Jegliche Erziehung findet in der direkten Begegnung von Erziehenden und dem Kind/Jugendlichen statt. In seinem Aufsatz ‹Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft› stellt Steiner klar: «So handelt es sich auch für die Erziehungskunst um eine Kenntnis der Glieder der menschlichen Wesenheit und deren Entwickelung im einzelnen. Man muss wissen, auf welchen Teil der menschlichen Wesenheit man in einem bestimmten Lebensalter einzuwirken hat und wie solche Einwirkung sachgemäss geschieht.» (Steiner 2009, 27)
Für die Erziehung hat Steiner (2010, 41) im ‹Heilpädagogischen Kurs› ein pädagogisches Gesetz formuliert, das für die Nacherziehung ebenso hilfreich ist. Dieses Gesetz bietet Eltern und professionell Erziehenden Anhaltspunkte, welche Interventionen auf welcher Ebene der vier Wesensglieder wirksam sind.
Das Gesetz besagt: In der Erziehung von Kindern und Jugendlichen ist beim Einwirken auf ein bestimmtes Wesensglied nur das nächsthöhere Wesensglied des/der erwachsenen Erziehenden wirksam.
Beispiele:
- Wenn der physische Leib und seine Organe beim Jugendlichen ge-stärkt werden sollen, müssen entsprechende Kräfte aus der Lebensorganisation der Erziehenden wirken (wie z.B. rhythmische Tages- und Wochengestaltung)
- Wenn die Vitalorganisation / Lebensleib beim Jugendlichen gestärkt werden soll, müssen von den Erwachsenen entsprechende Kräfte als seelische Äusserungen wirken (wie z.B. Empathie, Ehrlichkeit, Humor)
- Wenn sich die Psyche, das Seelenleben des Jugendlichen gesundend entwickeln sollen, so muss das Ich der Erwachsenen klärend, ordnend und Halt gebend auf das selbständig werdende Denken, Fühlen und Wollen der Jugendlichen einwirken, sonst bleibt es chaotisch.
- Wenn das Ich, die Ich-Kräfte der Jugendlichen gestärkt werden sollen, wirken alle positiven Qualitäten des sozialen Umfeldes gesundend. Dazu sollten primär die Eltern, aber auch Lehrer:innen, Lehrmeister, Pädagog:innen, Sozialarbeiter:innen gehören – und im weiteren Sinn die Erwachsenen der Gesellschaft, die der Jugendlichen eine Zukunft bereit stellen.
Abb. 37: Erziehungsschema: Das pädagogische Gesetz

Nach Steiner 2010, 42
An einem konkreten Beispiel veranschaulicht: Wenn wir feststellen, dass bei einem Kind/Jugendlichen die Vitalorganisation nur schwach ausgebildet ist, so müssen wir als Pädagog:innen unsere eigene psychisch-seelische Organisation so gestalten, dass diese korrigierend auf die Vitalkräfte wirken kann. Dies geschieht, indem wir dem Kind oder Jugendlichen zuerst einmal mit liebevoller Aufmerksamkeit, mit Anerkennung und Lob, mit Vertrauen, Akzeptanz und Toleranz begegnen und ihm Schutz und einen sicheren Platz bieten.
Das pädagogische Gesetz gilt sowohl für die positiven als auch die negativen Folgen von Erziehung. So wird ein Kind, das zwischen seinen geschiedenen und trotzdem weiter streitenden Elternteilen aufwächst, die sich nur im Konflikt zu den Lehrkräften und den Kindesschutzbehörden einig sind, in den meisten Fällen Schwierigkeiten in seine Entwicklung zeigen. Da wirken negative Gefühlskräfte der Eltern (aus ihrer psychisch-seelischen Organisation) auf mehrere Organisationen des Kindes. Das passiert leider oft, ist aber aus pädagogischer Sicht klar schädlich und menschlich illegitim. Wächst dieses gleiche Kind dagegen in einem stabilen, feinfühligen Elternhaus mit beiden Elternteilen auf, die eine proaktive Zusammenarbeit mit den Lehrkräften pflegen und sich allenfalls für ihr Kind einsetzen, wird es sich in den meisten Fällen unauffällig entwickeln. Alle Kinder und Jugendliche brauchen einen Kreis von Erwachsenen – oder zumindest ein bis zwei Erwachsene – die sie helfend und unterstützend umgeben. Erst durch eine gemeinsame Zuwendung, ein gemeinsames Fragen und Entwickeln kann die individuelle Unverwechselbarkeit des Kindes/Jugendlichen zum Vorschein kommen, kann das eigene Ich in seinen Wünschen und in seiner Willensrichtung erkannt werden.
Für die Nacherziehung heisst dies beispielsweise:
- Damit krankmachende oder bereits vorhandene Chronifizierungen und Schwächungen des Lebensleibes (geringe Vitalkräfte, Fixierungen auf körperliches Unwohlsein, schlechte Gewohnheiten, Süchte, starke Verspannungen aufgrund von Ängsten oder Unsicherheiten, fehlender Einsatz- oder Durchhaltewillen usw.) verändert und harmonisiert werden können, müssen Erziehende nur aus ihrer psychisch-seelischen Organisation wirken. Das heisst zweierlei:
- wenn man Schwächungen des Lebensleibes von einem anderen Wesensglied aus angeht ist das vergebliche pädagogische Liebesmüh und führt auf beiden Seiten nur zu Enttäuschungen. Diese Erfahrung kennen alle, die je mit suchtmittelabhängigen oder traumatisierten Jugendlichen gearbeitet haben und diese z.B. aus ihrem ‹Ich› heraus inhaltlich logisch und nachvollziehbar richtig argumentiert haben. Da kann man intellektuell den Verstand ansprechen, mit Argumenten erklären, Zusammenhänge aufzeigen, auf Einsicht setzen und zu Verhaltensveränderungen motivieren – so viel man will. Das alles führt zu keinen Veränderungen.
- Erziehende müssen ihre psychische und seelische Organisation so entwickeln und gestalten, dass diese korrigierend auf den Lebensleib der Jugendlichen wirken kann.
- Die Mehrheit der dissozialisierten Jugendlichen befindet sich altersmässig im 3. Jahrsiebt. Ihre Aufgabe ist also, den Umgang mit ihrer Seelenorganisation in der Welt zu lernen: den Umgang mit Empfindungen, Gefühlen, Trieben – von seelischer Zärtlichkeit und Liebe bis Hass und Gier.
- Auf die Jugendlichen zwischen Pubertät und Erwachsenwerden muss nach Abb. 37 von den Erziehenden her ihr Ich wirken. Das aber setzt einigermassen entwickelte »Ich-Kräfte« bei Erziehenden voraus, was in der Folge zweierlei heissen kann:
- Es ist Tatsache, dass nicht bei allen PädagogInnen diese Ich-Kräfte gleichermassen ausgebildet sind. Einzelne haben z.B. viel eher ihren Empfindungsleib mit Gefühls- und Denkkräften ausgebildet, andere besitzen eine blühend-gesunde Vitalorganisation und wieder andere leben vor allem in ihrem sportlich trainierten physischen Körper. Diese verschiedenen Ausprägungen erklären unter anderem, weshalb nicht alle PädagogInnen dafür geeignet sind, mit Jugendlichen zwischen 14- und 21-jährig zu arbeiten. Wenn bei professionell Erziehenden die Ich-Kräfte weniger ausgeprägt vorhanden sind, sollte diese besser die Finger von der Arbeit mit dissozialisierten Jugendlichen lassen.
- Darin liegt zugleich auch ein Aufruf an die professionellen Pädagog:innen: Wir müssen die eigenen Wesensglieder dauernd entwickeln. Nur in Selbsterziehung und mit der wachsenden Erfahrung können wir mit der Zeit ein intuitiveres Verständnis für die nicht entwickelten Seiten bei den Jugendlichen, für ihre inneren Seelenwüsten, erlangen. Um ihre Haltungen und ihre Taten zu ertragen, um sie in ihrem inneren Wirrwarr erreichen zu können, müssen wir aus unserem Ich heraus anwesend sein, agieren und reagieren. Aus unseren Ich-Kräften müssen die Wirkungen ausgehen, die gesundend und harmonisierend auf das Fühlen und Denken der Jugendlichen wirken.