13.9 Der Mensch im 21. Jahrhundert

Das vergangene 19. und noch vielmehr das 20. Jahrhundert hat für die grosse Mehrheit der Menschen massive Veränderungen gebracht. Versuchen wir zuerst zu verstehen was dieses vorher und nachher ausmacht. Um dann in einem zweiten Schritt zu verstehen, was diese Veränderungen für den Menschen bedeuten.

Jeder Mensch ist ein Individuum, ein Einzelmensch – ein eigengeprägtes Ich. Diese Ich-Organisation wird auch als Ich-Selbst, als Höheres Ich, als göttlichen Wesenskern oder als Gewissen bezeichnet – oder seit rund 200 Jahren als ein zufälliges Produkt der Evolution. Fest steht, dass in der Menschheitsgeschichte dieses Höhere Ich immer in Bezug und in Beziehung stand

  1. zu einer geistigen Welt, einem Göttlichen, zu ‹Gott›;
  2. zum ‹Ich in der Welt›, zu einem Alltags-Ich, das sich in seinen verschiedenen Rollen äussert und bis ins vergangene Jahrhundert immer eingebettet war in eine Familie, eine Sippe, einen Stand;
  3. zum Du, dem Mitmenschen. Der Mensch wird seit der griechischen Kultur als Gemeinschaftswesen beschrieben. Sein Geist ist im Denken und Fühlen mehrheitlich mit Beziehungen und Verhältnissen zum Du beschäftigt. Das Ich benötigt das Du für seine Ich-Entwicklung;
  4. zur Natur. Der Mensch stand immer in einem Verhältnis zur Natur und verstand sich als Teil der Natur. Das Kennen und Erkennen der Natur und ihrer Phänomene sicherte sein Überleben[1].
Abb. 38: Das Ich und das Du zwischen Gott und Natur

von Plato (2013)

Die Beziehung des Individuums zu diesen vier Seinsformen veränderte sich während der ganzen Menschheitsgeschichte langsam und stetig – in den vergangenen 200 Jahren nun beschleunigt – und wird sich im 21. Jahrhundert weiterhin rasant verändern. Betrachten wir einige grundlegende Entwicklungen.

13.9.1 Der Mensch und sein Verhältnis zum Göttlichen

Wir können, in Bezug auf die vergangenen Jahrhunderte, allgemein feststellen: Es ist ein Rückzug des Geistigen aus der Welt vorhanden. Das Primat des Geistes oder der Geisteswissenschaften sind Vergangenheit. Dagegen haben wir eine Einkehr des Intellekts, der Naturwissenschaften, der Materie und einem damit verbundenen Geld-, Gewinn- und Besitzstreben. Der heute oft geäusserte Satz «Ich glaube nur, was ich sehe» ist Ausdruck eines Intellektualismus und ist letztendlich Materialismus und Atheismus.

Blaise Pascal (1623-1662) durchlitt und beschrieb wohl als erster Philosoph der europäischen Kultur die Wahrnehmung, dass Gott uns Menschen verloren geht. In ‹Les Pensées› schrieb Pascal: «Was mich angeht, so gestehe ich: sobald die christliche Religion diesen Grundsatz enthüllt, dass die Natur des Menschen verdorben und von Gott verstossen sei, so öffnet das die Augen, um überall Merkzeichen dieser Wahrheit zu erblicken; denn die Natur ist derart, dass sie überall auf einen verlorenen Gott hinweist, sowohl im Menschen als auch ausserhalb des Menschen, und auf eine verdorbene Natur» (Pascal, Pens. Sext. VI 441; zit. nach Janke, 2011, 207).

Der junge Philosoph Hegel schilderte gut 200 Jahre später ebenfalls diese neue Entwicklung einer Gottes- und Glaubenskrise Er schrieb von «einem unendlichen Schmerz» als einem Gefühl, «worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot.» (Hegel 1986a, TWA 2, 432). Hegel belegt sein Grundgefühl der neuen Zeit, dass Gott für den Menschen verloren gegangen ist mit den Erfahrungen, die schon Pascal beschrieben hatte und beruft sich auf «dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: ‹la nature est telle, qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme›» (Hegel, ebd.).

Im Gegensatz zu Pascal, der den Menschen als von Gott verstossen beschreibt, äussert Hegel den Eindruck vom Tod Gottes. Es ist ein fundamentaler Unterschied der Sichtweise, ob der Mensch sich als von Gott verstossen wahrnimmt oder diesen Gott nun als tot beschreibt. Die Ursache von Pascals empirisch ausgesprochener Wahrnehmung und seines eigenen Gefühls ortet Hegel im Cartesianischen Zeitalter, das dem Menschen die neuen Fähigkeiten des rationalistischen Denkens und der Ich-Reflexion gebracht hat (Hegel 1986b, TWA 18, 114).

80 Jahre später erklärte Nietzsche: «Gott ist tot». Mit diesem Ausspruch wird oft die Vorstellung verbunden, dass Nietzsche den Tod Gottes beschworen oder herbeigewünscht habe. Tatsächlich verstand er sich eher als Beobachter. Er analysierte seine Zeit, vor allem die seiner Auffassung nach inzwischen marode gewordene (christliche) Zivilisation. In ‹Der tolle Mensch› lässt Nietzsche diesen am Markt unaufhörlich schreien: «Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! […] Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? […] Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. […] Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!» (Nietzsche 2009, 480). Dieser Text lässt den Tod Gottes als bedrohliches Ereignis erscheinen. Dem Sprecher darin graut vor der Schreckensvision, dass die zivilisierte Welt ihr bisheriges geistiges Fundament weitgehend zerstört habe.

Eine weitere Wende, die Hans Jonas und Hanna Arendt ähnlich formuliert haben, liegt geschichtlich im 2. Weltkrieg: Im Holocaust und spätestens in Auschwitz hat Gott ‹sein Volk›, nicht beschützt. Das jüdische Volk, das vorher über Jahrtausende von Gott beschützt, von ihm aus der Knechtschaft geführt, mit Gesetzen versehen oder bei Übertretungen auch bestraft wurde, hat er der «Banalität des Bösen» (Arendt, 2011) preisgegeben. Dies bedeutet nach Jonas, dass Gott in seiner Selbstbeschränkung seine Allmacht gleichsam aufgegeben hat, indem er auf jegliche Macht und jeden direkten Einfluss auf das Geschehen in der Welt verzichtet. Gott behält zwar seine Alliebe und sein Allwissen – aber er gibt seine Allmacht auf (Jonas, 1987). Er wählte – um es mit Blick auf Leibnitz zu sagen – eine der möglichen, jedenfalls nicht notwendig die beste aller möglichen Welten, und überliess sie dann sich selbst und damit der menschlichen Freiheit. Jonas (1987, 43) prägte diese Entwicklung in dem bedeutenden Satz: «Im blossen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht der göttlichen Macht.» Das heisst: Der Mensch kann nur ein freies Ich-Wesen werden, wenn Gott sich zurückzieht und den Menschen in seine Freiheit und Selbstverantwortung entlässt. Somit kann der Mensch heute nicht mehr auf die ‹Göttliche Führung› vertrauen – er muss sich als Ich-Wesen selbst führen und ist für seine Handlungen selbst verantwortlich. Das stellt sehr hohe Anforderungen an den freien Menschen.

13.9.2 Der Mensch und sein Verhältnis zur Natur

Beim Verhältnis des Menschen zur Natur können wir im vergangenen Jahrhundert allgemein einen Rückzug des Menschen aus der Natur feststellen.

Wenn man mit Menschen ihre Biografie betrachtet, frägt man nach ihren frühesten Erinnerungen, wie beispielsweise: «Was ist deine früheste Erinnerung, wo du dich in einer inneren Verbundenheit erlebt hast?» Die Mehrheit der Menschen erlebte diese Verbundenheit in einem Zusammenhang mit der Natur. Dieses Ergebnis verändert sich seit einigen Jahren. Der ‹Naturanteil› nimmt ab.

Es stellt sich die Frage: Wo stehen wir Menschen heute in unserer Verbundenheit zur Natur? Betrachten wir dazu die zwei Faktoren der Weltbevölkerung respektive der Stadt-/Landbevölkerung.

Weltbevölkerung: Gemäss Statistik lebten um das Jahr 1800 auf der Welt 1 Mia. Menschen. Ums Jahr 1930 hatte sich die Anzahl Menschen auf 2 Mia. verdoppelt. Im Jahr 2000 waren es 6.13 Mia. Menschen und im Jahr 2024 sind es bereits über 8.15 Mia. Menschen. Diese Zahl steigt täglich weiter an. All diese Menschen leben letztendlich in einer Abhängigkeit von der Natur– auch wenn diese Tatsache vielen nicht bewusst ist. Es stellt sich die Frage: Wo und wie erleben diese Menschen ihre Verbundenheit zur Natur?

Stadt-/Landbevölkerung: Die Wanderung der Menschen vom Land in die Städte ist die grösste Völkerwanderung in der Geschichte der Menschheit und ist, genauso wie die Weltbevölkerungsexplosion, ein einmaliges Ereignis. Der Anteil der Stadtbevölkerung an der Weltbevölkerung betrug im Jahr 1900 = 10%, 1950 knapp 30%, 2000 = 50%, 2015 = 54%. Expert:innen gehen davon aus, dass dieser Prozentsatz weiter ansteigt und im Jahr 2050 zwischen 66% und 75% betragen wird (UN/DESA 2014)

Der Verstädterungsgrad in Deutschland betrug im Jahr 2015 bereits 75.3 Prozent (Statista 2024).

Das bedeutet: heute leben 50 bis 60% der Menschen ohne primäre Naturerlebnisse. Folglich wachsen heute 50 bis 60% der Kinder und Jugendlichen ohne direkte Naturerlebnisse auf wie beispielsweise als Kind stundenlang das Wasser in einem Bächlein stauen und umleiten; dem Aussäen und dann dem Hegen, Pflegen und Ernten von Pflanzen oder dem Erleben von Geburt, Füttern, Pflegen und Metzgen von Tieren.

Es gibt erste Studien, die den Einfluss des Natur- oder des Stadtlebens auf den Menschen erforscht haben. Unter der Leitung von Weinstein haben Forscher an der University of Rochester in Amerika 5 solche Studien durchgeführt. Sie kamen zum Ergebnis, dass die Einstellung der Menschen in der Stadt mehr auf ein Denken an Reichtum, einen guten Ruf und ein Bild ausgerichtet ist, das die anderen vom mir haben sollen. (Wohl mit ein Grund, weshalb in Zürich so viele SUV herumfahren). Dagegen regelte das Leben auf dem Land mit den Einflüssen der Natur diese Inhalte nach unten. Diese Menschen erachteten Gemeinschaft, Beziehung und Gemeinsamkeit als wichtigere Inhalte. Es scheint, dass urbanes Leben den Menschen etwas egoistischer und egozentrischer werden lässt und die Natur aus uns etwas sozialere und beziehungsfähigere Menschen macht (Weinstein et al. 2009).

Selbstverständlich gibt es da auch andere subjektive Wahrnehmungen wie die des Philosophen und Publizisten Björn Vedder, der als Städter auf das Land zog und für sich feststellte: «Das Landleben holt das Schlechteste aus dem Menschen heraus.» (2024).

Mit der Bevölkerungsexplosion und der damit einher gehenden Verstädterung ist in einem rasenden Tempo eine gewaltige Entwicklung im Gang, die wir in ihren Auswirkungen noch nicht erfassen können. Für die Menschheit, die bis vor einigen Jahrzehnten mehrheitlich mit der Natur lebte, war klar, dass Naturerlebnisse Primärerlebnisse sind. Das hiess auch: Nicht ich bestimme, die Naturkräfte bestimmen. Nicht ich verstehe, die Natur gibt mir etwas zu verstehen. In der Natur kommt immer alles von aussen auf mich zu – und ich muss es wahrnehmen und verstehen und mich entsprechend verhalten. Der urbane Mensch dagegen geht häufig von der Prämisse aus, dass er die Sache versteht, bestimmen und nach seinen Bedürfnissen gestalten kann. Für diese Mehrheit der heutigen Menschen ist die Natur im Selbst- und Fremderleben weggerückt. Der urbane Journalist Constantin Seibt fasst dies treffend im Satz zusammen: «Natur. Wann immer ich in unberührter Natur war, fühlte ich, wie sie mir nach dem Leben trachtete: im Hochgebirge, im offenen Meer, im Dschungel – dieser ist ein einziger grüner Magen. Schön ist die Natur nur als Park, Poster oder Tierfilm.» (Seibt 2024)

Fazit: Gott ist tot. Die Natur ist weg.
Was übrig bleibt, ist das Ich und das Du

13.9.3 Der Mensch und sein Verhältnis zum Du

Nach dem Verlust der göttlichen Führung und dem Verlust des innerlich erlebten Bewusstseins, Teil der Natur zu sein, erleben viele Menschen in der heutigen Kultur nur noch das ICH und das DU. Das heisst auch, dass die eigentliche Schwelle und die Herausforderung des 21.Jahrhunderts zwischen dem ICH und dem DU liegt.

Der Mensch ist zurückgeworfen auf die zwei Fragen Wie geht es mir mit mir? und Wie geht es mir mit dir? Es geht in unserer Kultur um die Einsicht, was das Du für das Ich an Bedeutung hat.

Abb. 39: Das Ich und das Du als neue Herausforderung im 21. Jahrhundert

Scharmer bezeichnet die Ich-Du-Beziehung als Kernproblem des 21. Jahrhunderts. Als spirituelles Problem erachtet er dabei den Kampf des «Selbst versus das Selbst» (Scharmer 2013, 112), also den Kampf der Ego-Kräfte (Egoismus, Alltags-Ich) versus des Ich-Selbst, das «die höchste zukünftige Möglichkeit anstreben» soll. Um die weltweit vorhandenen sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Probleme zu lösen ist der Einzelmensch aufgerufen, das Primat der Transsubjektivität[2] als Kraft zu leben (vgl. Scharmer 2013, 112).

13.9.4 Das Ich und das Du bei verhaltensauffälligen Jugendlichen

Bei verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist Tatsache, dass die verbleibende Ich-Du-Beziehung keine tragfähige Basis bildet. Die Ich-Du-Beziehung weist durchgehend Störungen auf.

Im Gegensatz zu noch vor 20 bis 30 Jahren sind heute eigentlich alle Jugendlichen in stationären Institutionen (stark) verhaltensauffällig. Dies können verwahrloste, misshandelte, traumatisierte, oppositionelle, drogenabhängige dissozialisierte Jugendliche sein, in inneren Krisensituationen, in der Pubertät oder Adoleszenz oder in äusseren Konflikten mit den Eltern, der Schule oder dem Gesetz. Die Jugendlichen verfügen aufgrund von angeborenen Anlagen oder einer ungünstigen biografischen Entwicklung – meist frühkindliche Störungen oder familiäre Trennungen – nicht über ausreichend entwickelte Ressourcen um ihr Leben erfolgreich meistern zu können. Es gelingt ihnen nicht, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Mit ihren kommunikativen Defiziten, Beziehungsstörungen, einem schlechtem Selbstwert und tiefer Frustrationstoleranz führt dies bei Konflikten dazu, dass sie rasch ausrasten, verbal oder tätlich aggressiv reagieren respektive sich entziehen, auf ‹die Kurve› gehen oder sich selbst verletzen.

Ob verhaltensauffällig-delinquent oder verhaltensauffällig- psychiatrisch diagnostiziert: es sind Kinder und Jugendliche mit gestörten Bezügen, mit Beziehungsstörungen. Ursache dieser Beziehungsstörungen ist in den meisten Fällen der Verlust der primären Bezugspersonen durch Trennung, Scheidung oder Tod. Manchmal liegt die Ursache auch bei Eltern ohne Erziehungswille und –kompetenz oder in gewalttätigen, sexuellen Übergriffen. Die Folgen dieser Erlebnisse sind identisch: Das Vertrauen ins Du ist gestört oder hat sich ganz zurückgebildet.

Wie wirken sich Beziehungsstörungen auf das Denken, Fühlen und Handeln aus? Wenn wir das Verhalten dieser Kinder und Jugendlichen von den Phänomenen her betrachten, stellen wir fest, dass die Bewegungen ihres Ich auf das Du hin nicht angemessen ‹fliessen›. Entweder fallen diese Bewegungen zu stark aus und äussern sich als Distanzlosigkeit bis hin zur Aggression. Oder die Bewegungen fliessen nur eingeschränkt, sind auf Distanz bedacht, beziehungsvermeidend bis –ablehnend. Hinter diesen unterschiedlichen Phänomenen der Verhaltensauffälligkeit finden wir ein gleichartiges Leiden und eine identische Grunddiagnose: Das Ich erlebt das Du nicht als DU. Das Ich erlebt sich in einem Konflikt zum Du. Die vom Kind erlebten Beziehungen fliessen nicht, nähren nicht im Leben, werden nicht als verlässlich, nicht als helfend, nicht als unterstützend, bewahrend usw. erlebt. Je nach Kind entwickelt sich auf dieser erlebten Unsicherheit das Gefühl der Angst, Aggression, Ablehnung. Die Folge davon ist: Das Ich des Kindes oder Jugendlichen zieht sich vom Du zurück. Es ‹isoliert› sein Ich vom Du.

Fazit: Die grosse Mehrheit der verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen sind in einer grossen Distanz zu geistigen Inhalten und der Natur – und sie sind zudem in Distanz und Konflikt zum Mitmenschen. Vergegenwärtigen wir uns das in aller Deutlichkeit: Ein solcher Seins-Zustand bedeutet eine umfassende Isolierung als innere Verlassenheit und existentielle Einsamkeit (siehe Abb. 40).

Was haben wir als Ergebnis, wenn Kinder und Jugendliche sich aus Beziehungen zu den Mitmenschen und zur Um- und Mitwelt zurückziehen? Hier berühren wir das Grundproblem! Wer heute mit solchen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeitet, trifft die immer wieder gleichen Symptome und Syndrome. Die Komplexität der Psychodiagnostik von DSM-5 und ICD-10 vereinfachend, könnte man all diese Störungsbilder als Bindungs- und Beziehungsstörungen diagnostizieren.

Abb. 40: Das isolierte Ich des verhaltensauffälligen Kindes/Jugendlichen

Vom Wesen her handelt es sich immer um gestörte Beziehungen zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zur Umwelt. In allen Fällen ist eine Identifikation mit der Erwachsenenwelt, den erwachsenen Bezugspersonen der Familie, den Lehrpersonen, im weiteren Sinn mit den Zielen, Normen und Werten der Gesellschaft missglückt. Ebenso liegen den einzelnen Verhaltensweisen wie Gewalttätigkeit, destruktives oder selbstverletzendes Verhalten, Drogenkonsum, Leistungsverweigerung, Depression, Psychose, Borderline immer gestörte Beziehungen zu sich selbst und zu den Mitmenschen respektive zur Um- und Mitwelt zugrunde.

Die Frage, weshalb Bindungs- und Beziehungsstörungen bei Kindern und Jugendliche stark zugenommen haben, ist einfach zu beantworten: Kinder und Jugendliche entwickeln sich in der Gesellschaft, die ihnen die Erwachsenen bereitstellen. Das heisst: unsere Gesellschaft bietet Kindern und Jugendlichen eine breite Palette an Beziehungsstörungen.

Betrachten wir beispielhaft einige Phänomene, unterziehen sie einer Analyse und stellen am Schluss den Befund.

Beispiel Banken: Verschiedene Banken und Banker betreiben seit einigen Jahren einen egoistischen Casinokapitalismus, der Menschen weltweit schädigt und der in vielen Ländern zu Armut und Hunger führt. Die Analyse solcher Handlungen zeigt eine egoistische Haltung der persönlichen Gewinnoptimierung auf Kosten anderer Menschen auf. Sozial kompetente und verantwortungsvolle Menschen begehen nicht solche Handlungen. Diese Verantwortungslosigkeit und soziale Inkompetenz ist Ausdruck von Beziehungsstörungen.

Beispiel Wirtschaft: Auch wenn in der Presse quartalsweise die Wirtschaftsgewinne von nationalen oder globalen Playern hochjubelt werden bleibt die Tatsache bestehen, dass diese Gewinne von einigen wenigen Menschen privatisiert und die Kosten sozialisiert, auf die Gesellschaft übertragen werden. Die dafür verantwortlichen Manager leiden mehrheitlich an teilweise massiven Beziehungsstörungen.

Beispiel Politik: Wenn Politiker mit beispielsweise Versicherungsgesellschaften und der Bauwirtschaft ihre Pakete schnüren und reine Rendite- und Gewinnmaximierungsbauten auf Kosten der Gemeinschaft und der Natur bauen, können sie dies nur tun, weil sie Partikularinteressen vor Allgemeininteressen stellen.

Selbstverständlich gibt es viele selbst- und fremdverantwortliche Banker, Wirtschaftsführer, Politiker auf der Welt, die wertvollste Arbeit leisten. Nichtsdestotrotz ist es kein Zufall in der Politik, dass Staaten auf der ganzen Welt alte weisse Männer wie Trump, Erdogan, Putin, Netanjahu, Xi Jinping als Staatspräsidenten haben, die – psychodiagnostisch betrachtet – absolut egoistisch Machtpositionen einnehmen, um ihre massivst ausgeprägten Beziehungsstörungen ausleben zu können. Während das Verhalten des früheren Staatspräsidenten Berlusconi einer gewissen Tragikomik nicht entbehrte, kann es, wie beispielsweise bei Putin oder Netanjahu, rasch höchst gefährliche Dimensionen annehmen.

Hinter Egoismus, Ausbeutung, sozialer Verantwortungslosigkeit oder Machtmissbrauch, Unterdrückung, Krieg stehen immer Verantwortliche mit Beziehungsstörungen. Es ist heute davon auszugehen, dass ein grosser Teil der Manager, Banker, Wirtschaftsplayer und Politiker an Bindungs- und Beziehungsstörungen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur Natur leidet. Dies ist mit ein Grund, dass sie sich in diese Positionen hinaufgearbeitet haben: ihr Leiden kompensieren sie durch Macht und materielle Güter. Messen wir die Menschen an ihren Taten: Wer andere Menschen wiederholt und absichtlich schädigt oder die Lebensgrundlagen des Menschen und damit der eigenen Kinder zerstört, leidet unter schweren Beziehungsstörungen!

Es sollte für uns Erwachsene doch nachvollziehbar und verständlich sein, dass heranwachsende Kinder und Jugendliche in einer solchen Gesellschaft vermehrt an Bindungs- und Beziehungsstörungen leiden.


[1]     Diese Grundideen und -inhalte stammen von Herrn Bodo von Plato. Sein Vortrag «Der Mensch an der Schwelle» vom 13. Oktober 2013 an der Konferenz für Heilpädagogik und Sozialtherapie ‹Innere Entwicklung im beruflichen Leben› am Goetheanum Dornach hat mich sehr inspiriert und zu Weiterentwicklungen und die Adaptionen auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche angeregt.

[2]     Transsubjektivität bedeutet: die Fähigkeit, von eigenen (egoistischen und damit untergeordneten) Teilinteressen abzusehen. Das Ziel ist, dass die Menschen versuchen, Orientierungen für eine vernünftige Gemeinsamkeit des Handelns zu gewinnen, so dass eine über jede Subjektivität hinausgehende Gesamtsituation das menschliche Handeln begründet.