11.3 Monokulturelle Grossheime und die Individualisierung

Viele Institutionen im Kinder- Jugendbereich haben ihre Entstehungsgeschichte im 20. oder gar im 19. Jahrhundert. Sie wurden als Grossheime konzipiert und im 20. Jahrhundert zu Monokulturen entwickelt (® Kap. 4.3). Diese monokulturellen Grossheime sind heute eigentliche historische Altlasten. Sie sind als Institutionsform zu gross und in den Strukturen zu funktional um den heutigen Ansprüchen einer wirklichen individualisierten Erziehung entsprechen zu können. Aus diesen Gründen funktionieren diese Institutionen in der Nacherziehung von nur dissozialisierten Jugendlichen zwar erfolgreich – in der Nacherziehung von stark beziehungsauffälligen oder traumatisierten Jugendlichen können sie dagegen gar nicht erfolgreich sein. Denn weder die Grösse noch die vorherrschenden pädagogischen Strukturen bieten die Grundlagen für hier notwendige absolut individualisierte pädagogische Prozesse. Diese Institutionen bezeichne ich als historische Altlasten, weil sie die Bedürfnisse der Jugendlichen des 21. Jahrhunderts nicht befriedigen können. Dank des Protektionismus der Direktzahlungen durch Kantone und Bund und den Leistungsverträgen mit der öffentlichen Hand können diese Institutionen jedoch weiterhin und immer wieder neu ihre Quadratur des Kreises üben. Diese Kritik ist zentral und verlangt zusätzliche Begründungen.

Grossbetriebe

Die vom Staat direkt finanzierten Heime sind mehrheitlich ein Produkt der Industriegesellschaft. Während der Industrialisierung wurden erstmals Menschen zu Hunderten in einem Gebäude verstaut, sei es zum Arbeiten in Fabriken oder zum Leben in Armen- und Waisenhäusern (vgl. Dörner/Plog 1989, 466). Sie zeigen auf, dass bei Fabriken und bei Heimen primär betriebswirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund standen. Grösse wurde zudem mit Fortschritt, Erfolg und Ansehen gleichgesetzt: wer die grössere Fabrik betreibt ist erfolgreicher; wer das grössere Heim führt hilft mehr Menschen und geniesst mehr Ansehen. In einer späteren Phase der Industrialisierung hielt die Spezialisierung Einzug in der Wirtschaft – und bei den Heimen ebenso: in dieser Phase wurden die Heime für Blinde, für Taubstumme, für Psychisch Abnorme, für Epileptiker usw. gegründet (® Kap. 4.3 und Abb. 13).

Bereits vor rund 60 Jahren kritisierte der kanadische Soziologe Erving Goffman dieses Konzept der Grossbetriebe. Seine Kernaussage lautet: Was in der Industrie gilt, darf nicht einfach im sozialen Bereich angewendet werden[1]. Er definiert für solche Grossbetriebe den Begriff der totalen Institution: «Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen. Ein anschauliches Beispiel dafür sind Gefängnisse, vorausgesetzt, dass wir zugeben, dass das, was an Gefängnissen gefängnisartig ist, sich auch in anderen Institutionen findet, deren Mitglieder keine Gesetzte übertreten haben» (Goffman 2010, 18).

Goffman unterteilt die totalen Institutionen nach ihren gesellschaftlichen Funktionen. Klöster dienen zum Beispiel als Rückzugs- und Zufluchtsstätte vor dem Weltgeschehen. Gefängnisse dagegen dienen dem Schutz der Gesellschaft vor den Gefahren durch Straftäter. Psychiatrische Kliniken sollen Personen versorgen, von denen die Gesellschaft annimmt, dass sie selbst dazu nicht in der Lage sind oder dass sie für die Gesellschaft eine (un-)beabsichtigte Bedrohung darstellen.

Der zentrale Untersuchungsbereich Goffmans ist die unmittelbare Interaktion, die Face-to-Face-Interaction. Ihn interessiert die Information, die bei der Kommunikation entsteht und ausgetauscht wird – also die Konstruktion der Wirklichkeit aus der Handlung selbst: «Soziale Interaktion im engeren Sinne geschieht einzig in sozialen Situationen, d.h. in Umwelten, in denen zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, dass sie aufeinander reagieren können» (ebd. 55). Als Ergebnisse hält Goffman fest:

  1. das lebendige Miteinander der Menschen nimmt in dem Mass ab, in dem die Grösse der Institution zunimmt. Menschen können miteinander nur lebendig, einander nahe und förderlich sein in kleineren Gruppen, die über familienähnliche Strukturen verfügen. Wenn diese Grösse überschritten wird, bedingt dies immer Standardisierungen in Form von Konzepten und Regelwerken, die für einzelne Bewohner:innen zutreffen und für andere einschränkend oder zumindest sinnlos sind. Für die Lebendigkeit des Lebens und für die Vielfalt des je eigenen Lebensvollzugs der Menschen, die in einer Institution leben, ist dies immer einengend, die individuelle Entwicklung behindernd und damit sicherlich nicht optimal fördernd. Davon ausgenommen sind Krankenhäuser, weil diese nur für Kurzaufenthalte vorgesehen sind.
  2. die Monokulturen in Heimen sind für die Kommunikation tödlich. Wenn in einer Institution Menschen mit gleichen Schwierigkeiten zusammenleben, kreisen die Gespräche immerzu um die gleichen Themen, da alle Bewohner:innen gleich oder zumindest ähnlich sind in ihren Störungen und Defiziten. Dieser Umstand ist in der Heimszene längst bekannt und gilt für jegliche Art von Monokultur-Institution (vgl. Dörner/Plog 1989; Goffman 2010; vgl. Kap. 4.3 und 4.4).

Individualisierung

Die Menschheit ist in einer stetigen Entwicklung – und damit jeder einzelne Mensch. Wir denken, fühlen und handeln heute gänzlich anders als Menschen in der griechischen Kultur oder im Mittelalter.

Eine wichtige Entwicklung des Menschen hat im 20. Jahrhunderts begonnen: die Individualisierung. Unter Individualisierung ist zu verstehen, dass «die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen – freigesetzt werden, ähnlich wie sie im Laufe der Reformation aus der weltlichen Herrschaft der Kirche in die Gesellschaft ‹entlassen› wurden» (Beck 2012, 115).

Die Entwicklung des Menschen in unserer Kultur geht in Richtung Individualisierung, Pluralisierung und Entstandardisierung des Lebenssstils (vgl. Beck 2012; Störmer 2003. Siehe auch Jean Gebser; Georg Kühlewind; Rudolf Steiner; Max Weber; Thoedor W. Adorno/Max Horkheimer; Michel Foucault). Inhaltlich wird darunter verstanden:

  • Der Einzelmensch löst sich aus Familien- und Klassenbindungen. Diese Entwicklung lässt sich an diversen Beispielen aus der Geschichte veranschaulichen. Noch vor 100 oder 50 Jahren war die Lebenssituation des Menschen viel vorgegebener: War der Vater Metzger, wurde der Sohn auch Metzger; der erlernte Beruf wurde bis zur Pensionierung ausgeführt; eine Arbeitsstelle war in der Regel auf Lebenszeit gesichert; man verheiratete sich mit jemandem aus der näheren bis mittleren Umgebung; usw. Die Rollen, Möglichkeiten und Grenzen waren im jeweiligen Familien-, Dorf-, Schul- oder Ausbildungs- und Berufssystem klar gegeben. Der noch weniger individualisierte Mensch lebte eher in einem «Wir-Gefühl» der Familie, des Berufsstandes, des Vereins oder des Dorfes. In einem «Wir-Gefühl» musste sich der Mensch nicht eigentlich abgrenzen, er gehörte ja dazu und ‹man› war sich in den wesentlichen Fragen grossteils einig. Mit der Entwicklung der Individualisierung des Menschen, tritt das «Ich-Gefühl» vor das Wir-Gefühl – und das erfordert Abgrenzung! Zugleich gelten aber die vormals übernommenen Regeln des «Das macht man bei uns so», oder des «Das macht man bei uns nicht» nicht mehr. Früher war der Mensch als Geschöpf mehr Zuschauer der Gesamtaufführung. Heute ist er mehr zum Schöpfer, zum Darsteller auf der Lebensbühne geworden. Die Jugendlichen können heute nicht mehr in die Fussstapfen ihrer Eltern treten, den Erwachsenen als Vorbilder nacheifern. Sie müssen vielmehr ihre Individualität suchen und eine Individualität werden – etwas werden, was noch nicht vorhanden ist. Individualisierung bedeutet deshalb immer auch ein Geworfensein in die Unsicherheit. Eine Folge der Individualisierung ist zudem: vor 50 Jahren hatte der Lehrer eine Beziehung zu seiner ganzen Klasse. Die Sozialpädagogin hatte eine Beziehung zu ihrer ganzen Gruppe. Heute muss der Lehrer respektive die Erzieherin eine Beziehung haben zu jedem einzelnen Kind der Klasse oder Gruppe. Das sind vollkommen neue Herausforderungen an die einzelnen Pädagog:innen, aber auch an die einzelnen Institutionen, die sich dieser Entwicklung anpassen müssen.
  • der Einzelmensch fordert mehr Freiheiten für sich selbst. Die Individualisierung im Denken, Fühlen und Handeln stellt das eigene «Ich» ins Zentrum, d.h. auch die eigenen Bedürfnisse. Der individualisierte Mensch hat klare Erwartungen bei der Selbstbestimmung in der Arbeit, beim Wohnen, in der Freizeit oder in Beziehungen. Durch diese neuen Prozesse werden traditionelle Lebensformen, Lebensnormen und Sicherheiten aufgegeben. Das heisst auch: die Menschen leben mehr nebeneinander als miteinander, sie integrieren sich weniger in die Gesellschaft hinein. Mit jedem Berufs-, Wohnorts- oder Partnerwechsel lernt das Individuum zwar mehr Menschen, Orte und Milieus kennen. Aber dies geht auf Kosten von dauerhaften Bindungen wie z.B. ein konstanter Freundes- oder Bekanntenkreis. Menschen, die sich oft lebenslänglich kannten, fühlten sich gegenseitig verpflichteter. Diese festen Bindungen sind in unserer Zeit einer ständigen Neu- und Umorientierung gewichen. Jeder Mensch ist mehr und mehr für sich selbst verantwortlich. Die neuen Tugenden lauten hier Mobilität und Flexibilität des Individuums. Durch die «Führerlosigkeit» in der modernen Gesellschaft lässt sich laut Heitmeyer (2002) auch der Zuwuchs radikaler Gruppen erklären, da diese Gruppierungen den «individualisierten» und dadurch verunsicherten Personen einen neuen Halt geben können.

Die Individualisierung zeigt sich in vielfältiger Weise, beispielsweise auch in der Entwicklung der Haushaltsgrösse oder dem Wohnbedarf pro Person. Der weit überproportionale Zuwachs an Haushalten geht einher mit der kontinuierlichen Abnahme der Haushaltsgrösse. In den Jahren nach 1900 umfasste ein Privathaushalt im Durchschnitt 4.2 Personen. Laut Bevölkerungsstatistik beträgt die Haushaltsgrösse 2014 2.25 Personen und 2020 2.19 Personen. (BFS: Statistik der Bevölkerung und der Haushalte, 2020). Betrug der Anteil der Ein- und Zweipersonenhaushalte 1920 26% beträgt er 2010 65%, 2015 67.7% und 2020 69.5% aller Haushalte. Tendenz weiter steigend. Der Anteil der Ein- und Zweipersonenhaushalte hat sich in diesen 100 Jahren demnach um 270% vergrössert. Damit einher geht die Zunahme des Wohnbedarfs pro Person: Betrug die Wohnfläche 1980 pro Person 34m2 (frühere Zahlen liegen nicht vor) nimmt sie jährlich um 0.5 bis 0.8m2 zu. Im Jahr 2000 sind es 44m2 und im Jahr 2020 in den seit 2000 neu erbauten Wohnungen 47m2 pro Person (BFS, Gebäude und Wohnungsstatistik 2020). Diese Zahlen sind ein Niederschlag der Individualisierung, die durchaus nicht nur positive Auswirkungen zeitigt.

In den stationären Institutionen manifestiert sich die Individualisierung sowohl in der Heimgrösse als auch in der Gruppengrösse, Klassengrösse oder in der Bettenzahl pro Zimmer eindrücklich.

Heimgrösse: Die Zahl der Einrichtungen ist heute grösser als je zuvor. Trotzdem stehen heute weniger Plätze zur Verfügung als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Untersuchung der Heimverzeichnisse von 1933, 1979 und 1994 von Hochuli Freund (1999, 44) zeigt, dass die im 19. Jahrhundert gegründeten Einrichtungen durchschnittlich 46 Plätze anboten. 1933 lag die durchschnittliche Heimgrösse mit 51 Plätzen leicht höher, 1979 mit 31 Plätzen dann aber deutlich tiefer. Mit der Gründung der zahlreichen familienähnlichen Einrichtungen sank die durchschnittliche Heimgrösse bis 1994 auf 21 Plätze.

Bei den Heimen für weibliche Jugendliche war die Veränderung der durchschnittlichen Anzahl der Plätze noch eindrücklicher: die im 19. Jahrhundert gegründeten Anstalten waren mit 71 Plätzen überdurchschnittlich gross. Im Jahr 1933 lagen sie mit 41 Plätzen im Durchschnittsbereich der anderen Heimtypen. 1979 respektive 1994 waren sie mit 16 beziehungsweise 13 Plätzen der kleinster Heimtypus.

Gruppen- und Klassengrösse: In der Literatur des 19. Jahrhunderts wird die maximale Anzahl von Zöglingen, mit denen eine sinnvolle familienähnliche Erziehung noch möglich ist mit 18 bis 40 Kindern angegeben. Der Seminardirektor Johannes Kettiger gibt 1844 für die Volksschule Baselland eine durchschnittliche Klassengrösse von 90 Schülern an (Chmelik 1986, 132). Um 1900 sind Schlafsäle für 20 bis 50 Zöglinge üblich. In den Zwischenkriegsjahren entwickelt sich eine Aufteilung in Gruppen von 12 bis 15 Zöglingen. Diese werden von einer Erzieherin geleitet, «die mit den Kindern lebte und arbeitete, im gleichen Schlafsaal schlief und am selben Tisch ass» (Aschwanden/Maurer 2009, 26). In einem nächsten Schritt erfolgt eine Reduzierung der Gruppengrösse auf 10 bis 12 Zöglinge, denen nun 2 Zimmer zur Verfügung stehen. Die verantwortlichen 2 Erzieher:innen erhalten ein eigenes Zimmer direkt nebenan. Ab den 1970-er Jahren reduziert sich allmählich die Gruppengrösse auf 8-10 Kinder, die in 2-er bis 6-er Zimmer leben und durch ein Team von mehreren Erzieher:innen betreut werden, die teilweise neu auch extern leben können. In dieser Phase geschieht die für die Sozialpädagogik wichtige Trennung in einen externen Lebensmittelpunkt mit Wohnen und Leben und der Arbeit in der Institution.

Heute sind in den stationären Institutionen Gruppen von 6 bis 9 Kindern/Jugendlichen üblich. Die gesetzlichen Qualitätsanforderungen verlangen Einzelzimmer, einen Mindeststellenplan des Betreuungsteam und mindestens 2/3 Mitarbeitenden mit Fachausbildungen. Die früher intern lebenden Sozialpädagog:innen und Leiter:nnen wohnen mittlerweile alle auswärts und kommen für die Arbeit in die Institution. Die Entwicklung zeigt sowohl bei den betreuten Kindern und Jugendlichen als auch bei den Pädagog:innen innerhalb der vergangenen 100 Jahre eine starke Individualisierung.


[1]     Goffman hatte in einer Feldstudie als teilnehmender Beobachter 1955 bis 1956 das St. Elizabeths Hospital in Washington D.C. untersucht, eine psychiatrische Anstalt, in der 7’000 Menschen untergebracht waren.