13.8 Die 4-fache Geburt des Menschen

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik geht bei der Entwicklung des Menschen von einem 7-Jahres-Entwicklungsrhythmus aus. Bei der Geburt wird der physische Leib geboren; die Lebens-, die psychisch-seelische- und die Ich-Organisation sind jedoch noch nicht auf der irdischen Welt inkarniert vorhanden. Sie sind vielmehr – bildhaft ausgedrückt – in einer schützenden Hülle unausgereift und ungeboren vorhanden. Dieses Bild ist identisch mit dem physischen Leib während der Schwangerschaft: er ist bereits vorhanden, entwickelt sich, ist aber noch geschützt von der Aussenwelt durch die nährende Hülle des Mutterleibes. Der physische Leib tritt während der Schwangerschaft nicht selbständig mit der physischen Aussenwelt in Verbindung. Vielmehr sind die Organe wie beispielsweise das Auge oder die Lunge gegen Ende der Schwangerschaft zwar fertig ausgebildet und vorhanden, bis zur Geburt werden sie aber durch die Mutterhülle von der Aussenwelt vor Licht und Luft geschützt. Erst mit der Geburt tritt der Mensch in die physische Welt ein und diese wirkt nun unmittelbar auf das Neugeborene; die Organe und die Sinne öffnen sich ab diesem Zeitpunkt der Aussenwelt.

Dieses Bild der Entwicklung innerhalb einer schützenden Hülle, die nachfolgende Geburt und dann das Wachsen und Reifen in der Aussenwelt gilt für alle 4 Geburten sinngemäss.

Geburt bis 7 Jahre

Während des 1. Jahrsiebts erarbeitet sich das Kind einen eigenen physischen Leib. Der physische Leib bei der Geburt ist das Produkt aus den Kräften der Mutter und der Vererbung durch Mutter und Vater – es ist damit noch nicht der eigene physische Leib des Kindes. Den muss es sich zuerst erarbeiten, indem während der ersten 7 Lebensjahre alle Organe und Körperzellen neu gebildet werden.

Den Abschluss dieser Entwicklung bilden die eigenen Zähne als härteste und materiellste Einlagerung des Körpers, welche an die Stelle der vererbten helleren Milchzähne treten. Die eigenen Zähne verfügen nun über einen dickeren Zahnschmelz, sind reicher an Mineralien, dunkler und widerstandsfähiger. Auch dies kann als Hinweis auf die im Kind stattfindende Entwicklung verstanden werden.

Diese Umgestaltung des physischen Leibes ist das Werk der Lebensorganisation, die zwar seit der Geburt vorhanden ist, jedoch nur nach innen gearbeitet und den ererbten physischen Leib in einen eigenen individuellen Leib gestaltet hat. Erst mit dem Zahnwechsel entlässt die Vitalorganisation diese Kräfte in die Welt.

Bei einem gesund entwickelten Kind ist diese Veränderung in der Regel deutlich sichtbar: es hat den Babyspeck abgelegt, ist schlanker geworden, geschickt in seiner Beweglichkeit, im Rennen und Klettern gewandt und sicher – es ist in seinem eigenen Körper angekommen.

Alles was die Erwachsenen während dieser Lebensphase in der Umgebung des Kindes sinnlich hör- und sichtbar tun und lassen nimmt das Kind auf. Wenn es richtige (= pädagogisch bildende) Eindrücke aufnehmen kann, werden das Gehirn[1] und die anderen Organe des physischen Leibes entsprechend richtig ausgebildet. Wenn es moralisches Verhalten bei den Erwachsenen sinnlich wahrnimmt, kann es einen gesunden moralischen Sinn entwickeln. Moralische Zurechtweisungen oder Belehrungen bewirken in diesem Alter nichts. Denn das sind Inhalte der Lebensorganisation – und die ist noch nicht in der Aussenwelt des Kindes wirksam.

Pädagogik und Lernen geschieht in diesem Alter über sinnliche Eindrücke, über die Sinnesorgane – also eigentlich über den physischen Leib. Vorbild und Nachahmung sind die zentralen pädagogischen Inhalte zwischen Geburt und Zahnwechsel. Steiner hat sich bereits 1907 in ‹Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft› über die Wichtigkeit dieser ersten sieben Jahre sehr deutlich geäussert: «Man kann in aller Folgezeit nicht wieder gutmachen, was man in der Zeit bis zum siebenten Jahre als Erzieher versäumt hat» (Steiner 2009, 28)

7 bis 14 Jahre

So wie nach der physischen Geburt über den Körper und seine Sinne erzogen wird, kann nun nach der Freiwerdung des Lebensleibes von aussen erziehend auf diese Lebensorganisation eingewirkt werden. Die Umbildung und das Wachstum des Lebensleibes bedeutet, sehr zusammengefasst: die Bildung und Entwicklung von Neigungen, Interessen, Gewohnheiten, des Gewissens, des Charakters, des Gedächtnisses, der Temperamente. Auf den Lebensleib wirkt man pädagogisch durch Bilder, durch Rhythmen, Spiele, bildhaft-anschauliche Beispiele oder Geschichten. Sie sollen den Lebensleib in Bewegung bringen und die noch nach innen wirkende psychisch-seelische Organisation nähren und bilden. Abstrakte Begriffe wirken nicht auf den Lebensleib (das abstrakte Denken erwacht erst mit der psychisch-seelischen Organisation!) sondern es wirkt das bildlich Anschauliche.

Im ersten Jahrsiebt wirkte das Sinnlich-Anschauliche, im zweiten Jahrsiebt steht das Bildlich- /Geistig-Anschauliche als richtiges Erziehungsmittel im Vordergrund. Wenn das Kind in Eltern, Lehrer:innen oder Erzieher:innen selbstverständliche, vertrauenswürdige und verlässliche Autoritäten findet, zu denen es aufschauen kann und die ihm Vorbild sind, ist das die beste Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung in diesem Alter. Die intellektuelle und sittlich-moralische Kraft (Gewissen) kann gefördert werden, wenn das Kind in Büchern, Geschichten, Erzählungen oder Filmen von Menschen erfährt, die in der Welt etwas Wahres, Schönes oder Gutes vollbracht haben. Wenn das Kind an solchen Bildern und Vorbildern wachsen und diese sich als geistig-anschauliche Bilder in seinem Willen und Gedächtnis einprägen kann, hat es eine ideale Basis, um das nächste Jahrsiebt bestehen zu können.

14 bis 21 Jahre

Mit der Geschlechtsreife wird die psychisch-seelische Organisation frei und ist nun allen seelischen Gefühlen, der Lust, den Trieben und Begierden zugänglich und ausgesetzt. Zugleich wird vom Denken her der Verstand das intellektuelle Durchdringen und Analysieren, das abstrakte Vorstellen und eigene Urteilen möglich. Die Kraft dieser Veränderungen ist für alle Jugendlichen immens. Alles was bisher im Leben vertraut war, die Beziehungen zu Eltern, Lehrer:innen, familiäre Regeln und Gewohnheiten und auch der eigene Körper werden fremd. Eine tiefe Kluft trennt den jugendlichen Menschen von der bisherigen Kinder-Welt. Und die Erwachsenen-Welt ist ihm noch nicht verstehbar. Das noch umhüllte Ich beginnt im Innern des jugendlichen Menschen zu erwachen und beginnt seine Arbeit. Der Jugendliche nimmt sich neu wahr: «Ich bin anders» oder «Ich bin Zukunft» oder «Ich lebe mein Leben». Daher kann man die Pubertät als eigentlichen Beginn der bewussten Biografie bezeichnen. Das Individuum fängt an, sein Leben selbst zu leben; mit dem Schwerpunkt: fängt an. Es ist wie beim Laufen lernen: man fällt unweigerlich hunderte Male hin, bevor man laufen kann. Aber anders kann ein Kleinkind nicht laufen lernen – und eine Pubertierende kann nicht anders ihr eigenes individuelles Leben in den Griff bekommen. Die Jugendlichen machen in dieser Phase viele unbedachte Sachen, setzen unausgegorene Wahrheiten in die Welt, setzen sich Gefährdungen aus, wechseln wöchentlich ihre absolut richtige Meinung. Für die Erwachsenen mag dies amüsant und für Eltern und Erzieher:innen mindestens ebenso nervenaufreibend und stressend sein; besonders wenn Pubertierende sich in ‹testing the limits› üben, sei dies in radikalen Gruppierungen, massivem Drogenkonsum oder gröberen Gesetzesüberschreitungen. Die in der Welt erwachten Gefühle und das noch gänzlich unsichere innerlich wirkende Ich suchen in der Pubertät das Absolute und auch das Ideal des Lebens! Im dritten Jahrsiebt wird die Ordnung der Seele als Ordnung der eigenen Gefühle und Gedanken zur Hauptaufgabe.

Ab 21 Jahre

Das Ich wird in die Welt freigesetzt und hat die Aufgabe, die anderen Wesensglieder von sich aus zu führen, zu veredeln und zu läutern. (Steiner 2009, 21).

Selbstverständlich war das Ich schon die ganze Kindheit und Jugend über vorhanden. Erstmals offenbart es sich etwa mit zweieinhalb bis drei Jahren, wenn das Kind bewusst beginnt «Ich» zu sagen, sich erstmals als eigene Person wahrnimmt, die losgelöst ist vom Anderen. In dieser Phase sind beim Kind grosse Bewusstseinsänderungen zu beobachten. Es beginnt nun «nein» zu sagen, entdeckt seinen eigenen Willen und geniesst es, diesen auszuprobieren, sich dem Willen seiner Eltern gegenüberzustellen. Diese Entwicklung ist allgemein als Trotzphase bekannt.

Solche Manifestationen des Ich wiederholen sich: sie finden jeweils in der Mitte einer Siebenjahre-Phase statt, also im dritten, zehnten und siebzehnten Lebensjahr. Im zehnten Lebensjahr wird das bisher dominierende magische Erleben der Kinderwelt losgelassen. Das Kind wendet sich neu den Menschen und der Welt mehr in ihrer tatsächlichen, realeren und kahleren Gestalt zu. Das Kind will nun wissen, wie etwas funktioniert oder wie die Sachen zusammenhängen. Im siebzehnten Lebensjahr nehmen sich die Jugendlichen, nach den Stürmen der Pubertät, neu und klarer wahr. Sie erkennen in dieser Phase deutlicher, wer sie sind und was aus ihnen werden könnte. Oft geht dies einher mit einer idealistischen Neuerfindung der Welt unter Gleichalterigen, was sich mit einem starken Gefühl der Freude, der Freiheit und sich als Individuum spüren ausdrücken kann.

Mit 21 Jahren hat der junge Erwachsene seine Erstausbildung in der Regel abgeschlossen, probiert sich beruflich im Arbeitsleben und sozial in längeren Beziehungen. Im vierten Jahrsiebt geht es biografisch um die selbständige Integration als erwachsener Mensch in die Gesellschaft, es geht um die Ordnung des Handelns.

Mit 28 Jahren ist das Ich dann vollständig im Organismus angekommen. Im gleichen Verhältnis, wie das Ich sich als jüngstes und letztes Wesensglied mit der individuell-menschlichen Organisation verbindet, löst es sich von seiner geistigen Herkunft. So ist zu diesem Zeitpunkt eine bisher von innen her sich ergebende und wie selbständig ablaufende biografische Entwicklung zu Ende. Der Mensch ist nun erwachsen. Die weitere Entwicklung liegt nun vollständig in seiner Verantwortung.


[1]     Steiner hat bereits im Jahre 1907 (und dann später mehrfach in anderen Schriften) darauf hingewiesen, dass die Eindrücke, Erlebnisse und Gewohnheiten während der Kindheit das Gehirn direkt und unterschiedlich physisch ausbilden. Diese Aussagen hat die Neurologie in den vergangenen 15 Jahren bestätigt. Vergl. Kap. 7.