14.11 Stärkung der 4 Wesensglieder

In der Fattoria Gerbione versuchen wir in den 5 Phasen des Aufenthaltes (Abb. 41) die 4 Wesensglieder der menschlichen Organisation (Abb. 33 und 34) gezielt zu stärken. Einen inhaltlichen Eindruck dieser Aktivitäten kann die nachstehende Aufzählung vermitteln.

Einen mehr bildhaft-emotionalen Zugang zur Vielfalt der Tätigkeiten veranschaulicht die Fotogalerie.

Stärkung der Physischen Organisation:

  • Jegliche Körperliche Bewegung: Fahrrad fahren, wandern, schwimmen, klettern, Fitness, Sport, Fussball, Einrad fahren, Holzspalten, Reiten, Reittherapie
  • Kreative Aktivitäten wie malen, zeichnen, basteln
  • Sinneserfahrungen, z.B. beim Tastsinn: Handwerkliche Tätigkeit in der Holzwerkstatt, Bildhauerei, Töpferei, in Garten und Küche
  • Erlebnispädagogische Aktivitäten: spazieren, Lager in Bergen oder Meer; Inselwochenende, Segelwochenende, Kletterwochenende, …
  • Beziehung zum Körper: Körperpflege, Hygiene, Massage, Tanz, Beauty-Abende, Fitnessgeräte, Pflege erfahren bei Krankheiten, Osteopathie, Cranio Sacrale Therapie
  • Zimmerpflege (Putzrunde, Wohnschule, Hauswirtschaft)
  • Eigene Wäsche waschen, bügeln, einräumen
  • Esskultur: Bioprodukte, Gartenarbeit: vom Pflanzen, über das Pflegen, Ernten bis zum Essen, Eier von eigenen Hühnern inkl. Hühnerämtli;
  • Gemeinsame Bauprojekte, Gartenprojekte als gemeinsame Tätigkeitserlebnisse

Stärkung des Lebensleibes:

Jegliches Leben verläuft rhythmisch. Deshalb arbeiten wir bewusst mit rhythmischen Wiederholungen, um die Lebenskräfte und den Willen und damit auch die Leistungskräfte zu stärken:

  • Tages-/ Wochen-/ Jahresrhythmen mit Ritualen vermitteln Sicherheit, Halt und Orientierung. Beispiele:
    • Jahreszeiten mit Jahresfesten feiern
    • Eintrittsrituale
    • Austrittsrituale: Bäumchen pflanzen, eine gelingende Zukunft wünschen und auf diese gemeinsam anstossen
    • Geburtstage, Jubiläen, Jahrestage feiern
    • Wanderlager in den Tälern des Tessin
    • Ein regelmässiger, wöchentlich sich wiederholender Dienstplan aller Mitarbeitenden gibt den Bewohner:innen Konstanz und Sicherheit. Jeder Wochentag erhält so durch die dann anwesenden Mitarbeitenden ein eigenes ‹Gesicht› (vgl. Kap. 14.8).
    • Gemeinsame Morgenrunde von Montag bis Freitag, mit klarem Ablauf (Infoteil, Abwesenheiten, Besuche, …) und einem wöchentlich wechselnden Spruch zum Abschluss
    • Drei Mahlzeiten pro Woche mit Fleischbeilage
    • Strukturierung des Tagesablaufes (klare Tätigkeiten, Esszeiten, Mittagsruhe, Bett-Zeit, Nachtruhe)
    • Regelmässiger Wochenplan mit sich rhythmisch wiederholenden, gleichbleibenden Tätigkeiten, Inhalten, Erlebnissen
    • Wiederkehrende Strukturen an den Dableibwochenenden:
      • Ämtli (wie Haus putzen) am Samstag, Zopf am Sonntag
      • Pizzaofen einfeuern, Pizzateig herstellen, Zutaten einkaufen, alle bereiten sich ihre eigene Pizza zu, die im Holzofen gebacken wird
    • Wöchentliche Fattoria-Sitzung der BewohnerInnen mit Rückblick und Vorausblick, mit Höhepunkten der Woche und Problemlösungen
  • Konstante Bezugspersonen
  • Bezug zu Tier- und Pflanzwelt (Katzen, junge Katzen, Hühner, Küken, Hund, Hasen, Gemüsegarten, Schulgarten, Fruchtbäume)
  • => Alles was «Sinn» macht, was wir verstehend erleben, wirkt stärkend auf unseren Lebensleib. Erkennen, Wiedererkennen und Verstehen baut Ängste und Unsicherheiten ab
  • => Wir versuchen die Bewohner:innen in praktische und sinnvolle Aktivitäten einzubeziehen und ihre Handlungskompetenz laufend zu stärken: Kochen, Abwaschen, Abtrocknen, Küche putzen, eigene Wäsche waschen, Zimmer in Ordnung halten, für eine Mahlzeit einkaufen, Abfall ökologisch entsorgen, Grünabfälle in Kompost, …

Stärkung der Psychisch-seelischen Organisation:

  • Intensive Begegnungen mit andern Bewohner:innen durch das gemeinsame Wohnen und Leben, Arbeiten und Essen im Haus
  • Liebevolle Akzeptanz der Bewohner:innen in ihren teilweise sehr ausgeprägten Ich- und Persönlichkeitsverirrungen
  • Das Bedürfnis der Bewohner:innen nach Aufmerksamkeit, Anerkennung, Teilhabe und Abgrenzung anerkennen
  • Immer wieder neue Inhalte, Erlebnisse und Erfahrungen anbieten und damit möglichst neue Interessen und Bemühungen ermöglichen
  • Spannungen ansprechen, mit der Zeit bewusster machen und dann durch Bewegungsarbeit, bewusstem Verstehen oder kreativen Aktivitäten abbauen
  • Im täglichen Zusammenleben die Beziehungspflege, d.h. Beziehungskompetenz üben, üben, üben. Aber auch verlässliche Beziehungen erleben und selbst Beziehungen einzugehen versuchen.

Stärkung der Ich-Organisation:

  • Selbstvertrauen/Selbstwertgefühl stärken durch positive Feedbacks, und Komplimente. Nach eigenen Stärken und Qualitäten suchen, diese bewusst in sich wahrnehmen und ausbauen
  • Selbstbild und Vertrauensbildung definieren, üben und stimulieren.
  • Im Alltag sollen die Mitarbeitenden mit ihrem Ich-Verhalten als Vorbild wirken
  • Im Unterricht und in den Bewohner:innen-Sitzungen werden ethische und philosophische Fragen besprochen – ebenso Fragen nach Moral, Idealen, Werten anhand eigener Lebenserfahrungen
  • Potenziell ‹schwierige Situationen› wie Heimgehwochenende, Standortbestimmungen, Ausflüge, Theaterbesuche, …. werden vorbesprochen => Das Ich soll lernen, Situationen zu leiten und nicht irgendwelche Gefühle sollen mein Verhalten bestimmen
  • In den Wochengespräche werden die Erlebnisse und das Verhalten im Alltag – aus Distanz – nachbesprochen. Das ergibt Lernmöglichkeiten, die Gefühlswelt mit der Zeit besser zu regulieren, die Begierden, Triebe, Aggressionen auch mal zu zügeln. Das Ich soll mit der Zeit fähig werden, die Gefühle besser ‹im Griff› zu haben
  • Bewusstmachen von irgendwann angelernten Gewohnheiten und von irgendwelchen Meinungen des Alltags-Ich
  • Werte und Normen als geltende Grundsätze verstehen und dann lernen, sich an Regeln zu halten
  • Umgang mit den Mitmenschen im Alltag überprüfen und allenfalls anpassen: auch mal selbst ein Vorbild sein, Verantwortung übernehmen, zuverlässig sein, Diskussionen eingehen und nicht einfach abblocken und davonlaufen
  • Wünsche, Ideale werden herausdestilliert und als Zielsetzungen ernst genommen. Aber sie werden in handhabbare Ziele formuliert. Ziele des Ichs werden verwandelt in entsprechendes Handeln
  • Psychotherapie bei Psychiaterinnen oder Psychologen ausserhalb der Fattoria sind eine wichtige neutrale externe Instanz – und für alle ‹Internen› auch eine Kontrollinstanz
  • Wir versuchen mit den Bewohner:innen zusammen ihr Verhalten zu ‹verstehen›, damit wir es zusammen ändern lernen
  • Das Ich ist eine verstehende Instanz. Im Gegensatz zum Tier verfügt das menschliche Ich über die Möglichkeit der Selbstreflexion – und damit über die Möglichkeit das eigene Verhalten zu ändern.

Mit diesen breiten Angeboten ist es uns im (Nach-) Erziehungsprozess immer wieder gelungen, mittel- und längerfristig psychisch-seelische Dispositionen zu beeinflussen und zu verändern. Kurzfristige Änderungen im Verhalten sind hier nicht gemeint und waren auch nie unser Ziel.

So haben wir doch einigen jungen Menschen helfen können, sich zu stabilisieren, eine Richtungsänderung in ihr Leben zu bringen und ein Leben innerhalb – oder halt auch nur am Rande – der Gesellschaft zu führen.