Die einfachste Betrachtung versteht den Menschen als dreigliedrige Wesenheit, die aus Leib, Seele und Geist besteht. Dieser Ansatz der 3-Gliederigkeit (Trichotomie[1]) stammt ursprünglich aus der griechischen Kultur und wurde von Platon ausführlich beschrieben. Die 3-Gliederigkeit des Menschen war in der vorchristlichen und auch noch christlichen Kultur Allgemeinwissen. Für die Menschen in allen alten Kulturen galt es als selbstverständlich, ein Abkömmling und Teil der geistigen Welt zu sein.
Noch für Plotin (204-270 n. Chr.), dem Begründer und bekanntesten Vertreter des Neuplatonismus, war die Einheit von Körper, Seele und Geist eine Selbstverständlichkeit. Er beschrieb die Seele als eine Art Vermittler zwischen der Einheit des Geistes und der Vielfalt der Körperwelt: «So ist auch die Seele, die zugleich absteigt in die niedrigen Dinge, welche sie belebt, und aufsteigt in die höheren, welche sie anschaut.» (zit. nach Eusterschulte 1997, 259)
Die römisch-katholische Kirche hat dann im Jahr 869/70, im Vierten Konzil von Konstantinopel, die Trichotomie als Häresie (= Ketzerei), erklärt – und damit den Geist als eine selbständige und unsterbliche Substanz neben der Seele eliminiert. Seitdem durfte nur noch gelehrt werden, dass der Mensch aus Leib und Seele bestehe. Der Seele wurden höchstens noch einige geistige Fähigkeiten, etwa sein intellektuelles Denkvermögen, zugestanden. Offiziell lautete die Begründung der Kirche, sie habe mit diesem Entscheid die unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch deutlich machen und den Menschen vor einem gefährlichen Hochmut bewahren wollen. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass Menschen, die sich nicht als selbständige geistige Wesen erkennen, durch eine Kirche, die sich als geistiges Oberhaupt definiert, einfacher zu führen und zu beeinflussen sind. Zugleich rückte die Kirche mit diesem Entscheid den Menschen näher an das Tier heran. Historisch handelt es sich hier um die erste Stufe einer nachfolgend 1’000-jährigen Entwicklung, welche mit der Abstammung des Menschen vom Tier ihren Abschluss fand – der Kerngedanke jeder modernen Evolutionslehre.
Jede Entwicklung hat ihren Gewinn und ihren Preis. Je mehr sich der Mensch auf sein leibliches Dasein in der physisch-sinnlichen Welt hin orientierte, desto stärker ging sein Wissen um die menschliche Seele und Geistigkeit verloren. Heute richtet sich das menschliche Bewusstsein und Streben recht einseitig auf die Physis und die Materie. Unsere Lebenseinstellung ist geprägt durch den Materialismus, dem Streben nach Gewinn und Besitz, die mit Status und Macht einhergehen. Die Aufmerksamkeit des Einzelmenschen fokussiert sich auf seinen Leib: seine Gesundheit, seine Krankheiten, sein Aussehen, seine Wirkung, seine Pflege. Durch diese einseitige Konzentration auf alles Physisch-Sinnliche erfährt das Selbst-Erleben und Selbst-Bewusstsein des irdischen Lebens eine mächtige Anregung. Zugleich verschwindet aber die Möglichkeit zu einer tiefergehenden Erkenntnis des ganzen menschlichen Wesens.
Zur Erinnerung und vielleicht auch neuen Anregung für einen ganzheitlicheren Zugang zum Menschen mag eine fragmentarische Darstellung der 3-Gliederigkeit dienen.
Leib
Jeder Mensch hat einen ihm je eigenen physischen Leib; damit ist er Teil der materiellen Welt. Der Leib ist Träger der Sinnesorgane und des Gehirns. Mit deren Hilfe kann der Mensch die irdische Welt durch Sinneswahrnehmungen erfassen, sich denkend vorstellen und verstehen. Es ist der Leib und seine Organe, die den Menschen befähigen, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, sich bewusst der sinnlichen Welt gegenüberzustellen und auch sich von ihr zu unterscheiden. Dieses Unterscheiden ist Voraussetzung für ein Selbstbewusstsein. Allerdings könnte der Leib als solcher gar kein Bewusstsein entwickeln oder Gefühle äussern. Für sich alleine wäre er von bewusstlosen Lebensprozessen bestimmt, vergleichbar mit den Pflanzen oder dem menschlichen Schlaf- oder Komazustand.
Seele
Damit Gefühle und Bewusstsein entstehen können als eigene Innenwelt des Menschen, braucht es die Seele. Sie benötigt den Leib als Werkzeug, um mit seiner Hilfe die irdische Welt erkennen zu können. Erst durch die Sinnesempfindungen der Seele fühlt sich der Mensch bewusst, freudig, ängstlich, liebend oder hassend mit der Erde und den Menschen verbunden. Die von aussen kommenden Sinneswahrnehmungen des Körpers werden im Inneren zu Sinnesempfindungen durch die Arbeit der Seele. Hinzu kommt noch der Wille, der sich immer des Körpers und der Seele bedienen muss. Durch den Willen wirkt der Mensch auf die Aussenwelt zurück und prägt ihr sein inneres Wesen auf. So wie die Seele auf der einen Seite mit dem Körper verbunden ist, ist sie auf der anderen Seite nach dem Geist hin orientiert.
Geist
Der Mensch schweift nicht richtungs- und ziellos von einem Sinneseindruck zum anderen. Er handelt auch nicht unter dem Eindruck jedes beliebigen Reizes, der von aussen an ihn herankommt oder auf die inneren Vorgänge, die der Leib auf ihn ausübt. Er denkt über seine Wahrnehmungen und seine Handlungen nach und erwirbt sich Erkenntnisse über die Dinge. Der Mensch weiss eigentlich auch, dass er seine Aufgaben nur dann würdig erfüllt, wenn er sich durch richtige Gedanken sowohl im Erkennen wie im Handeln leiten lässt. Das Seelische steht also einer zweifachen Notwendigkeit gegenüber. Von den Gesetzen des Körpers wird das Seelische durch Naturgesetze oder zumindest Naturnotwendigkeiten (wie Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität) bestimmt. Von den geistigen Gesetzen, die das Seelische zuerst zum richtigen Denken und dann zum richtigen Handeln führen, lässt sich das Seelische bestimmen, weil es deren Notwendigkeit frei anerkennt. Den Gesetzen des Leibes ist der Mensch durch die Natur unterworfen; den eigenen geistigen Denkgesetzen unterwirft er sich selbst.
Heute sind in der Wissenschaft Ganzheitliche Ansätze gefragt. Durch eine einseitig auf die Materie beschränkte Sichtweise beschneidet sich der Mensch und die Wissenschaften aber häufig selbst. Erst in den vergangenen Jahrzehnten haben ganzheitlichere Ansätze, vor allem im medizinischen Bereich, wieder vermehrt wissenschaftliche Anerkennung gefunden. So gehen die Psychosomatik, Medizinischen Kybernetik oder Körperpsychotherapie von einer untrennbaren Einheit von Körper, Seele und Geist aus. Diese Sichtweise erfährt durch neue Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften (Giacomo Rizzolatti, Spiegelneuronen), Hirnforschung (Antonio Damasio, Gerhard Roth) und Neuropsychologie (Gerald Hüther und Joachim Bauer) eine gewisse Verbreitung im öffentlichen Bewusstsein.
13.2.1 Pädagogische Ansatzpunkte des trialen Ansatzes
Aus der dreigliedrigen Wesenheit und dem Zusammenwirken von Leib, Seele und Geist ergeben sich verschiedene pädagogische Ansätze. In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und Therapie wird der Zugang über Leib – Seele – Geist häufig als trialer Ansatz (tri = drei, vgl. Triangel) bezeichnet und ist in seiner Dreiheit in Abb. 29 dargestellt.
Es ist das Verdienst von Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) diesen Ansatz wieder in die neuzeitliche Pädagogik eingebracht zu haben. Pestalozzis Forderung nach einer ganzheitlichen Entwicklung des Kindes (Kopf, Herz und Hand) wurde und wird zwar überall zitiert – aber nicht realisiert. In der neueren Zeit hat er wieder etwas Auftrieb erhalten durch die konstruktivistische Pädagogik, die in den Lernprozessen ebenfalls von einer eigenständigen, aktiven Rolle des Individuums ausgeht auf der individuellen und der gemeinschaftlichen Ebene. Darüber hinaus eröffnen die konstruktivistischen Fragen nach der Verbundenheit des Individuums mit dem Kosmos, nach seiner Einbindung in ein evolutionäres Ganzes neue ganzheitliche Sichtweisen von Wirklichkeit (vgl. von Foerster 2011, 2001, 1992).
Leib: In der Pädagogik und vielmehr noch in der Nacherziehung geht es bei vielen Jugendlichen darum, ihnen allmählich einen neuen Zugang zum eigenen Körper zu verschaffen. Verhaltensauffällige Jugendliche haben oftmals ein gestörtes Körperbewusstsein. Für einige ist der Körper ihr Hauptkapital, der trainiert, rasiert, gesalbt, geschminkt und vergöttert wird. Andere lehnen ihn ab, malträtieren ihn oder schneiden an ihm herum. Wieder andere haben keine Ahnung, dass zwischen ihrer einseitigen Döner-Ernährung oder ihrem Süssgetränke-Konsum und ihrem Gewicht ein Zusammenhang besteht. Wieder andere kümmert dies alles nicht, Hauptsache sie können dem Körper ihre Drogen zuführen.
Abb. 29: Der triale Ansatz in Pädagogik und Therapie

Auf der physischen Ebene benötigt der Mensch in der Regel körperliche Aktivität, um sich in seinem Körper zu spüren und sich dadurch des eigenen Körpers bewusst zu werden. Für Jugendliche ist sportliche Leistung – und erweitert gilt dies für jegliche Art von körperlicher Aktivität – das ideale Mittel um sich selbst im eigenen Körper wahrzunehmen. Oft müssen wir jedoch Umwege gehen und mit den Jugendlichen Zugänge suchen, beispielsweise über Gymnastik, Körperübungen, Tanz, Fitness, Massagen, Physiotherapie oder Craniosacrale Therapie, damit sie ein gewisses Körpergefühl und -bewusstsein ausbilden können. Wir versuchen zudem diese Entwicklung durch gesunde biologische Ernährung oder durch körperbetonte lebenspraktische Tätigkeiten zu unterstützen. Das Wollen und Handeln ist das Grundprinzip des Körpers und daraus folgernd geht es um die Entwicklung und allmähliche Erweiterung der Willensschulung und eigenen Handlungsfähigkeit. Sowohl die Handlungen als auch die Nichthandlungen der Jugendlichen in ihrem Alltag liefern den Pädagog:innen vielfältigste Ansatzpunkte.
Die seelische Ebene umfasst die Sinneswahrnehmung und die seelische Verarbeitung. Am Anfang haben wir eine physische Sinneswahrnehmung der Aussenwelt. Diese wird sofort einem innerseelischen Prozess der Bewertung und Deutung unterzogen. Je nach Art der bisherigen Lebenserfahrungen des Individuums erfolgt die Interpretation der Sinneswahrnehmung. Und als Ergebnis werden die entsprechenden Gefühle aktiviert, die wiederum, je nach Situation und Sozialisation, direkt ausgedrückt oder auch unterdrückt werden können. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche leiden in der Regel an anerzogenen Beziehungsstörungen, die sich im seelischen Bereich ausdrücken. Ihre Interpretation einer Sinneswahrnehmung ist oftmals sehr individualisiert, von aussen betrachtet ‹quer› bis unverständlich und verunmöglicht ihnen einen normalen Lebensvollzug. Aber dies ist als Ergebnis ihres bisherigen Lebens zu betrachten und ist von uns zu akzeptieren. Schlussendlich sind es diese Phänomene, die uns dann im Gespräch einen pädagogischen Zugang zum Jugendlichen ermöglichen. Neben Gesprächen sind künstlerische Übungen und kreatives Sich-Ausdrücken sehr hilfreich. Ob beim Malen, Zeichnen, Theater spielen, Plastizieren oder Bildhauen – überall können sich die Jugendlichen in neuen Situationen und Rollen erleben und üben.
Die geistige Ebene umfasst das Denken mit den geistig-intellektuellen Prozessen Erkennen, Verstehen, Wissen und Erinnern. Was die Jugendlichen auf ihrer seelischen Ebene als Gefühle und Empfindungen äussern, bedarf vielfach einer geistigen Überprüfung. Es ist unsere pädagogische Aufgabe, mit den Jugendlichen ihre Wahrnehmung und dann ihre Art der Bewertung, Deutung und Interpretation und die daraus erfolgenden seelischen Äusserungen zu besprechen. Wir müssen immer wieder nachfragen, überprüfen, diskutieren, manchmal auch direkt eingreifen und ihnen andere Deutungen und Bedeutungen anbieten.
Es gibt Jugendliche, die gehen von der Wahrnehmung und dem Fühlen direkt ins Wollen. Sie sehen die Werbung für das neue I-Phone oder im H&M neue Kleider. Ihr ganzes Fühlen fokussiert sich sofort darauf, diesen Gegenstand zu kaufen und sie setzen dafür ihre ganzen Willenskräfte ein. Andere Jugendliche gehen von der Wahrnehmung und dem Fühlen direkt in die Handlung. Wenn gewaltaffine Jugendliche sich bedroht fühlen, schlagen sie gleich zu. Solche Jugendliche lassen die geistig-intellektuellen Prozesse des Denkens vollständig aus, in dem sie ihre Gefühle nicht überprüfen oder überhaupt über ihre Gefühle nachdenken. Deshalb benötigen wir in der Pädagogik Methoden und Modelle, um den Jugendlichen ihre manchmal sehr eigenartig entwickelten Funktionsweisen aufzeigen und ihnen ganzheitlichere Möglichkeiten anzubieten.
Ein Modell, das auf dem trialen Ansatz basiert und das sich in der Nacherziehung bewährt hat, ist bekannt als ‹Bewusstheitsrad›.
13.2.2 Modell: Das Bewusstheitsrad
Das Bewusstheitsrad ist ein Feedback-Modell, das im Coaching verwendet wird, aber auch mit Jugendlichen gut angewendet werden kann. Die fünf Basisprozesse (Abb. 30) sind einfach, verständlich und gut nachvollziehbar.
Abb. 30: Das Bewusstheitsrad: Basisprozesse

Nach Charlier (2001); Gerards & Narbeshuber (2013)
Das Modell zeigt, wie Menschen Informationen verarbeiten, macht Deutungen und Handlungen verständlich und ermöglicht den Jugendlichen mehr Klarheit über ihr Selbstbild zu erhalten. Zudem können sie konkret erleben, wie sie Wahrnehmungen mit Interpretationen verwechseln oder dass sie vom Fühlen gleich ins Handeln springen. Mit viel Glück und viel Übung lernen sie mit der Zeit, über sich und ihr Denken, Fühlen und Handeln nachzudenken.
Die fünf seelischen Funktionen des Bewusstheitsrads verlangen von uns unterschiedliche Fähigkeiten, die in Abb. 31 detailliert dargestellt sind.
Abb. 31: Das Bewusstheitsrad: Detaildarstellung

Bei der Wahrnehmung gilt es zwischen Innen- und Aussenwahrnehmung zu unterscheiden. Die erstere umfasst die Wahrnehmung unserer eigenen innerseelischen Wünsche, Bedürfnisse und Interessen. Die Aussenwahrnehmungen sind Sinneswahrnehmungen, die über unsere Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten…) zu uns gelangen. Alle Wahrnehmungen durchlaufen zuerst einen uns häufig unbewussten ersten Filter, der die Wahrnehmungen sofortigen Bewertungen und Interpretationen unterzieht. Aufgrund der Summe unserer bisherigen Lebenserfahrungen werden Wahrnehmungen in sympathische und antipathische geteilt, Gefahren und Möglichkeiten bewertet, Freunde von Feinden unterschieden. Aber auch feinere Wahrnehmungen wie die Stimmtonation oder die Mimik bei einem feinen Runzeln der Stirne des Gegenübers werden assoziativ verknüpft und erfahren eine Einordung.
Je nach bisherigen Lebenserfahrungen kann die gleiche Wahrnehmung ganz verschieden interpretiert werden und ganz unterschiedliche Gefühle auslösen, die von Freude, Aufregung über Ärger, Unsicherheit bis Angst oder Aggression reichen können. Grundsätzlich haben wir die Möglichkeit, diese Gefühle direkt und unzensiert auszudrücken. Unsere Kultur verlangt jedoch die Fähigkeit, die Vorgänge der eigenen Seele denkend wahrzunehmen.
Die Gefühle müssen durch einen zweiten Filter, um ins denkende Bewusstsein zu kommen. Bei diesem Prozess lauern aber zwei Gefahren. Erstens bewertet unsere Kultur das rationale Denken höher als das Fühlen. Denn Gefühle sind oft sehr stark und irritierend oder sie erscheinen als nicht statthaft oder nicht angemessen. Zudem drängen die Gefühle auf Verwirklichung, was mit Ungewissheit und Risiken verbunden ist. Deshalb setzt sich das Denken bei vielen Menschen auf Kosten des Fühlens durch – oder ersetzt gar das Fühlen. Die Psychoanalyse bezeichnet dies als ‹Abwehrmechanismus der Rationalisierung›. In unserer Zivilisation hat sich die Rationalisierung, gerade in den vergangenen Jahrzehnten, zu einer primären Kulturtechnik entwickelt und ist für viele Menschen zu einem Hilfsmittel ihrer Lebensbewältigung geworden. Diese gesellschaftlich hochgehaltene Rationalisierung mag auf den ersten Blick das Leben vereinfachen. Hinter der Fassade sammeln sich jedoch immer die verdrängten und unterdrückten Gefühle und Bedürfnisse, die Lebensenergie abziehen und uns im Lebensvollzug lähmen. Dieser Preis muss uns bewusst sein und verlangt viel Bewusstheit, wenn es im Alltag darum geht, Fühlen und Denken aufeinander abzustimmen – fühlend zu denken und denkend zu fühlen – und nicht im Widerspruch zu unseren Gefühlen zu denken und zu handeln. Zweitens ist es eine Eigenart des Denkens, etwas unflexibel und bequem, auf bestimmte Positionen und Erfahrungen fixiert zu sein Das Denken ist eine anstrengende Sache, die viel Zeit und Energie von uns verlangt. Untergründig wird das Denken immer angetrieben von Emotionen, d.h. unseren emotionalen Bedürfnissen.
Deshalb ist es unabdingbar, das Denken aus den drei Fesseln der Emotionen, der Rationalisierung und der Unflexibilität zu befreien und zu einer ‹angemessenen Sachlichkeit› zu führen. Wenn uns das gelingt, nehmen wir in uns die Gefühle und die Gedanken als etwas ganz Unterschiedliches wahr. Auf die Frage «Was denke ich darüber?» sind dann klare Antworten möglich. Wir können differenziert unterscheiden, welche Wahrnehmungen welchen Einfluss auf unsere Gefühle, Gedanken oder die Willensimpulse nehmen.
Im nächsten Schritt sollen wir unsere gedanklichen Entscheidungen am dritten Filter, dem Wollen überprüfen: «Will ich das wirklich?» oder «Was will ich wirklich?» Die elementarste Schicht des Wollens sind Grundbedürfnisse, die dem Menschen das körperliche, seelische oder geistige Überleben sichern. Im Alltag dürfte unser Wollen eher aus höheren und Ich-näheren Ebenen der Maslowschen Bedürfnispyramide motiviert sein. Diese Wünsche und Interessen des Alltags gilt es zu betrachten – und zu erkennen, welche Bedürfnisse dahinter antreibend wirken. Wenn es uns gelingt, die Ebene des Wollens zu sehen und zu erkennen, welches Bedürfnis in einer bestimmten Situation unser Wollen leitet, haben wir viel an Klarheit gewonnen im Leben. Dazu gehört selbstverständlich auch, die reaktiven oder destruktiven Antriebe des Wollens zu erkennen und in uns anzuerkennen, denn nur so können sie in unser Bewusstsein kommen, in dem das Ich entscheiden kann, ob es diesen Impulsen folgen will oder nicht.
Bevor das Wollen in die reale Handlung kommt, sollen wir den bisherigen Prozess einem vierten Filter unterziehen. Bei diesem Schritt lauert wieder eine Gefahr, die sich bei uns als Kulturtechnik etabliert hat: der Sachzwang. Wir kennen die vermeintlichen Sachzwänge aus dem eigenen Leben, wenn wir etwas nicht verändern wollen, weil es eben aus diesem oder jenem Grund nicht geht. Sachzwänge in ihrer Reinkultur können wir bei Politiker:innen in ihren Argumentationen studieren: Wir müssen dies so machen, damit der Wohlstand gewährleistet, die Arbeitsplätze oder die Energieversorgung gesichert, weiteres Wachstum möglich ist – etc. Viele Menschen bestimmen ihr Leben nicht, sondern lassen es von Sachzwängen bestimmen. In der Politik lässt sich das Volk mit Sachzwängen abspeisen. Das alte Sprichwort «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg» beinhaltete dagegen die innere Haltung: Wenn etwas meinem Wollen widerspricht, dann kann ich das ändern! Der Mensch besitzt die Fähigkeit, vermeintliche Sachzwänge zu ändern, zu mildern, anders zu entscheiden. Das bedeutet aber, nachzudenken, was ich als Individuum wirklich will. Davor scheuen viele Menschen zurück, weil es das Ende ihres bequemen Lebens und ihrer dauernden Ausreden wäre (vgl. Charlier 2001, 15).
In der pädagogischen Arbeit kennen wir die Betreuten, die irgendwelche Sachzwänge ihrer Biografie und andere Menschen dafür verantwortlich machen, dass es ihnen schlecht geht oder dass sie ein bestimmtes Ziel nicht erreichen können. Mit dieser Haltung müssen sie die Verantwortung für ihr Leben und ihr Handeln nicht übernehmen, die Probleme und die Verantwortung werden externalisiert. Für das Individuum führt kein Weg daran vorbei: Jeder Mensch ist für sein Glück und Unglück verantwortlich, weil er daran beteiligt ist – durch sein Handeln oder seine Unterlassungen. Die Grundfrage, die es zu beantworten gilt, lautet: «Will ich das so? Entspricht das meinen Zielen, Absichten und Plänen – in den Idealen und der Realität?» Da steht noch nicht das reale Handeln im Vordergrund, sondern die Vorbereitung der konkreten Handlung im Bewusstsein. Es geht um das gedankliche Durchspielen einer Handlung oder das Abwägen von Handlungsalternativen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit zum ‹antizipierenden Denken› (antizipieren = vorwegnehmen; etwas erkennen, bevor es realisiert ist), das Sigmund Freud «inneres oder experimentelles Probehandeln» (2005) und Konrad Lorenz «Hantieren im Vorstellungsraum» (1983) genannt hat. Beide meinen damit die Fähigkeit des Menschen, verschiedene Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, bevor er sich für die eine oder andere reale Handlung entscheidet.
Ob das Wollen am Schluss in eine reale Handlung kommt – und wenn ja in diese oder eine ganz andere Handlung – entscheiden Persönlichkeitsfaktoren wie Selbstsicherheit, Willens-, Durchsetzungsfähigkeit und die handlungsleitenden persönlichen Normen und Werte.
Das Bewusstheitsrad kann uns aufzeigen, wie aus einer Wahrnehmung Deutungen, Gefühle, Gedanken, Willensimpulse und am Schluss für andere sichtbare reale Handlungen entstehen können. Die wohl wichtigste Schaltstelle im Alltag der Jugendlichen liegt bei ‹Deutung und Interpretation› (erster Filter). Dieser beeinflusst die nachfolgenden Prozesse am wesentlichsten. Diesen Umstand beschrieb Watzlawick im Buch ‹Menschliche Kommunikation›: Die Menschen kranken nicht an der Welt, sondern an ihrer Interpretation der Welt (Watzlawick, 2011).
Vor diesem Hintergrund ist es einsichtig, dass Menschen, je nach Einschätzung der persönlich-subjektiven ‹Realität›, unterschiedlich auf Wahrnehmungen reagieren. So kann eine bestimmte Wahrnehmung oder Situation für den einen neutral und völlig easy sein, für den andern bedeutet sie Stress und ein dritter hält dies bereits für einen Konflikt und ein vierter macht daraus eine Krise. Das zeigt in aller Deutlichkeit, dass alles zwischenmenschliche Geschehen co-kreativ ist. Es gibt keine «objektiven Stressauslöser, keine objektiven Konflikte und keine objektiven Krisen. Alles ist eine Co-Kreation des Beobachters und seiner Umwelt.» (Lenz et al. 2007, 101) Im Umgang mit uns selbst und in unserer Rolle als Pädagog:in geht es darum, die eigene Bewusstheit als auch die der Jugendlichen so zu steigern, dass es uns Menschen möglich wird,
- automatisch sich aufdrängende Urteile und Interpretationen aufzuhalten und sachlich zu schildern, was ich gesehen oder gehört habe;
- zum sofortigen Ausagieren neigende Emotionen zu bremsen und die eigenen Gefühle ehrlich anzuschauen und zu beschreiben;
- zu spüren und sich bewusst zu machen, welche unerfüllten Bedürfnisse das eigene Gefühlsleben in Erregung gebracht haben;
- all das, was ich von den Mitmenschen benötige, damit sich meine Bedürfnisse erfüllen, möglichst präzise und ohne Zwang als Bitte zu äussern (Ballreich, 2007; Rosenberg, 2001).
So kann sich das Ich von starken negativen oder auch positiven Gefühlen befreien und seelisch-psychische Verstrickungen auflösen. Durch die Tätigkeit der genauen Wahrnehmung, der differenzierten Betrachtung von Fühlen, Denken und Wollen wird das Ich als bewusste Instanz in uns präsent. Dadurch entsteht ein innerer Raum der Ruhe, Besonnenheit und Mässigkeit, der es ermöglicht, Wahlmöglichkeiten zu schaffen und aus Einsicht in die Situation heraus das Handeln zu lenken (Ballreich, 2007, Bieri 2002).
Der Mensch erkennt sich heute zwar als Individuum, viel stärker als das jemals in der Vergangenheit der Fall war. Aber er weiss nicht, was seine Individualität eigentlich ausmacht, was er mit ihr anfangen soll. Das sind Mitursachen von oftmals schweren inner-seelischen Lebenskonflikten, die nur überwunden werden können, wenn sich der Mensch wieder ein neues Bewusstsein für eine mehrgliedrige Natur des eigenen Wesens erwirbt.
[1] Trichotomie (griechisch tri- = drei; tome = Schnitt) bezeichnet allgemein eine Dreiteilung.