13.6.1 Die psychisch-seelische Organisation
Die Seelenorganisation hat eine Ebene der Triebempfindungen und eine der Seelenempfindungen.
Die beiden Grundkräfte der Seelenwelt sind Sympathie und Antipathie. Als Sympathie kann man generell die Kraft bezeichnen, mit der das Seelische andere anzieht, sich mit ihnen zu verbinden sucht für etwas Gemeinsames, seine Zugehörigkeit mit ihnen geltend macht und auf einen Zusammenhalt hin arbeitet. Antipathie ist dagegen die Kraft, mit der sich Seelenwesen abstossen, ausschliessen, mit der sie ihre Eigenheit oder Eigeninteressen behaupten oder das Trennende betonen.
Die Ebene der Triebempfindungen ist der untere Bereich des Empfindungsleibes und lebt, in extremer Form, die selbstsüchtigen, egoistischen Antriebe als Begierden und Gier. Dazu finden wir in unserer aktuellen Kultur vielfältigste Anschauungsbeispiele. Überall dort, wo es um Gewinnmaximierung, Anhäufung von Besitz, egoistische Einflussnahme und Machtausübung geht sind Triebempfindungen vorherrschend. In abgeschwächter Form sind auch die egoistisch dominierten Gefühle von Lust, Wohlbehagen resp. Unlust, Unbehagen dazuzurechnen.
In der Ebene der Seelenempfindungen verwirklicht sich die Grundkraft der Sympathie. Sie kann sich dort frei entfalten, wo sie keine Antipathie zu überwinden hat, die ihr entgegenwirkt. Die volle Kraft der Sympathie äussert sich in der Lust und Liebe. Da erlebt der Mensch das reine und mächtige Gefühlsleben der Seele, befreit vom Physischen und Vitalen, als leibfreie, rein seelische Tätigkeit. In diesen Zuständen webt das Seelische quasi in sich selbst. Aus eigener Kraft gelingt es dem Empfindungsleib nicht, zu diesen Gefühlen zu kommen, er braucht dazu die bewusste Tätigkeit des Ich. Erst das Denken über die Gefühle und über die daraus erfolgenden Handlungen differenziert im Lebenslauf die Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens immer mehr voneinander und unterstellt sie der bewussten Herrschaft des Ich. Der Mensch bildet dadurch seelisch seine Ich-Kräfte aus und entwickelt sich zu einem eigenständigen Mikrokosmos, der sich, anders als das Tier, aus eigener bewusster Kraft mit dem grossen Makrokosmos in Einklang versetzen muss.
Die sympathischen und antipathischen Kräfte der psychisch-seelischen Organisation und alle daraus entstehenden Gefühle sind von ihrem Wesen her reaktiv. Gefühle reagieren auf etwas und sind damit immer Folge auf etwas. Auch wenn es um das Erfühlen von Zukünftigem geht, um Vorausahnungen, Befürchtungen, Angst oder Vorfreude, passiert dies in der Sphäre des Reagierens auf früher erlebte Erfahrungen. Gefühle, Affekte und Triebe brauchen einen Auslöser, auf den sie reagieren können. Die Gefühle sind damit Ausdruck des Gewordenen, der Erfahrungen in der Vergangenheit. Das bedeutet auch: In den Seelenempfindungen / Gefühlen liegt nichts Zukünftiges, Richtung Gebendes im Leben (vgl. Wais 2011, 22). Das drückt sich auch darin aus, dass ein dreissig- oder vierzigjähriger Mensch sich nicht ‹seelisch gereift› fühlt, sondern sich in seinen Gefühlen vielmehr als jugendlichen Menschen erlebt. Sogar fünfzig- oder sechzig-Jährige erleben sich in ihren Gefühlen nicht als ältere Menschen. Sie erleben sich in ihren Gefühlen immer noch als jugendliche Menschen oder vielleicht maximal als 35-jährige. Der Gefühlsleib führt uns seelisch immer zurück in frühere Lebensstadien, weil er nicht altert. Was an uns altert ist der physische Körper und der Lebensleib. Seele und Geist sind den Alterungsprozessen nicht unterworfen.
Der Empfindungsleib mit seinen Trieb- und Seelenempfindungen führt uns Menschen während des ganzen Lebens immer wieder in schicksalshafte Situationen, die für uns als Individuum eine deutliche Aufforderung und zugleich eine Chance sind, vom Ich aus eine Entwicklung des Empfindungsleibes zu erwirken. Der Empfindungsleib führt uns so – zwar oft sehr leidvoll, aber zugleich rückblickend auch weisheitsvoll – unserem Schicksal zu und bietet uns die Möglichkeit der Bewusstseinsbildung und Ich-Entwicklung. Somit ist der Empfindungsleib der eigentliche Träger und Vollbringer unseres Karmas – oder mit einem weniger geistigen Begriff: der Vollbringer unserer biografischen Entwicklung.
Zur menschlichen Seele wird der Empfindungsleib erst durch die Tätigkeit des menschlichen Ichs, das den Empfindungsleib – mit den eigenen biografischen Erlebnissen und Erfahrungen – nach und nach so verwandelt, dass sich darin immer mehr seine eigene geistige Individualität widerspiegelt.
13.6.2 Psychisch-seelische Organisation: Pädagogische Ansatzpunkte
Bei einer grossen Mehrheit der verhaltensauffälligen Jugendlichen sind die Triebempfindungen ein vorherrschendes und dominierendes Element. Dass das kleine Kind seinen Trieben, Begierden und Neigungen unmittelbar und spontan folgt, ist normal. Erst am Vorbild der Erwachsenen lernt es durch Nachahmung seine Triebempfindungen nach und nach vom Ich her zu kontrollieren. Dass dies gelingen kann, braucht es Erziehung und Willensschulung. Dagegen hat beim jugendlichen und erwachsenen Menschen das direkte Ausleben der Triebempfindungen in unserer Kultur keine Berechtigung mehr. Die orientierende Kraft der Nachahmung – die ja eigentlich eine Willensschulung ist – sollte im Verlauf des Erziehungsprozesses zwischen dem 7. und 14. Altersjahr vom freien verantwortlichen Gebrauch des eigenen Willens ersetzt werden. In diesem Prozess wird das Gefühlsleben an das erwachende und immer selbstständiger werdende Denken in Richtung Ich-Leib angeschlossen. Misslingt dieser Anschluss an das Denken, wird das Gefühlsleben wieder mehr in Richtung Triebempfindungen und physischem Leib gebunden. Eine Folge davon ist, dass der jugendliche Mensch seinen momentanen Bedürfnissen und Emotionen ausgeliefert ist. Er muss ihnen nachgeben und sie befriedigen. Sogar dann, wenn seine Vernunft dagegen spricht und ihn davon abhalten möchte. Damit ist die konstitutionelle Voraussetzung geschaffen, dass die Triebempfindungen das weitere Leben dominieren.
Pädagog:innen müssen in ihrer Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen im Bereich der Triebempfindungen zuerst einmal günstige Voraussetzungen für korrektive Erfahrungen schaffen. Als äussere Hülle muss die Kultur der Institution primär ein unterstützendes soziales Umfeld bieten, das Gelegenheit für neue Erfahrungen im Denken, Fühlen und Handeln bieten kann. In der direkten Arbeit selbst geschehen korrektive Erfahrungen über den engen, direkten pädagogischen Kontakt. Dieser besteht zuerst oftmals aus Loben, Loben, Loben und immer wieder geduldiges Konfrontieren der nicht gelungenen Verhaltensweisen im Alltag. In kritischen Situationen sind klare, eindeutige Grenzen zu setzen. Wenn Jugendlichen etwas misslingt oder sie frustriert, müssen wir sie so begleiten, dass sie nicht gleich aufgeben. Als Hilfs-Ich müssen wir sie motivieren, an ihre Stärken, Ressourcen und Fortschritte erinnern.
Da die Seelenempfindungen in ihren Erscheinungen immer geprägt sind von der Vergangenheit und sich als eine Reaktion auf etwas früher Erlebtes ausdrücken, sind sie pädagogisch nicht direkt veränderbar. Es ist jedoch die Ebene, auf der wir die früheren Erlebnisse und Erfahrungen besprechen, Reiz und Reaktion analysieren und neue mögliche Verhaltens- und Reaktionsweisen entstehen lassen. Um zu verstehen was die Seelenempfindungen stärkt, können wir den Zugang über ihn schwächende Ereignisse wählen. Jugendliche mit einem stark geschwächten Seelenleben sind solche, die passiv bis dumpf in sich brüten über «all den Scheiss, den ich erlebt habe» oder die ihr Leben in egozentrischer Nabelschau betrachten und immer wieder in den gleichen Erlebnissen kreisen. Diese Jugendliche können in Selbstmitleid verhaftet sein oder in einer Opferrolle verharren oder alle Menschen aus ihrer Umgebung kritisieren, weil ‹die andern› alles falsch gemacht haben oder sie können stagnieren in Reue, Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Phänomenologisch haben wir es zwar mit verschiedenen Verhaltensweisen zu tun. Ihnen gemeinsam ist eine seelische Stagnation. Durch Fixierungen auf sich selbst, auf eine Problemsituation oder auf andere Menschen bewegt sich seelisch nichts mehr – die Lebendigkeit der Seele erscheint gelähmt. Wenn der Seele die Flügel gestutzt sind, ist menschliche Entwicklung und Veränderung nicht mehr möglich.
Deshalb muss in all diesen Situationen der Empfindungsleib in Bewegung gebracht werden. Irgendwie muss ein Interesse und eine Offenheit gegenüber sich selbst, den Mitmenschen und der Welt in Gang gebracht werden. Eigentlich ist es offensichtlich, dass dafür Strenge, Sanktionen, Malus-Systeme oder ein Einschluss nicht geeignete Massnahmen sein können, weil diese höchstens eine weitere seelische Verhärtung bewirken. Aber das sind die Massnahmen, die oft in stationären Institutionen angewendet werden! Um einer seelischen Stagnation heilend begegnen zu können, braucht es vielmehr menschliche Nähe, Wohlwollen, Motivation, und Zuversicht. Das sind Kräfte, die den Seelenleib anregen und ihm helfen, mit den Sympathien und Antipathien der innerlich wogenden Gefühlswelt konstruktiv umzugehen. Der Jugendliche muss ja lernen, seine Vorlieben und Abneigungen nicht einfach auszuleben, sondern als Signale zu verstehen, die ihm etwas über sich selbst und die Mitmenschen sagen können.
Ein bewährter Zugang, blockierte Gefühle wieder in Bewegung zu bringen bietet z.B. das Reframing. Menschliche Denkmuster, Zuschreibungen, Erwartungen oder Verhaltensäusserungen weisen in der Regel einen Rahmen (frame) auf, eine Ordnung, nach der Ereignisse interpretiert und verstanden werden. Reframing heisst also ‹Umdeutung› mit dem Ziel, den inneren Bildern einen neuen Rahmen zu geben, sie in einem anderen Zusammenhang zu sehen, ihnen einen neuen Sinn zu geben. Als Begründerin des Reframing wird die Familientherapeutin Virginia Satir genannt, aber auch Milton H. Erickson wandte Reframing in der Hypnotherapie zeitgleich an. Hohen Stellenwert geniesst sie im Neuro-Linguistischen Programmieren (NLP) und der Provokativen Therapie. Korrektive Erfahrungen (in der Psychotherapie und Pädagogik) sind Erfahrungen, in denen eine Person ein Ereignis oder eine Beziehung in einer neuen und unerwarteten Weise affektiv versteht und erfährt.
Wenn wir in Gesprächen dazu kommen, dass Jugendliche ihr Selbstmitleid, ihre Schuldgefühle oder Gewissensbisse als ihre Gefühle anerkennen, die sie zwar auf Fehler und Schwächen hinweisen, die sie aber auch verändern und in einen neuen Rahmen stellen können, kommen die Gefühle wieder in eine lebendige Bewegung. Es ist bei diesen Jugendlichen zuerst unsere pädagogische Hauptaufgabe, das Gefühlsleben wieder in einen Fluss und in einen Anschluss an das denkende Erkennen zu bekommen. Nur so kann es sich von seinem kindlichen Verhaftet-Sein an den Leib und den an ihn gebundenen passiven Willen lösen.
Die Gedanken-, Handlungs- und Gefühlskontrolle, eine innere positive Haltung – und mit der Zeit vielleicht sogar eine innere Unbefangenheit im Gefühlsausdruck – sowie deren Zusammenwirken sind grundlegende Hilfen bei der Selbstwahrnehmung und Selbsterziehung des Menschen, den Seelenleib zu pflegen – und die eigenen Gefühle unter die Leitung und Aufsicht des Ich zu bringen.
13.6.3 Die Ich-Organisation
Die Ich-Organisation hat eine Ebene des Alltags-Ich und des Höheren-Ich.
Das Alltags-Ich ist, was ich selbst und was meine Mitmenschen an mir kennen. Ich bin geprägt von meinem Elternhaus, dem Milieu meiner Kindheit, Schule, Ausbildung und beruflichen Situation, habe meine Vorzüge und Schattenseiten, meine Sympathien und Antipathien, meine Überzeugungen und politischen Meinungen, meine Gewohnheiten und Suche nach Sicherheiten. Wenn ich mich jemandem vorstelle oder von mir erzähle, erzähle ich vom Alltags-Ich: von dem, was ich bisher im Leben geworden bin. Ich erkenne mich und mein Alltags-Ich in der Erinnerung, an meinen Fähigkeiten, Erfahrungen und Eigenschaften. Damit ist das Wesen des Alltags-Ich etwas Gewordenes, ein Ergebnis meiner bisherigen Lebensereignisse – mit der Tendenz, diese Erfahrungen und das Erreichte zu sichern, zu reproduzieren und darin zu erstarren. Das Alltags-Ich ist immer gekennzeichnet durch das Element der Konservierung, Wiederholung und Erstarrung.[1]
Das Höhere Ich dagegen ist die einzige Instanz des Menschen, die auf die Zukunft, auf das Werden des noch nicht Entwickelten und auf die Suche nach weiterführender Wandlung gerichtet ist. Jeder Mensch ahnt zumindest, empfindet oder weiss, dass er neben seinem Ich des Lebensalltags noch eine andere, höhere Seite in sich hat, die sich zwar seltener zeigt aber in Übergangssituationen des Lebens intensiv wahrnehmbar ist. Das Wesen des Höheren Ich ist Wandlung, Aufbruch, Veränderung: Ich weiss, dass ich derselbe und doch ein anderer bin als von 10 Jahren. Das Höhere-Ich sucht nicht Sicherheit und Gewöhnung, sondern die Entwicklung durch neue Taten. Der Mensch spürt diese Instanz am deutlichsten in Zeiten von Grenzsituationen und Übergängen, wenn eine erhöhte Aufmerksamkeit und auch Unsicherheit vorhanden oder vorausgegangen ist. Wenn sich ein Mensch in grosser innerer Not erlebt und dann einen mutigen Schritt macht oder wenn er eine gesicherte Existenz zugunsten einer ungesicherten aber Ich-näheren Zukunft aufgibt oder wenn ein Mensch sehr geliebt wird und selbst sehr liebt – in solchen Momenten ist er ganz nahe bei sich selbst. In solchen Situationen ist der Mensch seinem Höheren Ich am nächsten und kann etwas von dem erfassen, in welche Richtung sein Höheres Ich mit ihm Entwicklung erstrebt. Damit ist aber nicht gesagt, dass jede Veränderung, jeder Impuls oder jede Verliebtheit aus dem Höheren Ich kommt. Als Hauptkriterium kann gelten: die Impulse aus dem Höheren Ich zielen auf Wandlung und damit auf Verzicht von Sicherheiten und Gewohnheiten; sie sind immer mit Verzicht verbunden. Nun gibt es natürlich auch die Situation, dass der Mensch die Intentionen des Höheren Ich nicht wahrnimmt. Dann kommt es zu einer Krise oder gar zu sich wiederholenden Krisen, die im Extremfall in Situationen enden, welche in der Psychopathologie als Ich-Störungen beschrieben werden. Diesen Situationen gemeinsam ist, dass das Ich die Einheit der Persönlichkeit nicht mehr zusammenhalten kann und Seelenteile ein Eigenleben ohne Führung durch die Ich-Instanz ausleben. Es sind Störungen des Ich-Erleben und der Ich-Umwelt-Grenzen. Diese Syndrome können sich je nach Persönlichkeit äussern als Depression, Schizophrenie, Wahnvorstellungen, Depersonalisations-Störungen oder als Drogenkonsum.
13.6.4 Ich-Organisation: Pädagogische Ansatzpunkte
Das Alltags-Ich von verhaltensauffälligen Jugendlichen ist mit seinen eingeübten bis chronifizierten Verhaltensweisen im Verhalten auffällig bis dissozialisiert. Das Benehmen ist oft reaktiv und misstrauisch. Die bekannten Verhaltensweisen sind Lügen, Stehlen, Hängen und Chillen, Alkohol- und Drogenkonsum, in innerer und äusserer Unordnung verharren, sich nicht an Regeln und Abmachungen halten, in Motivations- und Energielosigkeit am Morgen nicht aufstehen wollen usw. Das Alltags-Ich ist das Gewordene, das Gesamtergebnis der bisherigen Lebensereignisse. Gerade bei diesen Jugendlichen erkennt man sehr deutlich die starke Tendenz des Alltags-Ich, einmal gemachte Erfahrungen als Verhalten zu sichern und immer wieder neu zu reproduzieren.
In der Verhaltenspädagogik und –therapie sind Verhaltensäusserungen des Alltags-Ich der Ansatzpunkt: dysfunktionales oder gar dissozialisiertes Verhalten soll ‹gelöscht› und über Belohnungen verändert werden. Dagegen erachtet die geisteswissenschaftliche Pädagogik solche Verhaltensäusserungen als anerworbene Gewohnheiten, die nicht auf der Äusserungsebene des Alltags-Ich sondern vom Lebensleib her anzugehen sind. Auf der Ich-Ebene geht es pädagogisch vielmehr darum, einen offenen Kontakt zu gestalten. Dieser dient als Voraussetzung für eine bewusste Beziehungsgestaltung und als Grundlage, auf der Beziehung und echte Begegnung zwischen Ich und Du entstehen kann. In Anlehnung an Micknat (2002) müssen wir einen offenen Kontaktraum gestalten. Micknat unterscheidet zwischen einer ICH-ES- und einer ICH-DU-Beziehung. Bei einer ICH-ES-Begegnung geht es um eine Sache, ein Objekt ein ES und unser Gegenüber ist ‹Objektvermittler›. Dies geschieht im Alltag, wenn wir beispielsweise im Restaurant ein Getränk bestellen oder am Bahnhofschalter eine Fahrkarte kaufen. Nach Abschluss dieser Handlungen gehen alle Beteiligte weiter ihre Wege – mehr an Kontakt ereignet sich nicht. Deshalb ist das Kennzeichen dieser ICH-ES-Begegnung eine eingegrenzte Kontaktfläche (siehe Abb. 36 links).
Abb. 36: Das Ich und das Du als Beziehungsraum

Nach Micknat 2002; Döring & Berghöfer 2014
In einer helfenden Begegnung (Abb. 36 rechts) muss dagegen eine andere Art von Beziehung gestaltet werden. Die Begegnenden müssen als ICH und DU einen offenen Kontaktraum schaffen und gestalten. Es liegt in der Kompetenz und Verantwortung der Pädagog:innen, solche offene Kontakträume mit den Jugendlichen bilden zu können. Die Jugendlichen selbst bringen ihre schlechten Erfahrungen, eingeschränkten Möglichkeiten und ihre Ich-Du-Beziehungsstörungen in diese Kontakte ein. Dass trotzdem ein offener Kontaktraum entstehen kann, stellt grosse Herausforderungen an uns Pädagog:innen. Da müssen wir wach, aufmerksam für Sprache, Verhaltens- und Seinsweisen werden, damit Jugendliche sich als ICH in einen solchen Kontaktraum wagen können.
Unser Bestreben und Ziel im Kontakt mit Jugendlichen muss sein, zuerst einen Kontakt in einigen wenigen ‹Inhalten› zu knüpfen und zu etablieren. Dazu eigenen sich vornehmlich Themen, welche den Jugendlichen interessieren, wo sein Herzblut fliesst. Davon ausgehend können wir dann zunehmend einen Kontaktraum gestalten, der sich allmählich auf mehr Lebensbereiche ausdehnen lässt.
Wenn wir als Pädagog:in den Zugang zu einem verhaltensauffälligen Jugendlichen suchen, werden wir oft mit unseren eigenen Schwächen, Unvollkommenheiten und Behinderungen konfrontiert, die wir als unser ‹Gepäck› mit in diesen Kontakt einbringen. Wenn wir die Zeichen, Äusserungen und Ausdrucksweisen eines zu begleitenden Menschen ignorieren, gar nicht oder falsch verstehen, weil ich als Individuum eigene Vorstellungen und Interpretationen von und über eine Situation habe, so behindere ich mich zu allererst selbst. Dann stehe ich als Privatindividuum meiner Aufgabe als Pädagog:in im Weg. Diese Anforderung verlangt Bewusstsein und eine dauernde Auseinandersetzung mit mir selbst.
Das Alltags-Ich zeigt uns primär phänomenologische Verhaltensäusserungen: welches Verhalten erscheint wie, wann, in welcher Intensität, in welchem Zusammenhang. Wichtig ist jedoch, dass wir mit den Kindern/Jugendlichen ihr Alltagsverhalten immer wieder anschauen und besprechen. Sowohl eingehaltene als auch nicht eingehaltene Abmachungen oder Regelübertretungen sollen konsequent gelobt resp. müssen konfrontiert werden. Das gilt für alle Verhaltensweisen, welche den durchschnittlichen Verhaltensbereich des Alltags über- oder unterschreiten. Solche Ereignisse können entweder direkt während des Auftretens gelobt oder unterbrochen werden. Diese Interventionsart wirkt am nachhaltigsten, wenn sie überrascht und damit direkt ins Ich-Bewusstsein gelangt. Es gibt aber auch Situationen, in denen es angebrachter ist, die Ereignisse erst rückblickend, aus einer inneren Distanz heraus in Ruhe zu besprechen und zu analysieren. Dies kann als abendlicher Rückblick geschehen (Was ist mir heute gelungen? Wo gab es Schwierigkeiten?) oder im Wochengespräch. Es geht darum, dass wir als Pädagog:innen mit Ich-Formulierungen das Ich der Jugendlichen auf ihre Verhaltensweisen aufmerksam machen, konfrontieren und damit der Jugendlichen ihre Verhaltensweise sich selbst bewusst machen.
Der erwachsene und vermehrt auch schon der jugendliche Mensch ist heute dazu aufgerufen, zum Schöpfer und Erzieher seiner selbst zu werden. Dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier, das zwar auch eine Seele und damit auch Bewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein hat. So ist das Tier in Lust und Leid hilflos seinem Schicksal ausgeliefert und an die engen Schranken seiner arttypischen Prägung gebunden. Der Mensch hingegen kann zum bewussten schöpferischen Mitgestalter des eigenen Schicksals werden. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik geht davon aus, dass das Kind, der jugendliche und der erwachsene Mensch durch den Geist geformt und gebildet wird. Die Kräfte gehen von der Ich-Organisation aus, die über die seelischen Strukturen des Denkens, Fühlens und Wollens in die Lebenskräfte-Organisation gehen und sich dann im physischen Körper ausbreiten, manifestieren oder festsetzen.
Das Höhere Ich ist die einzige Ebene des Menschen, die als Ansatzpunkt Entwicklungsmöglichkeiten für Veränderungen und ein Vorangehen in eine gewünschte Zukunft beinhaltet. So wie jeder Mensch hat auch jede/r dissozialisierte Jugendliche in sich Zukunftsvorstellungen, Wünsche und Ideale im Sinne von: «Was aus mir auch noch werden könnte». Obwohl das Höhere Ich, dieser innerste Wesenskern, nicht direkt sichtbar und ansprechbar ist wie das Alltags-Ich, ergeben sich in den Gesprächen immer wieder Situationen, diese Ebene hereinzuholen. Das Höhere Ich ist der natürliche Verbündete der Pädagog:innen, weil auf dieser geistigen Ebene vieles klarer ist als auf der Alltags-Ebene. Ein möglicher Zugang bietet die direkte Frage nach der Zukunft: «Wenn alles gut läuft und du auch deinen Teil beiträgst, was stellst du dir vor: wo stehst du in 5 Jahren? (was hast du erreicht? wo und wie lebst du?»). Dieses Verlassen der Alltagsebene mit ihren oftmals erdrückenden Problemen kann verschüttete Ziele wiederbeleben, Energie in Fluss bringen, Motivationen wecken und Zielsetzungen klären. Solche Vorgehensweisen sind in den vergangenen Jahrzehnten durch verschiedene Ansätze wie z.B. die Lösungsorientierte Therapie, das Neurolinguistische Programmieren (NLP), der SMART-Technik oder dem Coaching bekannt geworden. Die Zielsetzung ist, eine neue Sichtweise – aus einer höheren Perspektive heraus – zu begünstigen.
Es ist eine Forderung unserer Zeit, dass wir unser Leben aktiv als Individuum gestalten, vom Ich her führen und das Geistige einbeziehen. Ein solcher Zugang ist den meisten Jugendlichen zuerst einmal unbekannt. Damit sie in einen solchen Prozess einsteigen können muss die Beziehungsebene tragfähig sein – ohne Vertrauen kommt nichts zustande. Vom Erwachsenen her braucht es mehrere Anläufe, solche Inhalte anzugehen. Ich biete ihnen zwar die Unterscheidung zwischen Alltags-Ich und Höherem-Ich an, verwende beim zweiten häufig auch den Begriff ‹Gewissen› und erkläre ihnen den Unterschied zwischen Ich und ‹Über-Ich› aus der Psychoanalyse. Auch da muss zuerst eine Basis erarbeitet werden, auf der wir vorangehen können.
Die Ich-Organisation von Jugendlichen können wir stärken durch positive menschliche Begegnungen. Indem das eine ‹Ich› dem anderen ‹Ich›. begegnet, kann seelisch-geistige Nähe erlebbar werden, die auch als Wärme oder Verstehen bezeichnet werden kann. Die nicht geglückte Ich-Organisation der Jugendlichen, die sich in einem desolaten Selbstbild ausdrückt, erfährt so Akzeptanz, Bestätigung und Förderung.
Methodisch hat sich ein Vorgehen wie folgendes bewährt: Zuerst machen wir eine Traktandenliste der zu besprechenden Themen. Dann lasse ich die Jugendlichen wählen, womit sie beginnen wollen. Die meisten Jugendlichen bringen dann gerne eines der zahlreichen Probleme ein, die ihr Ich im Alltag zu bewältigen hat. Also besprechen wir zuerst diese Alltagssituationen, die wahrgenommenen Gefühle, die Vor- und Nachteile des Verhaltens plus mögliche andere Lösungsmöglichkeiten. Dann wechsle ich gerne die Ebene, indem ich anhand der besprochenen Alltagssituationen die dahinter stehenden Haltungen, Werte und Normen oder Lebensideale thematisiere. Diese Gespräche haben dann mehr Themen wie die Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit im Umgang mit anderen Menschen, den Respekt vor der Freiheit und Würde des anderen oder allgemeine Diskussionen über Normen und Werte zum Inhalt. Voraussetzung, dass solche Gespräche gelingen, ist von den Pädagog:innen her eine innere Offenheit und echtes Interesse am Schicksal (oder an der Biografie) der Jugendlichen, eine moralfreie Achtung ihrer Bewältigungsversuche, eine Anerkennung der Stärken und Akzeptanz ihrer Schwächen. Solche Gespräche dienen der Schulung und Stärkung des Ich und fördern das Ich-Vertrauen in ihre weitere positive Entwicklung. Denn jede Nacherziehung muss immer auch Persönlichkeitsentwicklung sein.
Diese Inhalte beschreiben nicht die pädagogische Alltagsebene – sondern vielmehr höhere menschenkundliche Ebenen oder allgemein-menschliche Seins-Hintergründe. Aber es sind diese Ebenen, die ich von mir und von anderen kenne: diese Ebene bestimmen die pädagogische Haltung und die pädagogischen Handlungen. Denn es ist immer meine innere (seelisch-geistige) Haltung, die mein pädagogisches Handeln bestimmt.
Mit entsprechender Erfahrung und Reife kann man auch den Zugang wählen, den Hellinger in seinem Buch ‹Ordnungen des Helfens› (2006) beschreibt. Hellinger legt grossen Wert darauf, dass wir in unserer Arbeit jedem Menschen in einer inneren Haltung von Achtung, Anerkennung und systemischer Empathie begegnen: «Diese Ebene ist die Ebene der weiten Seele oder der grossen Seele – ich nenne das mal so. Das ist nur eine Chiffre, denn wir wissen nicht genau, was das ist. Auf dieser Ebene gibt es eine Verbindung. Auf dieser Ebene spüre ich ihn, und ich spüre gleichzeitig seine Eltern oder sein Schicksal. Und ich achte das. Dann spüre ich, ob er in Einklang mit mir kommt und ob ich in Einklang sein kann mit ihm. Sobald ich in diesem Einklang bin, weiss ich, was zu tun ist.» … «In dieser Haltung ist eines ganz wichtig. Sie ist ohne Gefühl. Sie ist gesammelt, zugewandt, aber ohne Gefühl oder, genauer, ohne Emotionen. Daher ist sie auch vom Gefühl her ohne Liebe, ohne Mitleid oder ohne Furcht natürlich.» (2006, 122)
[1] Detaillierte Ausführungen zum ‹Alltags-Ich› und ‹Höheren-Ich› siehe Wais (2011), S. 20ff.