13.1 Das Menschenbild – als Bild des Menschen

Ich gehe in meiner pädagogischen Arbeit – neben vielen anderen Modellen – auch von einem so genannt ‹anthroposophischen Menschenbild› aus. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei inhaltlich nicht um ‹esoterische Erfindungen› oder irgendwelche schräg-okkulte Ideen von Rudolf Steiner handelt, sondern dass dieses Wissen in verschiedensten Menschheitskulturen immer schon vorhanden war und sich über mehr als 4’500 Jahre zurückverfolgen lässt.

Steiners Verdienst ist, dieses alte Wissen für die Kultur des 20. Jahrhunderts neu aufgearbeitet und für die damalige Zeit zwischen 1890 und 1924 verständlichere Begriffe eingeführt zu haben. Aber es sind gerade auch diese von ihm verwendeten Begriffe wie Ätherleib oder Astralleib, die vielen Menschen heute, rund 100 Jahre später, unverständlich, antiquiert oder esoterisch erscheinen. Ein kleiner Trost mag dabei sein: die Ausführungen von Paracelsus zum Archäus oder Syderischen Leib sind von seinem Gemisch der lateinischen und der frühneuhochdeutschen Sprache noch um Vieles komplizierter verstehbar und fragmenthafter (vgl. Pörksen, 2008).

Ob bei Plato oder Sokrates, später bei Plotin oder Thomas von Aquin respektive in neuerer Zeit bei Paracelsus oder Steiner: sie alle versuchen hochkomplexe Inhalte und Entwicklungen eines identischen Menschenbildes zu beschrieben, die mit Worten unserer Sprache nur schwerlich beschreibbar sind. Das Menschenbild dahinter ist faszinierend und ist meiner Kenntnis nach das älteste und zugleich modernste, umfassendste, systemisch-vernetzteste. Diese Ganzheitlichkeit wird auch als «bio-psycho-sozio-spirituelle Sichtweise des Menschen» bezeichnet (Niemeijer 2011, 96).

In unserer praktischen Arbeit mit verhaltensauffälligen Jugendlichen hat sich dieses ganzheitliche Menschenbild als sehr hilfreich erwiesen. Es hilft, die hinter dem äusserlich sichtbaren Alltagsverhalten verborgenen Ursachen und Motive überhaupt verstehen und dann auf den entsprechenden Persönlichkeitsebenen bewusst eingreifen und Veränderungen bewirken zu können.

Es fällt auf, dass weder in den klassischen Fachbüchern über EWS noch in den Vorlesungen an den Universitäten oder Fachhochschulen – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – das geisteswissenschaftliche Menschenbild und die daraus folgernden pädagogischen Grundlagen von Rudolf Steiner behandelt werden. Hauptgründe dieser Ausgrenzung ist sicherlich einerseits Steiners ausgeprägte geisteswissenschaftliche und spirituelle Haltung, die in der heutigen empirisch ausgerichteten EWS auf Unverständnis und Ablehnung stösst. Andererseits dürfte wohl auch die Angst beteiligt sein, man könnte selbst als anthroposophisch oder esoterisch, sicherlich aber als empirisch-unwissenschaftlich gelten. Da ich keine wissenschaftlichen Lorbeeren zu verlieren habe und Steiners Menschenkunde gerade auch in der Nacherziehung als sehr hilfreich erfahre, will ich einige Grundzüge dieser Menschenkunde darstellen. Dies im Wissen, dass die Mehrheit der Fachkolleg:innen im besten Fall mitleidig den Kopf schüttelt ab so viel Unwissenschaftlichkeit.

Rudolf Steiner (1861-1925) war ein Geisteswissenschaftler, Esoteriker und Philosoph. Auf den Erkenntnissen der Theosophie[1], des Rosenkreuzertums[2], der Gnosis[3] und der idealistischen Philosophie begründete er die Anthroposophie, eine spirituelle Weltanschauung. Die Anthroposophie bildete die Grundlage für Steiners vielfältige Entwicklungen in verschiedenen Lebensbereichen wie Pädagogik und Heilpädagogik (Waldorfschule/Rudolf-Steiner-Schule, Camphill-Gemeinschaften), Medizin (anthroposophische Medizin), Landwirtschaft (biologisch-dynamische Landwirtschaft, Demeter), Soziales (Dreigliederung des sozialen Organismus), Kunst (Architektur, Eurythmie, Sprachgestaltung), Religion (Christengemeinschaft) und Finanzwesen (Gemeinschaftsbank, Gemeinschaft für Leihen und Schenken).

In den 1924 veröffentlichten Leitsätzen formuliert Steiner in Kurzform, was er unter Anthroposophie versteht: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte» (Steiner 1998, 14). Das heisst: hinter der sichtbaren materiellen Welt liegt eine unsichtbar wirksame Geistigkeit, die es zu entdecken und zu erforschen gilt. Die Anthroposophie ist nach Steiner keine Glaubenslehre, sondern die Anregung an den Menschen, einen Weg des Erkennens zu beschreiten, der damit ein Weg der Selbstentwicklung ist. Es soll ein Forschungsweg sein, der die eigenen geistigen Kräfte in jedem Menschen aktiviert.

In seinen pädagogischen Ausführungen sprach Steiner nicht von einer ‹anthroposophischen Pädagogik›. Er sprach von einer «geisteswissenschaftlichen Pädagogik» oder einem «geisteswissenschaftlichen Verständnis des Kindes». Den Begriff ‹anthroposophische Pädagogik› hat sich später als Zuschreibung entwickelt.

Aus anthroposophischer Sicht geht es gesamtgesellschaftlich und in der Erziehung des Individuums um die gleichen Inhalte: die Freiheit des Menschen. Es geht um die schrittweise Entfaltung des Menschen zur freien Selbstbestimmung. Dieses Ziel und die dazu notwendige pädagogische Haltung implizieren, dass diese Pädagogik eigentlich keine dogmatische Anwendungspädagogik sein kann, sondern erst im individuellen Vollzug und durch die aktuelle Begegnung entsteht. In seinem grundlegenden Aufsatz ‹Freie Schule und Dreigliederung› schreibt Steiner: «Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichtes sein. Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen. Dann wird in dieser Ordnung immer das leben, was die in sie eintretenden Vollmenschen aus ihr machen; nicht aber wird aus der heranwachsenden Generation das gemacht werden, was die bestehende soziale Organisation aus ihr machen will.» (Steiner 1975, 8) Wie keine andere Pädagogik setzt Steiner die Individualität des Menschen und seine je eigene individuelle Entwicklung ins Zentrum, die Entfaltung seiner geistigen Kräfte mit dem Ziel der freien Selbstbestimmung. Schulwissen ist dabei sekundär, ebenso sollen die jungen Menschen ihre Kräfte und ihre Ordnung in die bestehende Gesellschaft einbringen und sich nicht einfach an bestehende Normen und Werte anpassen müssen. Zudem geschieht alle Pädagogik nur in einer direkten Begegnung und damit in der Beziehung von Mensch zu Mensch. Eine solche individualisierte Pädagogik stellt hohe Anforderungen an die Pädagog:innen. Steiner beschreibt Pädagogik wohl auch deshalb als Erziehungskunst[4] (vgl. Kiersch 2007, 18ff.)

Was sind die Bedingungen, damit sich dieses individuell Einmalige, das sich in jedem Lebensalter anders zeigt und das der Mensch aus einer vorgeburtlichen Welt mitbringt, angeregt und entwickelt werden kann? Steiner hat verschiedene menschenkundliche Differenzierungsgrade beschrieben: der Mensch als 3-gliederige, 4-gliederige, 7-gliederige und 9-gliederige Wesenheit. Zum Verständnis einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik reichen die beiden einfacheren Modelle.


[1]     Theosophie (griechisch «theos» = Gott; sophia = Weisheit) bedeutet «Göttliche Weisheit»  oder «Weisheit der Götter». Die Theosophie als esoterische Weltanschauung wurde von der Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) begründet.

[2]     Rosenkreuzer: geheime, mystische Gesellschaft oder Orden mit Lehrinhalten aus alchemistischen, hermetischen und kabbalistischen Elementen. Entsprechend der Gründungslegende ist Christian Rosencreutz (Frater C. R.) Begründer des Ordens der Rosenkreuzer.

[3]     Gnosis (griechisch) = Wissen oder Erkenntnis. Verschiedene religiöse Lehren und Gruppierungen versuchten seit der hellenistischen, jüdischen und später christlichen Kultur, das jeweils Göttliche zu erkennen und zu verstehen.

[4]     Steiner hat zwar den heute bekannten Begriff Erziehungskunst geprägt. Allerdings bezeichnete schon Immanuel Kant Erziehung als Kunst (vgl. Immanuel Kant (2000): Über Pädagogik. In: W. Weischedel (Hrsg.): Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2. Bd. 1. Frankfurt am Main, S. 702.). Erstmals in der Literatur findet sich der Begriff Erziehungskunst wohl bei Friedrich Daniel Schleiermacher Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesungen von 1826). In: M. Winkler & J. Brachmann (Hrsg.) Texte zu Pädagogik, Bd. II, Frankfurt am Main, S. 11.