Der Unterricht folgt dem didaktischen Modell des Fitness-Studio, wie es Bröcher (2003, 105) formuliert: «Es gibt eine grosse allgemeine Trainingsfläche mit einer Vielzahl von Geräten, die individuell oder in kleinen Gruppen bedient werden können. Jeder stellt sich sein persönliches Programm zusammen. Jeder entscheidet selbst, wie viel Gewicht an einem bestimmten Gerät aufgelegt wird, wie viele Wiederholungen bei einer speziellen Bewegung vorgenommen werden. Trainingsziele werden individuell festgelegt. Manche kommen mit einem sehr klaren persönlichen Plan zum Training. Andere, die noch etwas unklar sind, lassen sich beraten. Wer auf der Trainingsfläche selbst mehr Instruktionen und Hilfestellung benötigt oder wünscht, kann diese durch die Trainer erhalten, die zur Verfügung stehen und frei flottierend unterwegs sind.»
Die Verantwortung liegt je und ganz bei den einzelnen Schüler:innen. Dazu gibt es nicht ein Modell oder eine Didaktik. Aber es gibt Anregungen, historisch vor allem aus der Reformpädagogik. Wohl als einer der ersten beschrieb Hugo Gaudig (Reformpädagoge der ‹Arbeitsschulbewegung› und Rektor der Höheren Mädchenschule mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar in Leipzig) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Selbständigkeit der Schüler:innen bei Lernprozessen. Nach Gaudig steht die Schule ganz im Dienst der werdenden Persönlichkeit der Schüler:innen, die selbsttätig sein müssen bei der Zielsetzung, beim Ordnen ihres Arbeitsganges und in ihrem Arbeitstempo (Gaudig 1904, 1917).
Wie unterrichtet man Schüler:innen, die aus der öffentlichen Schule dispensiert wurden, die von aussen vor allem Kritik, ungenügende Leistungen und Versagensgefühle erlebt und in ihrem Schulfrust innerlich schlussendlich eine Schulverweigerung aufgebaut haben? Anders gefragt: Wie ist eine heilende Schule zu gestaltet, die solche Jugendliche wieder zu Selbstwerterlebnissen, Motivation und Leistung führen kann? Die Antwort ist einfach: Alles muss anders gestaltet sein, als das bisherige. Denn wenn die Schule wieder althergebrachte Schule ist, erleben die Jugendlichen lediglich eine Reaktivierung der negativen Gefühle, machen eine Neuinszenierung ihrer Erlebnisse. Die Schule muss ganz anders sein. Oberstes Ziel des Unterrichts ist die Entwicklung und Stärkung der Selbstwertgefühle der Schüler:innen (vgl. Störmer 2003, 125). Das bedeutet auch: Der Aufbau der schulischen Leistungen als innere Leistungsbereitschaft wird erst später fokussiert.
Wir bedienen uns der konstruktivistischen Erkenntnisse und konstruieren für die Schüler:innen eine geeignete Lernumwelt: 2-3 Schüler:innen, die ihre Fortschritte selbst konstruieren. Dabei werden kognitionspsychologisch die Vorgänge des Unterrichtens, des Belehrens, des Erziehens, des Helfens, des Bildens nicht voneinander unterschieden. Eine solche Unterscheidung ist beim Unterrichten von dissozialisierten Jugendlichen nicht sinnvoll. Denn alle diese Vorgänge können – gerade in ihrem Zusammenwirken – als Mittel zum Aufbau kognitiver Strukturen genutzt werden.
Bei den Angeboten bedienen wir uns an der Erwachsenenbildung. Wer das Programm der Volkshochschule oder der Migros-Klubschule durchblättert, staunt über das breite Angebot: neben den Standardkursen wie Sprachen lernen, Mathematik, Buchhaltung, Computerkurse Tanz, Fitness, Aerobic hat es auch Meditationslehrgänge, Feng-Shui, Schminken, Theater, Malen, Zeichnen usw. Für die Nacherziehung können wir zwei Inhalte übernehmen: erstens ist das Lernangebot ungemein viel breiter als in der Volksschule und die Kursteilnehmer:innen wählen selbstverantwortlich ihre Lerninhalte aus. Zweitens haben die Kursleiter:innen mit einer viel grösseren Bandbreite der Voraussetzungen zu rechnen als der Lehrer im üblichen Schulunterricht. Die Lehr- und Verlaufsplanung erfolgt in stärkerer Abhängigkeit von der Nachfrage der Teilnehmenden. Das Stichwort für diesen Ansatz der Erwachsenenbildung lautet Teilnehmerorientierung und gilt als deren Spezifikum.
Im Weiteren bedienen wir uns bei Pestalozzi (vgl. Kap. 4.2 Pestalozzi). «Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, sondern nur mit ihm selbst.» Denn letztendlich muss jeder Mensch «das Werk seiner selbst» werden. Jedes Kind hat seine eigenen Chancen, Lernerfolge und Krisen, sein eigenes Lerntempo. Nicht abstrakte Klassenziele sind gefordert, sondern konkrete individuelle Ziele. Das sind die Grundlagen, die Pestalozzi als ‹sittliche Erziehung› beschrieben hat. Der Begriff ‹sittliche Erziehung› ist sicherlich nicht mehr zeitgemäss – ebenso wenig der Begriff ‹moralisch-sittliche Erziehung›. Aber es gilt heute wohl mehr denn je die Einsicht, dass die Welt nicht einfach durch mehr Wissen gerettet werden kann, sondern durch vermehrte Sittlichkeit und verstärkte moralische Kräfte. Das sind Persönlichkeitseigenschaften, die immer nur individuell in jedem einzelnen Menschen entwickelt und ebenso individuell aus ihm wirken können. Dazu drei Zitate von Pestalozzi:
«Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nicht in der Massa, sondern individualiter von Angesicht zu Angesicht menschlich. Die Menschenbildung und alle ihre Mittel sind in ihrem Ursprung und in ihrem Wesen ewig die Sache des Individuums und solcher Einrichtungen, die sich eng und nahe an dasselbe, an sein Herz und seinen Geist anschliessen. Sie sind ewig nie die Sache der Menschenhaufen, sie sind ewig nie die Sache der Zivilisation.» (Pestalozzi: 1815, Bd. 24A, S.19).
«Die Idee der Elementarbildung …. ist nichts anderes als die Idee der Naturgemässheit in der Entfaltung und Ausbildung der Anlagen und Kräfte des Menschengeschlechts.» (Schwanengesang 1825, Bd. 28, S.57)
«Am meisten aber widerstrebte ihnen (andere Lehrer) der Gedanke und die Möglichkeit seiner Ausführung, keine künstliche Hilfsmittel, sondern bloss die die Kinder umgebende Natur, die täglichen Bedürfnisse und die immer rege Tätigkeit derselben selbst als Bildungsmittel derselben zu benutzen. Und doch war es eben dieser Gedanke, auf den ich die ganze Ausführung meines Unternehmens gründete. Er war auch der Mittelpunkt, an den sich eine Menge anderer Gesichtspunkte anreihte und gleichsam daraus entwickelte.» (Pestalozzi, 1797, PSW Bd. 13, S. 1-32).
«Der Mensch als Masse hat keine Tugend, nur das Individuum hat sie. Der Staat als solcher hat keine, er hat nur die Kraft, die Tugend der Individuen zu benutzen.» (Pestalozzi, 1981, S. 165)
Zugegeben: Schulen, welche heute eine ‹sittliche Erziehung› als eines ihrer Erziehungsziele bezeichnen würden, hätten es schwer in unserer von Fortschritt und Lernleistung getriebenen Kultur. Etwas provokativ ausgedrückt: Aber eine Schule wie die Fattoria Gerbione, die verhaltensauffällige, dissozialisierte, von der Schule verwiesene oder dispensierte Jugendliche unterrichtet, darf fast alles. Sie darf sich auch auf eine sittliche Erziehung von Pestalozzi berufen. Denn alle Eltern und einweisenden Behörden sind einfach nur froh, wenn die Jugendlichen überhaupt die Schule besuchen, etwas lernen und sich entwickeln.
Beispiel der Individualisierung im Fach Mathematik
Am Fach Mathematik zeige ich exemplarisch einige Inhalte und die Methodik unseres internen Schulunterrichts auf. Für mich war es immer wieder eine persönliche Herausforderung, unseren Schüler:innen Mathematik und mathematisches Denken zu unterrichten. Denn viele Jugendliche – und in der grossen Mehrzahl die weiblichen – haben von ihren bisherigen Schulerfahrungen her das Grundgefühl in sich entwickelt: «Ich bin dumm», «Ich kann nichts», «Schule ist Scheisse – und Mathe ist sowieso Scheisse.». Dass Schüler:innen zu solchen negativen Selbstbildern und Urteilen kommen ist ja eigentlich jenseits einer heutigen zeitgemässen Pädagogik.
Wie bei jedem Unterricht stellt sich primär die Frage: Was ist das Ziel, was ist der Sinn des Unterrichts – hier: des Mathe-Unterrichts? Welche Mathematik meine ich und welche ist nicht gemeint? Gemeint ist die Mathematik im Platonischen Sinne, also als eine Wissenschaft des Geistes – und nicht gemeint ist: einen Lehrplan der Mathematik möglichst rasch und zu vermitteln, effizient die Lehrinhalte zu üben – als eine hohle Fähigkeit des Drills, des Rechnens und Vermessens – und das Ganze mit einer Schlussprobe abzuschiessen.
Platon hat in seinen Dialogen die ‹Logistik› (Rechenkunst) – zusammen mit der Philosophie – als die erhabenste Betätigung des menschlichen Geistes beschrieben, welche die Formung edelster menschlicher Eigenschaften fördere. Über den Eingang seiner berühmten Akademie setzte er die Worte: «Kein Nichtmathematiker soll Eintritt haben!»
Was ist denn das Besondere der Mathematik für dissozialisierte Jugendliche in der Pubertät und Adoleszenz? Sie leben aufgrund vieler Verletzungen, unverstandenen und unverarbeiteten Erlebnissen in ihrem subjektiv-emotionalen Weltzugang, erleben sich als Opfer und Täter und kreisen endlos in den Tiefen ihres wogenden Seelenlebens.
Dagegen ist alles mathematische Denken und Erkennen klar, durchsichtig, übersichtlich, mit Denken und Willen erfassbar und verstehbar. Mathematik hebt diese Jugendlichen weg von ihren Gefühlen, ihrem Leiden, führt sie exemplarisch zu einem klareren Denken und aktiveren Willen. Ich habe den Matheunterricht immer als ‹therapeutische Mathematik› bezeichnet, mit dem Ziel, den Jugendlichen positive Selbsterfahrungen zu ermöglichen wie «Ich kann lernen», «Ich kann klar denken», «Ich kann ein Problem lösen», «Ich kann etwas erreichen, wenn ich mich einsetze und dranbleibe». Es ist ja eigentlich die Aufgabe der Unterrichtenden, ihre Schüler:innen zu solchen Erfahrungen und Erlebnissen heranzuführen – indem man mit ihnen beispielsweise mathematisches Denken übt. Gerade verhaltensauffällige Jugendliche müssen die Gelegenheit erhalten – immer mal zwischendurch – über ihr wogendes Seelenleben hinauszukommen und dafür klare Lerninhalte, überschaubare Vorstellungen, neue Denkerfahrungen und Erlebnisse in sich aufzunehmen. Mathematik ist ein Fach, das die Kräfte der Aufmerksamkeit von sich wegwendet. Im Mittelpunkt des Bewusstseins steht eine klar umrissene Aufgabe, welche durch Denk- und Willenskräfte gelöst werden kann.
Kehren wir zurück zur Ausgangssituation: eine Schülerin hat in der Schule die Erfahrung gemacht, dass sie dumm ist, dass sie nichts lernen kann und Mathe Scheisse ist. Nach rund 1½ Jahren Unterrichtsabstinenz hat sie sich aber entschieden, einen Schulabschluss nachzuholen. Sie weiss: Ohne Schulabschluss und Lehre habe ich in dieser Gesellschaft keine Zukunft. Auf diesem Denken in die Zukunft können wir aufbauen. Und diesen Willen in der Gegenwart können wir nutzen. Aber wir müssen taktisch etwas geschickt vorgehen, damit daraus ein Unterricht werden kann. So stelle ich es beispielsweise der Schülerin grundsätzlich frei, die Mathe zu besuchen. Wenn sie Matheunterricht will, muss sie mir dies explizit mitteilen. Das ist als Ausgangslage wichtig: sie hat JA gesagt, sie will Mathe lernen! Dann kann gemeinsam diskutiert werden: In welcher Klasse will ich einsteigen? Welche Mathebücher wähle ich? Mit welchem Stoff will ich beginnen? Das entscheidet alles die Schülerin; ich begleite und berate sie.
Den Unterricht beginnen wir mit einem einfachen Lernstoff, den die Schülerin auswählt: wir wiederholen, erarbeiten und erüben die Inhalte. Sie entscheidet, ob und wie viele Matheaufgaben sie in ihrer Freizeit machen will. Wenn sie nach einigen Wochen diesen Lernstoff erarbeitet hat, sich innerlich in diesem mathematischen Denken sicher fühlt, teilt sie mir dies mit. Dann vereinbaren wir zusammen einen Termin, an dem sie diesen Stoff mit einer Probe abschliessen kann. Selbstverständlich mache ich zuerst immer einige recht leichte Proben. Das primäre Ziel ist: die Schülerin muss ein positives Erlebnis haben – zumindest eine genügende Note erreichen. Wenn sie trotzdem mit ihrer Note unzufrieden ist, kann sie weitere Übungen machen und dann nach zwei bis drei Wochen erneut einen Abschlusstest. Da erreicht sie in der Regel eine gute bis sehr gute Note.
Es sind solche Prozesse, die zu kreieren die Pädagog:innen aufgerufen sind: die Schülerin hat alles ‹im Griff›, – sie bestimmt selbst die Inhalte, das Vorgehen, die Dauer – und am Schluss erlebt sie ein positives Resultat, das ihr Selbsterleben, ihre Selbstwirksamkeit fördert.
Ich habe oft erlebt, wie eine Schülerin in der Pause mit der soeben zurückerhaltenen Probe in die Küche springt und allen Anwesenden Freude strahlend mitteilt: «Ich habe in der Matheprobe eine 5 gemacht!» Bei solchen freudigen Ich-Erlebnissen ist dann schon eine wichtige Grundlagenarbeit geleistet.
Erst nach und nach, im Verlauf einiger Monate, kann die Schülerin sich dann an neuen Mathestoff wagen, die Aufgaben regelmässiger und selbständiger erledigen und dadurch schnellere Fortschritte machen. Dann kann ich als Lehrer langsam die Schwierigkeit der Proben anheben.
Mit diesem Vorgehen erreichen wir als Lehrer:innen, dass die Schüler:innen am Stoff und den Prüfungen wachsen können! Sie müssen wiederholt grosse Freude und Selbstbestätigung erleben, eine genügende Note oder gar eine 5 oder 6 in Mathe erreichen zu können. Solche Erlebnisse wirken auf die eigene Selbstwahrnehmung sehr positiv: Ich kann es! Das sind neue Erlebnis für das Gehirn – da werden wunderbare Synapsen aktiviert und gestärkt, da werden neue neuronale Bahnen angelegt, die zusammen letztlich zu gewünschten Verhaltensänderungen führen.
Ein pädagogisches Nebenprodukt dieses Vorgehens ist zudem: durch den Aufbau von Selbstwertgefühl können die Jugendlichen ihr angelerntes oppositionelles Verhalten langsam reduzieren und werden sozial verträglicher und sozial kompetenter. Wenn sie wiederholt die Erfahrung erleben: «Hier werde ich unterstützt und gefördert» können sie beginnen, vermehrt Beziehungen zuzulassen. Sie werden zudem innerlich entspannter und aktiver – anstelle der früher angelernten passiven oder reaktiven Willensäusserungen.
Eine sehr wichtige Frage in diesen Prozessen, mit der sich auch der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen (2007, 175) beschäftigt hat, ist: «Wie weit kann ich als Lehrer:in den Selbstorganisationsprozess im Unterricht den Jugendlichen überlassen?» Ich habe Jugendliche erlebt, die sich nach einigen Monaten – oft mit Vorteil zu zweit – absolut selbst zu organisieren begannen. Es ist mir aber auch passiert, dass Jugendliche mir plötzlich durch die Maschen gefallen sind, weil ich ihrer Entwicklung gegenüber nicht aufmerksam genug war in meiner Rolle als Fitness-Trainer und Coach.
Schulabschlüsse von minderjährigen Jugendlichen nach IVSE-A: 2004 bis 2018 In der Gruppe IVSE-A unterrichteten wir zwischen 2004 und 2018 total 35 Schüler:innen in der internen Schule. Das von ihnen formulierte Ziel war, bei ihrem Austritt einen regulären Schulabschluss auf der Sonder-, Real- oder Sekundarstufe zu erreichen, respektive eine Lehre durchzuziehen. Vor dem Eintritt in die Fattoria waren diese Schüler:innen im Durchschnitt während 1½ Jahren ‹schulabstinent› gewesen – meistens, weil sie in den vorherigen Schulen von einer offiziellen Behörde vom Unterricht ausgeschlossen worden waren. Von den 35 Schüler:innen erarbeiteten sich 5 auf Sonderschul-, 13 auf Realschul- und 15 auf Sekundarschulniveau die Lerninhalte, plus 2 waren 2018 in externen Lehrverhältnissen. Die Schüler:innen erreichten ihren regulären Schulabschluss, nach durchschnittlich 21.4 Monaten Aufenthalt. 8 Schüler:innen machten einen Abbruch, nach durchschnittlich 12.8 Monaten Aufenthalt. |