Alle Eltern gründen die Erziehung der eigenen Kinder auf persönlich wichtigen Erziehungszielen. Lehrer:innen im Unterricht und Pädagog:innen in stationären Institutionen sind in der Anwendung von Erziehungszielen als professionellem Instrument mehr oder weniger konsequent. In der Nacherziehung ist die Arbeit mit Erziehungszielen und der Zielerreichung unabdingbar.
Deshalb müsste man davon ausgehen, dass in allen Einrichtungen für Nacherziehung die Arbeit mit Erziehungszielen und Förderplanungen eine Selbstverständlichkeit ist. Dem ist leider nicht so. Als Team- und Fallsupervisor in vielen Institutionen habe ich wiederholt Situationen angetroffen, in denen Jugendliche teilweise während Monaten eingewiesen sind, ohne dass mit ihnen die Ziele des Aufenthaltes besprochen wurde – geschweige denn eine Förderplanung mit ihnen zusammen entwickelt wurde. Das soll nicht eine Kritik an den Sozialpädagog:innen, Lehrer:innen oder Psycholog:innen sein. Sie alle bewältigen in der stationären Nacherziehung von Jugendlichen oft einen mühsamen und aufreibenden Alltag mit grossem persönlichem Engagement. Darunter sind häufig Studienabgänger:innen, die zwar die Modelle gelernt haben, aber in der Umsetzung nicht über die nötige Kompetenz und Alltagserfahrung verfügen. Zudem ist klar: die Verantwortung für die Definition und Umsetzung der Aufenthaltsziele liegt in der Führungsverantwortung, also bei der Erziehungsleitung resp. Institutionsleitung. Nicht zuletzt liegt die Verantwortung für eine klare Aufenthaltsplanung mit Zielsetzungen und Förderplanung auch bei den einweisenden Behörden.
Bevor sich die Erziehungswissenschaft dem empirisch-wissenschaftlichen Weg verschrieb, hat sie sich selbstverständlich auch mit Erziehungszielen und den dahinter stehenden Normen und Werten beschäftigt. Noch vor 40 Jahren hat Walter Tröger, Professor für Pädagogik in Regensburg (1966 bis 1980) in seinem damals viel beachteten Buch ‹Erziehungsziele› die Zieldiskussionen in der Pädagogik auf eine breitere Basis gestellt. Er beschrieb und klassifizierte nicht nur ausführlich verschiedene pädagogischer Ziele, sondern stellte die Frage nach verpflichtenden Normen und Werten in der Erziehung. Tröger (1974, 74) stellt drei grosse Gruppen von Erziehungszielen vor:
- Der anthropologische Bereich. Der Rechtfertigungsgrund für die Zielentscheidung ist hier ein Menschenbild, früher z.B. das des Gentlemen, oder, unserem heutigen Verständnis entsprechend, das der mündigen Person.
- Der normative Bereich. Rechtfertigungsgrund für die Zielsetzung sind hier Werte und Normen, sofern sie sich als ‹objektiv›, d.h. für alles menschliche Handeln und somit auch für die Erziehung verpflichtend nachweisen lassen.
- Der pragmatische Bereich. Rechtfertigungsgrund sind hier die Aufgaben, welche die Gesellschaft stellt.
Tröger definierte: «Erziehungsziele sind Lebensziele» (ebd., 12). Für die stationären Institutionen kann dieser Satz ergänzt werden: Aufenthaltsziele sind Erziehungsziele sind Lebensziele. Nach Kaiser/Kaiser (2001, 45) lassen sich traditionelle Erziehungsziele benennen als Bildung, Mündigkeitund Emanzipation.
Der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig vertritt die Auffassung, dass sich in der Gesellschaft nicht eigentlich die Werte gewandelt haben, sondern vielmehr die Mittel, mit denen die Gesellschaft ihre Werte sichert, also die Tugenden, die heute Erziehungsziele genannt werden (vgl. v. Hentig 2012, 133ff.) Selbstverständlich haben sich mit den gesellschaftlichen Umwälzungen in den vergangenen Jahrhunderten die Tugenden/Erziehungsziele mit verändert.
Die acht Tugenden, welche Andrea Pisano 1330 am Südportal des Baptisterium in Florenz in allegorischen Bronze Halbreliefs darstellte tragen die Begriffe: Stärke, Mässigung, Gerechtigkeit und Klugheit; Hoffnung, Glaube, Barmherzigkeit und Demut. Die Tugenden zu Beginn des 20. Jahrhunderts lauteten nach v. Hentig dagegen beispielsweise: Sparsamkeit, Arbeitsfleiss, Keuschheit, Gehorsam, Pflichterfüllung. Heute sind nach v. Hentig wiederum ganz andere Tugenden gefordert: «Urteilen und denken, prüfen und zuhören, beobachten und improvisieren, geduldig sein und genau sein, Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit, die Fähigkeit zur Kooperation und zu selbständigem Handeln, zum Austragen von Konflikten und zum Aushalten von Unentschiedenheit, zu Mut und Überzeugung – und zu deren begründeter Preisgabe.» (ebd. 135). So haben sich mit den Tugenden der Gesellschaft auch die Erziehungsziele gewandelt. Eine solche Veränderung haben Schneewind und Ruppert in einer Langzeitstudie über 16 Jahre untersucht. Eltern, die in den 1970-er Jahren ihre Kinder erzogen gaben später an, sie würden, hätten sie nochmals Erziehungsaufgaben zu übernehmen,
«a) an ihre Kinder geringere Anpassungsanforderungen bezüglich religiöser, leistungsbezogener und sozialer Verhaltensstandards stellen,
b) ihren Kindern mehr Mitspracherecht einräumen und sie nachgiebiger behandeln sowie
c) für ihre Kinder emotional zugänglicher sein und sie mehr belohnen bzw. weniger bestrafen» (Schneewind/Ruppert 1995, 162).
Die Entwicklung der gesellschaftlichen Erziehungsziele lässt sich zusammenfassend so darstellen:
Abb. 25: Veränderungen der gesellschaftlichen Erziehungsziele, -einstellungen und -praktiken: 1975 – 1992 im Vergleich

Quelle: Schneewind/Ruppert 1995
Erziehungsziele und Förderpläne sind nicht ein freiwilliges Kürprogramm, sondern gehören zum Pflichtprogramm von stationären Institutionen. In empirischen Schulqualitätsstudien wurde diesen Instrumenten bereits 1980 eine Präventionswirkung nachgewiesen: Ein Grundkonsens von klar festgelegten Zielsetzungen reduziert in deutlichem Mass die Disziplinprobleme im Unterricht (Rutter et al. 1980).
Klare Zielsetzungen und eine Förderplanung, welche die Teilziele beschreibt, reduzieren auch in stationären Institutionen Disziplinarprobleme! Dies bedingt allerdings institutionsintern eine auf Förderung bedachte Kultur: eine Kultur eines gemeinsamen pädagogischen Prozesses. Wer hier davon ausgeht, dass die einweisenden Behörden, die Eltern oder Pädagog:innen die Förderpläne erstellen – und der Jugendliche diese dann befolgen soll – bewegt sich in der pädagogischen Kultur des 19. oder 20. Jahrhunderts. Bei normal entwickelten, normal angepassten und normal leistungskonformen Schüler:innen ist ein solches Vorgehen heute durchaus noch möglich: sie sind es gewohnt und akzeptieren es, dass vertrauensvolle Erwachsene über sie bestimmen, sie leiten, zu einem Förderungs-Objekt machen. Sie akzeptieren es, weil sie damit positive Erfahrungen verbinden, einen Gewinn daraus ziehen. Verhaltensauffällige oder gar dissozialisierte Jugendliche werden solche externalisierte Fördermassnahmen in absoluter Mehrheit boykottieren: die Erfahrung mit Erwachsenen, die über sie bestimmen, ist negativ belegt, von Misstrauen geprägt. Folglich gilt: die Zielsetzungen und Förderplanungen müssen deshalb die Jugendlichen selbst formulieren und festlegen. In der Auseinandersetzung mit den Behörden, Eltern, den Pädagog:innen erfolgt dann die Konsensbildungen, die in den meisten Fällen gut gelingt. Bei diesem Vorgehen geht es nicht um eine Einengung des pädagogischen Freiraumes, sondern um einen gemeinsam erarbeiteten Handlungsrahmen. Die Jugendlichen erleben sich dabei nicht als Objekt, über das bestimmt wird, sondern als handelndes Subjekt – und das ist der wesentliche Unterschied! Hüther wirbt für dieses Vorgehen in der gesamten Erziehung: «Das Schlimmste, das man machen kann, ist, das Kind zum Objekt einer Fördermassnahme zu machen. Wenn ich versuche, dem Kind etwas beizubringen, dann ist das von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mit jeglichem Versuch, dem Kind von außen etwas aufzuzwingen, geht die innere Lust am Lernen, Gestalten und Entdecken verloren und wird im Keim erstickt. Das passiert vielen Eltern, ohne dass sie das wollen… Kinder sind keine Objekte, sie haben es verdient, dass wir ihnen die Schönheit der Welt zeigen und dass sie sich mit der Schönheit verbunden fühlen. Nur dann können sie sich später um die Welt kümmern. Es ist die subjektive Bedeutsamkeit, die das Kind dazu bringt, sich weiterzuentwickeln. Andernfalls kommen Menschen heraus, die ihre Ziele nur auf Kosten der anderen durchsetzen, weil sie nie erfahren haben, dass sie um ihrer selbst willen geliebt werden.» (Hüther 2016b)