «Eigencharakter» verbietet, «aber auch die illusionäre Vorstellung, in der allgemeinen Pädagogik aufgehen zu können» (Ellger-Rüttgardt, 2016, 18). Historisch betrachtet konzentrierte sich die Heilpädagogik zuerst auf das Blinden- und Gehörlosenwesen. Erst im 19. Jahrhundert wurden die «Krüppel» und «Idioten» als Menschen erkannt. Als Menschen, die mit ihren körperlichen und geistigen Behinderungen erziehungs- und entwicklungsfähig waren. Bis heute blieb im heilpädagogischem Verständnis Verhaltensauffälligkeit oder herausforderndes Verhalten stark auf körperliche-, geistige, Hör- sowie Sehbehinderung beschränkt (Bienstein 2016; Sarimski 2007, 20). Trotzdem ist Heilpädagogik in ihren Inhalten, Bemühungen und Zielsetzungen stark verwandt mit dem Gebiet der Nacherziehung. Heilpädagogik versteht sich als Erziehung unter erschwerten Bedingungen (Moor 1965; Gröschke 1997), die später zum Begriff Erziehung unter erschwerten sozialen und personalen Bedingungen erweitert wurde (Klein et al. 1999, 7) oder als Umgang mit Menschen, die von Unheil betroffen sind (Lotz 1988). Diese Definitionen beschreiben sehr treffend auch das Arbeitsfeld der Nacherziehung.
Abgrenzung zur Sonderpädagogik
Die Sonderpädagogik charakterisiert sich als «Pädagogik angesichts unüblicher Andersartigkeit» (Bürli u.a. 2005, 60). Der Begriff der Sonderpädagogik oder auch Spezialpädagogik (vom engl. Begriff ‹special education› übernommen) wurde in den 1960er Jahren eingeführt. Der Grund war die Ablehnung des Begriffs ‹Heilpädagogik› und das Aufblühen des Sonderschulwesens in Europa. Sonderpädagogik wurde ab den 1980er Jahren praktisch identisch mit dem Begriff ‹Sonderschulpädagogik›. Beide Begriffe betonen das Besondere gegenüber dem Allgemeinen und implizieren oder suggerieren dadurch Absonderung. Abgesondert wurden Kinder und Jugendliche aus den Problemkreisen der Beeinträchtigung, Störung, Behinderung, Benachteiligung (ebd. 60). Diese (Institutions-) Differenzierung wurde durch die in den 2000-er Jahren aufgekommene Integrationsbewegung stark kritisiert. Heute gilt Integration und Inklusion als neue Zielsetzung. Deshalb wurden in den vergangenen Jahren viele Sonderklassen geschlossen. Erhalten geblieben ist der Sonderpädagogik der grosse Auftrag der interkulturellen Pädagogik, als Integration der Ausländerkinder.
Das Selbstverständnis der Heil- und Sonderpädagogik ist heute nicht gross. So stellen Bürli u.a. in ihrem Bericht ‹Heil-/Sonderpädagogik im Rahmen des schweizerischen Bildungswesens› zuhanden der EDK fest: «Seit Anfang der siebziger Jahre befindet sich die Heil-/Sonderpädagogik in einer unübersehbaren Krise» … «Heil-/Sonderpädagogik hat versagt und wird grundsätzlich zur Disposition gestellt. Die Vielfalt und der stetige Wechsel der Selbstbezeichnungen gelten als Krisensymptom. (2005, 51).
Ziele und Inhalte der Heilpädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik sind im Bereich der sozialen Verhaltensauffälligkeit quasi identisch. Etwas pointiert könnte man sagen: Nacherziehung hat in ihrer Zielsetzung immer
- Heilpädagogik zu sein – in ihrem zweifachen Sinn einer ganzheitlichen und heilenden Erziehung;
- Sonderpädagogik zu sein – im Sinn einer besonderen Pädagogik für Kinder und Jugendlichen mit besonderen Biografien;
- Sozialpädagogik zu sein – im Sinn einer sozialisierenden und integrierenden Pädagogik.
Ob Nacherziehung in Zukunft Teil der Sozialpädagogik bleibt, erscheint heute nicht vollständig geklärt. Es besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Heilpädagogik sich aktiver dieser Problematik zuwendet. Es ist davon auszugehen, dass gesellschaftliche Probleme sich in den nächsten Jahrzehnten noch massiver auf die Erziehung der Kinder/Jugendlichen auswirken. Deshalb könnte Nacherziehung mit der Zeit sogar zu einem eigenständigen Spezialgebiet der Pädagogik werden. So wie die Heilpädagogik, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik Spezialgebiete der Pädagogik geworden sind.
Als These gilt: Die Heil- und Sonderpädagogik, ebenso die Sozialpädagogik und das in den nächsten Jahren wichtiger werdende Feld der Nacherziehung sind notwendige, je eigene, aber nicht separate, sondern einander unterstützende, ergänzende und verbundene Teilsysteme der Pädagogik in Theorie und Praxis.
Abgrenzung zur Psychologie
Viele Lehrer:innen, Sozial- und Heilpädagog:innen verfügen heute über Zusatzausbildungen, die ihnen erlauben, therapeutische Behandlungen durchzuführen. Trotzdem werden die therapeutischen Praxisfelder vor allem der Psychologie zugeordnet. Der Grund dürfte darin liegen, dass die meisten Psycholog:innen Beratung und Therapie als ihre Arbeitsbereiche beanspruchen. Es sind aus ihrer Sicht primär psychologische Theorien, welche die Grundlagen der therapeutischen Arbeit bilden. Andererseits ist festzustellen, dass vielfach genau diese psychologischen Theorien der Pädagogik und Sozialarbeit als Fundament dienen und wesentliche Anteile dieser Grundausbildungen ausmachen. Pädagog:innen müssen heute in ihrer Arbeit psychologische Theorien und Modelle anwenden können. Schon Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) baute seinen Unterricht auf psychologischen Methoden auf. Sein Zeitgenosse Ernst Christian Trapp (1745-1818) versuchte, die empirische Psychologie zur systematischen Grundlage seiner Pädagogik zu machen. Später verlangte Johann Friedrich Herbart (1776-1841) von der Psychologie Aufklärung über den Weg, wie das Kind zu einem gebildeten Menschen heranzubilden sei, damit der Erzieher die richtigen Mittel einsetzen und die pädagogischen Hindernisse bewältigen kann. Dagegen erwartete Wilhelm Dilthey (1833-1911) von der Psychologie Erkenntnisse über das Seelenleben des ‹Educandus› und dessen Beeinflussung (Textor 1987).
Heute gründet die Pädagogik wesentlich auf Wissensbeständen der Psychologie wie Allgemeine Psychologie, Lernpsychologie, Sozialpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, Entwicklungspsychologie und Pädagogischer Psychologie. Diese Bereiche sind zugleich Gegenstand der psychologischen Grundlagenforschung. Wissenschaftler:innen forschen nach Gesetzmässigkeiten und suchen Erklärungen für ‹den allgemeinen Fall›. Diese Forschungsergebnisse bilden das Fundament für die Pädagogik, Sozialarbeit, Beratung und Psychotherapie. Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Pädagog:innen arbeiten in der Praxis mit einzigartigen Personen, ‹dem besonderen Fall›, dem Individuum – in immer wieder anderen kontextuellen biografischen Situationen.
Abgrenzung zur Jugendpsychiatrie
Pädagogik setzt sich als wissenschaftliche Disziplin mit Bildung und Erziehung auseinander. Dieser Doppelbegriff ‹Bildung und Erziehung› bildet eine Einheit. Bildung setzt Erziehung voraus. Erziehung beinhaltet immer auch Bildung. Die Psychiatrie als medizinische Fachdisziplin beschäftigt sich mit psychiatrischen und psychologischen Phänomenen. Sie legt den Fokus stark auf den Krankheitsaspekt, d.h. auf die «normalitätsfernen Verhaltensweisen» (Niederhofer 2009, 6). Seit einigen Jahren setzt die ärztliche Weiterbildungsverordnung für Psychiater:innen auch auf einen Doppelbegriff ‹Psychiatrie und Psychotherapie›. Beide Wissenschaften sind bestrebt, beim Menschen Veränderungen zu erwirken. Während die Pädagogik von den gesunden Anteilen und Ressourcen des Kindes/Jugendlichen ausgeht und diese zu stärken versucht, hat die Psychiatrie die pathologischen (= kranken) Anteile im Fokus, die es zu reduzieren, zu heilen gilt.
In den Bereichen der Aufmerksamkeitsstörungen (ADS, ADHS), Essstörungen, Selbstverletzungen, Stimmungsschwankungen, Störungen der Impulskontrolle, sowie bei oppositionellem Problemverhalten, sozialen Ängsten und natürlich bei depressiven oder schizophrenen Erkrankungen ist heute immer die Jugendpsychiatrie involviert. Bei Gewalt- und Sexualdelikten kommt zudem vermehrt die Kinder- und Jugendforensik zum Zug. So konnte eine dieser Fachstellen schon 2015 mit gutem Recht auf ihrer homepage vermerken: «Der Bedarf an kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten zu den verschiedensten Fragestellungen hat in den vergangenen Jahren sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht stetig zugenommen.» Seit Corona hat sich dieser Bedarf geradezu beängstigend entwickelt.
Grundsätzlich ist die Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie für die Pädagogik von grossem Wert. Die Erarbeitung von detaillierten Persönlichkeitsbeurteilungen, Deliktanalysen und legalprognostischen Beurteilungen können für die Pädagog:innen sichterweiternd sein. Die Gutachter:innen haben eine grosse Verantwortung und bedürfen fundierter jugendforensischer und entwicklungspsychologischer Kenntnisse.
Aus pädagogischer Sicht befremdlich wirkt die Tatsache, dass die Weiterbildungsverordnung für Psychiater:innen keine pädagogischen Grundlagen einbezieht. Dabei ist in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen offensichtlich, dass die Pädagogik von gleicher Bedeutung ist wie die Psychiatrie oder Psychotherapie. In psychiatrischen Gutachten steht oft die Erkenntnis als Forderung: dieses Kind benötigt für eine positive Entwicklung primär klare und verlässliche Strukturen. Es benötigt also eine heilende Pädagogik!
Die Pädagogik und die Psychiatrie verstehen psychische Störungen, die sich in Verhaltensauffälligkeiten äussern, identisch als inneren Strukturzerfall. Damit die Jugendlichen entsprechende klare Strukturen erhalten benötigen sie jedoch weniger psychotherapeutische oder psychiatrische Konzepte. Sondern sie benötigen vor allem pädagogisch klare Konzepte mit konstanten und verlässlichen Betreuungspersonen. Das heisst: Ärzte verschreiben Pädagogik ohne über entsprechendes Fachwissen zu verfügen. Hinzu kommt, dass Ärzt:innen unserer Gesellschaft hierarchisch per se über Psycholog:innen und diese über Pädagog:innen stehen, wobei letztere im Alltag die Hauptarbeit leisten. Diese Umstände tragen dazu bei, dass das Verhältnis zwischen Pädagogik und Jugendpsychiatrie in der Praxis nicht nur als kooperativ zu bezeichnen ist. Niederhofer als Dr.Dr. der beiden Disziplinen Psychologie und Medizin erfasst diese oftmals nicht unheikle Situation, wenn er schreibt: «Das Verhältnis zwischen diesen Disziplinen könnte … vermutlich deutlich verbessert werden, wenn in der Weiterbildung und in der täglichen Tätigkeit in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken die Pädagogik im normalen Alltag und auch offiziell genauso wie die psychotherapeutische und psychiatrische Komponente gewichtet wird» (Niederhofer 2009, 8).
Abb. 2 zeigt die wichtigsten Quellen aus Pädagogik, Psychologie und Medizin, welche zur Theoriebildung der Nacherziehung beitragen.
Abb. 2: Nacherziehung als Feld der Pädagogik, Psychologie und Medizin

Die Pädagogik und die Psychiatrie verstehen psychische Störungen, die sich in Verhaltensauffälligkeiten äussern, identisch als inneren Strukturzerfall. Damit die Jugendlichen entsprechende klare Strukturen erhalten benötigen sie jedoch weniger psychotherapeutische oder psychiatrische Konzepte. Sondern sie benötigen vor allem pädagogisch klare Konzepte mit konstanten und verlässlichen Betreuungspersonen. Das heisst: Ärzte verschreiben Pädagogik ohne über entsprechendes Fachwissen zu verfügen. Hinzu kommt, dass Ärzt:innen in unserer Gesellschaft hierarchisch per se über Psycholog:innen und diese über Pädagog:innen stehen – wobei letztere im Alltag die Hauptarbeit leisten. Diese Umstände tragen dazu bei, dass das Verhältnis zwischen Pädagogik und Jugendpsychiatrie in der Praxis nicht nur als kooperativ zu bezeichnen ist. Niederhofer als Dr.Dr. der beiden Disziplinen Psychologie und Medizin erfasst diese oftmals nicht unheikle Situation, wenn er schreibt: «Das Verhältnis zwischen diesen Disziplinen könnte … vermutlich deutlich verbessert werden, wenn in der Weiterbildung und in der täglichen Tätigkeit in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken die Pädagogik im normalen Alltag und auch offiziell genauso wie die psychotherapeutische und psychiatrische Komponente gewichtet wird» (Niederhofer 2009, 8).
[1] Der Begriff ‹Heil› leitet sich vom griechischen «holos» = «ganz, umfassend» ab, wobei «ganz» auch Glück bedeutet.