11.4 Diskussion und Praxisbezug

Milieutherapie: Rekonstruktion eines idealen Erziehungsprozesses: Die klassischen Institutionen für Nacherziehung haben mehrere Probleme zu bewältigen. Zwei Hauptprobleme sind ihre Grösse und die Monokultur. Wie sollen Pädagog:innen innerhalb einer Institution, in der zwischen 24 und 60 dissozialisierte, verhaltensauffällige Jugendliche zusammen leben, darunter meist einige (Hoch-) Risikojugendliche, eine Kultur und Atmosphäre des Miteinanders und eine Achtung vor den individuellen Bedürfnisse der Mitmenschen entwickeln? Die gleichgelagerten Beziehungs- und Verhaltensdefizite der Jugendlichen begünstigen und bewirken dauernd kleinere und grössere Eskalationen. Ihr gruppentypisches Kultur-Verhalten in Mimik, Gestik, Körperhaltung, mit Kahlrasur, dem Sprachslang in einer etwas schwer artikulierten Sprache, das gegenseitige Imponiergehabe mit «Ich bin krasser, brutaler als du» – was klare Negatividentifikationen mit beinhaltet – ist und bleibt in diesen Institutionen Teil des Tagesgeschehens und der internen Kultur der Jugendlichen (vgl. Kap. 4.5).

In Deutschlands Jugendgefängnissen gaben im Jahr 2012 bei einer anonymen Befragung über Fragebogen 49 Prozent aller Befragten an, innerhalb der letzten vier Wochen im Gefängnis Opfer physischer Gewalt geworden zu sein (vgl. Ein Knast ist keine Mädchenpension. Der Tagesspiegel, 16.08.2012[1]). Das dürfte in der Schweiz nicht anders sein, wie Florian, mehrfacher Gewalttäter, in einem Bericht aus dem ehemaligen Jugendheim Prêles bestätigt: «Das ist für mich normal. Weil jeder hier kommt von der Strasse, von seinem Umfeld, von seinen Leuten und meint, hier sei es das gleiche. Hier hat es genau gleiche Leute wie er und jeder markiert, fast wie Pitbulls. Und nachher gibt es Auseinandersetzungen untereinander, häufig» (SRF. 10vor10, 11.11.2009[2]).

Wenn junge Gewalttäter aufeinandertreffen, sind Gewalt und Schlägereien programmiert. Wenn nur Drogenabhängige zusammen sind, sind Drogen das Hauptthema. Wenn nur Depressive in einer Gruppe leben, wird brütend geschwiegen. Es ist eine offene Frage, wie in diesen Institutionen eine gesundende, anregende Kultur etabliert werden kann und eine Milieutherapie als einigermassen ‹idealer› Erziehungsprozess stattfindet, die diesen Namen verdient.

Erziehungsziele und Förderplanung: Mit Vorteil werden die Aufenthaltsziele mit dem Jugendlichen, den Eltern und einweisenden Behörden schon vor dem Eintritt vorbesprochen und beim Eintrittsgespräch festgelegt – als gemeinsame Zielfindung von einweisender Behörde, Eltern, Jugendlichem und der Institution. In der Regel sind zwei bis drei Hauptziele für einen stationären Aufenthalt sinnvoll. Mehr als vier Hauptziele wären unrealistisch, ausser diese Pädagog:innen fühlen sich in der Lage auch Wunder zu vollbringen. Die erste Überprüfung und allenfalls Anpassung der Zielsetzungen erfolgen an der ersten Standortbestimmung, spätestens aber 3 Monate nach Eintritt.

Erziehungsziele sind grosse Anker, die zuerst geworfen werden und auf die mittelfristige Zukunft von minimal einem bis etwa vier Jahren weisen. Erziehungsziele können beispielsweise sein: einen regulären Schulabschluss erreichen, eine Berufsabklärung mit Praxiseinsätzen durchführen, eine Lehre absolvieren, den Drogenkonsum massiv reduzieren, ein deliktfreies Leben führen, usw. Der Förderplan und die Wochengespräche sind kleine Anker, welche in die unmittelbare Zukunft geworfen werden. Zielsetzungen des Förderplans sind beispielsweise:

  • während 3 Monaten keine positive Urinprobe,
  • steitfreie Wochenenden bei der Mutter verbringen,
  • im neuen Quartal den Unterricht mehr als 80% besuchen.

In der Regel erstellen die Bezugsperson und der Jugendliche zusammen den individuellen Förderplan, der die Zielsetzungen für die Dauer der nächsten 3 bis 6 Monate enthält. Bei Bedarf werden bestendende Ziele abgeändert oder andere Ziele vereinbart. Wichtig ist: Gibt es Abweichungen von den vereinbarten Zielen, muss der Jugendliche mit seinem Verhalten konfrontiert werden.

Klar vereinbarte Ziele sind in der Nacherziehung äusserst wichtig und bieten im Alltag oft eine Orientierungshilfe. Wenn der Jugendliche nicht mehr weiter weiss, eine Krise baut oder sich neu verliebt oder sonst aus einem Grund alles über den Haufen werfen will, können die zusammen vereinbarten Ziele wieder die Richtung aufzeigen und an den Weg erinnern. Auf jeden Fall verschaffen sie im Alltag allen Beteiligten Sicherheit und Klarheit. Verhaltensauffällige Jugendliche sind eh entwurzelt, verunsichert und ziellos. Christian Morgenstern hat sein Gedicht ‹Wer vom Ziel nicht weiss› nicht im Hinblick auf Erziehungsziele und Förderplanung geschrieben, aber es passt zum Thema:

Wer vom Ziel nicht weiss,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben;
kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zerstückt. (Morgenstern, 1914)

Bei den heute dermassen verunsicherten Jugendlichen könnte man den Anfang auch umkehren  – und er wäre für unsere Kultur noch treffender:
Wer vom Weg nichts weiss,
kann das Ziel nicht haben.

Viele Jugendliche erkennen in ihrem Leben seit einigen Jahren weder den Weg noch ein Ziel – und haben ebenso den Sinn für das Ganze und die Teile des Lebens verloren. Oder gar nie kennengelernt. Das verlangt neue noch tiefgreifendere Basisarbeit.

Grossbetriebe versus Individualisierung: Die Situation der stationären Institutionen zeigt, dass Goffmans Erkenntnisse sich nicht durchgesetzt haben. Nach wie vor wird am Konzept der Grossinstitutionen festgehalten, das aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts stammt. Die 34 Jugendstrafanstalten in Deutschland zählen durchschnittlich zwischen 24 und 60 Plätzen. In der Schweiz geschieht der Ausbau von zusätzlichen Plätzen und Abteilungen weiterhin in bestehenden Institutionen, die in der Grösse vergleichbar sind mit Deutschland. Dabei haben empirische Untersuchungen ergeben, dass Zusammenhänge zwischen der Grösse eines Jugendgefängnisses und der Rückfallquote bestehen: Kleinere Institutionen mit Ich-stärkenden Konzepten weisen eine tiefere Rückfallquote aus als grössere Gefängnisse (vgl. Lösel/Bender 1997; Tanner 1992; Tanner 1981).

Das Wissen wäre vorhanden – es muss nur umgesetzt werden! Die Gesellschaft wird in den nächsten Jahrzehnten Abschied nehmen müssen von den Strukturen der Grossinstitutionen. Die Individualisierung des Menschen hat sich im vergangenen Jahrhundert stark entwickelt – und diese Entwicklung mit all ihren Vor- und Nachteilen geht weiter. Diese Individualisierung ist mit ein Grund, weshalb Jugendliche heute in ihren Persönlichkeitsstrukturen stärker verunsichert sind – respektive dies Unsicherheit hinter stärkerer Coolness und Schein verbergen. Deshalb müssen Pädagog:innen mehr klare Strukturen vorgeben und Grenzen setzen, im Sinn von mehr Halt geben, nahe an den Jugendlichen sein und ihnen als Hilfs-Ich Stütze sein. Um diese Aufgaben erfolgreicher als bisher zu lösen, werden in der Nacherziehung vermehrt kleine Institutionen und Kleingruppen notwendig sein, die mit ihren familienähnlichen Strukturen Konstanz, Austausch und Nähe fördern. Seit etwa 30 Jahren gibt es vermehrt Jugendliche in Grossinstitutionen, die alles unternehmen, damit sie wieder raus kommen. Sie widersetzen sich, ohne Rücksicht auf irgendwelche Konsequenzen, den vorhandenen Regeln in Grossstrukturen. Das sind Vorläufer einer zukünftigen Entwicklung.

Nach wie vor werden unter der Flagge Spezialisierung sogenannte Kompetenzzentren gegründet für Monokulturen. Dabei ist klar: wo nur psychisch Kranke leben, herrscht keine Normalität. Wo nur Demente miteinander leben, haben sie sich immer weniger zu erzählen. Wo nur dissozialisierte Jugendlich miteinander leben, lässt sich schwerlich soziales Verhalten entwickeln. Menschen in Monokulturen tendieren an sich zum Reaktivieren und Reinszenieren ihrer Vergangenheit. Das mag bei Dementen nicht tragisch sein, sondern sogar erwünscht. Bei dissozialisierten Jugendlichen behindern die Reinszenierungen hingegen das dringend notwendige Lernen neuer Verhaltensweisen, den Focus in eine anders geartete Zukunft.

Sozialarbeitende der Jugendanwaltschaften bemerken seit längerem, dass Strukturen der Grossinstitutionen sich nicht förderlich auf die Entwicklung vieler Jugendlicher auswirken. So kritisiert die Sozialarbeiterin Regula Sonderegger von der Juga St. Gallen an der Fachtagung 2015 im Platanenhof die Institutionen: In den Heimen herrschende gegenseitige negative Beeinflussung der Jugendlichen, die eine weitere Delinquenz begünstige, die häufigen Abbrüche und geringe Konstanz bei den Bezugspersonen und dass diese Konzepte nicht auf den Bedarf der einzelnen Jugendlichen angepasst sind. Sie wünscht von den Jugendheimen, dass sie sich mehr am individuellen Bedarf und an den individuellen Zielsetzungen der Jugendlichen orientieren, ihre Angebote flexibilisieren, sich um Konstanz bei den Bezugspersonen bemühen: «Tragfähige Beziehungen, tragfähige Institutionen, personelle Kontinuität, zeitliche Kontinuität» (Sonderegger 2015).

Die heutigen klassischen Heime mit ihren spezialisiert- differenzierten Monokulturen sind Auslaufmodelle. Sie erfüllen schon heute die Anforderungen der Gesellschaft nicht mehr. Bis die PolitikerInnen allerdings diese Kurve mitkriegen, die Strukturen der Institution und die Geldflüsse ändern, werden wohl noch viele Jahre vergehen.

Wie wir in unserer Institution ‹Fattoria Gerbione› die Milieutherapie, die Erziehungsziele und die Förderplanung leben und nach vielen Übungsjahren im Haus und im internen Schulunterricht eine höchstmögliche Individualisierung erreicht haben, ist im Kap. 13 beschrieben.


[1]     http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/mobbing-vergewaltigung-pruegel-niedersachsens-justizminister-ein-knast-ist-keine-maedchenpension/7009056.html

[2]     http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2009/11/11/Schweiz/Mit-Straftaten-aus-dem-Jugendknast-kommen