11.1 Milieutherapie: Rekonstruktion eines ‹idealen› Erziehungsprozesses

Im Zentrum der nacherziehenden Tätigkeiten steht der Alltag und die pädagogische Milieugestaltung dieses Alltags. Strukturierte Tagesabläufe sind für alle Jugendlichen – ob dissozialisierte oder mit primär psychiatrischen Diagnosen – von grosser Wichtigkeit. In Anlehnung an Schlieckau (2009, 260) ist es heute Aufgabe der nacherziehenden Pädagogik «aus den Symptomen einer misslungenen Sozialisation einen idealen Erziehungsprozess zu rekonstruieren, um die Chancen des Educanden zur Teilhabe an der Gesellschaft zu erhöhen» (vgl. auch Trescher 1992). Dieses Rekonstruieren› eines idealen Erziehungsprozesses vollzieht sich schrittweise über Monate und Jahre in der täglichen pädagogischen Auseinandersetzung zwischen Pädagog:in und dem/der Jugendlichen. Einzelne Vertreter verstehen diese Arbeit primär als therapeutischen Prozess, als «Milieutherapie». So schreibt Schlieckau: «Nacherziehung ist die zentrale Aufgabe der pädagogischen Therapie und sichert in stationären Behandlungseinrichtungen die Wirksamkeit der psychotherapeutischen und medizinischen Behandlung als Therapien im engeren Sinne» (ebd. 260). Man kann, wie Schlieckau, die Nacherziehung als Milieutherapie und pädagogische Therapie bezeichnen. Ein differenziertes pädagogisches Angebot innerhalb klarer Strukturen ist die eigentliche Therapie, welche mit der Zeit zu Verhaltensänderungen führt. Die psychotherapeutischen und medizinischen Therapien erweisen sich oft als elementar notwendig, als sinnvolle und hilfreiche Begleitung.

Die Hauptaufgabe im pädagogischen Alltag ist es, einen Lebensraum zu schaffen, in dem die Jugendlichen ohne dauernde Negativ-Beurteilung wahrgenommen werden, sich angenommen und gehalten fühlen. Die Mitarbeitenden tragen die Verantwortung für das Milieu des Alltags, die Kultur und Atmosphäre der Gemeinschaft und die Gestaltung der Umgebung. Durch ihr Vorbild – möglichst ohne Druck, Überredung oder Manipulation – ermutigen sie die Bewohner:innen, all das zu tun, was notwendig ist für das alltägliche Zusammenleben. Sie legen Wert darauf, dass möglichst authentische Erfahrungen gemacht werden können, achten auf klare Grenzen, verlässliche Regeln und Verbindlichkeit. Die gemeinschaftliche Verantwortung für eine Kultur des Miteinanders und die Achtung der individuellen Bedürfnisse sind zentrale Inhalte. In diesem sicheren Rahmen können Jugendliche und junge Erwachsene tragfähige und lebensrelevante Selbst- und Fremdverantwortung lernen, entwickeln und im Kleinen anwenden.

Die Milieutherapie als Nacherziehung im Alltag kann sich in den Zielsetzungen der Resilenz (Daniel/Wasell 2002, 13) oder an Largos Fit-Konzept (Largo/Czernin 2011, 11) orientieren. Die Inhalte und Ziele sind weitgehend identisch.

Das Resilenz-Konzept

Resilenz[1] umfasst die gegensätzlichen Kräfte der Vulnerabilität: sie ist die Kraft, die es einem Kind oder Jugendlichen ermöglicht, mit Belastungen adäquat umgehen zu können. «Resilenz ist die psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken» (Wustmann 2004, 18). In ihren Arbeitsbüchern für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit psychosozialen Risiken nennen Daniel und Wasell drei Grundbausteine, die Resilienz stützen:

  1. eine sichere Basis, in der das Kind ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit erlebt und die es ihm ermöglicht, sich aktiv explorierend mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen;
  2. eine gute Selbst-Wertschätzung, d.h. eine verinnerlichte Vorstellung, etwas wert zu sein und zu können: Positive Kompetenzerfahrungen ermöglichen die Bildung von Selbstvertrauen;
  3. ein Gefühl der Selbst-Wirksamkeit, d. h. von Einfluss und Kontrolle. Zusammen mit einem realitätsbezogenen Wissen der persönlichen Stärken und Grenzen ermöglichen sie die Entwicklung realistischer Kontrollüberzeugungen.

Diese drei Grundbausteine der Resilenz lauten aus der Sicht des Kindes/Jugendlichen:

  1. ICH HABE: «Ich habe Menschen, die mich akzeptieren oder sogar gern haben, und Menschen, die mir helfen» (= sichere Basis).
  2. ICH BIN: «Ich bin eine liebenswerte Person und respektvoll mir und anderen gegenüber» (= Selbst-Wertschätzung).
  3. ICH KANN: «Ich kann Wege finden, Probleme zu lösen und mich selbst zu steuern» (= Selbst-Wirksamkeit) (vgl. Daniel/Wasell (2002, 13).

Fit-Konzept

Largo entwickelte in seinem Buch ‹Kinderjahre› (1999) das Fit-Konzept, das er in ‹Jugendjahre› (2011) auf die jugendlichen Entwicklungsaufgaben adaptiert hat:

  1. Geborgenheit: Jeder Jugendliche will sich geborgen fühlen. Eine bedingungslose Bindung zwischen Kind, Eltern und anderen Bezugspersonen gewährleistet im Normalfall emotionale Sicherheit. Wenn sich der Jugendliche in der Pubertät von den Eltern ablöst, muss er diese emotionale Sicherheit anderswo finden;
  2. Soziale Anerkennung: Jede Jugendliche braucht soziale Anerkennung und eine gesicherte Stellung in der Lebensgemeinschaft. Soziale Sicherheit gewährleistet im Normalfall die Familie und Schule. Nach der Pubertät muss die Jugendliche aus eigener Kraft ihren Platz in der Gesellschaft finden und sich soziale Anerkennung verschaffen;
  3. Entwicklung und Leistung: Jeder Jugendliche will seine Fähigkeiten möglichst gut ausbilden. Als Kind hat er vielfach für die Eltern oder Lehrer:innen gelernt. Ab der Pubertät muss er für sich selbst lernen. Er muss Stärken entwickeln, um dann im konkreten Tun und Handeln in Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreich zu sein.

[1]     Resilenz (lat. resilire = zurückspringen, abprallen) bedeutet seelische Widerstandsfähigkeit, Spannkraft, Elastizität als Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen.