Alle Ausführungen der Kapitel 1-12 beleuchteten verschiedene Zugänge und Bedingungen, die zu einem pädagogischen Gelingen in der Nacherziehung beitragen.
Klar ist: eine heilende Erziehung muss sich immer auch an den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen orientieren. Und seit einigen Jahren scheint das zentrale Problem von Jugendlichen in unserer postmodernen Welt zunehmend das Gefühl der Unsicherheit und Desorientierung zu sein. Sie finden sich in einer unübersichtlichen, mit Möglichkeiten, Informationen und Reizen überfüllten Welt – die ja letztlich in vielem eine Scheinwelt ist, die keine nährenden Beziehungen bietet. Gerade emotional sensiblere Jugendliche fühlen das deutlich und sie ‹verweigern› sich diesem gesellschaftlichen Lebensentwurf.
Was brauchen also heute die Kinder, damit sie zur Fülle ihres Daseins gelangen? Wie sind sie zu unterstützen, damit sie trotz Einschränkungen und Erschwernissen auf ihrem Weg in die Welt ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten ausschöpfen und sie, ihren Vorstellungen entsprechend, ihre Biografie leben können? Welche Voraussetzungen sind dafür zu schaffen?
Das Wichtigste ist zunächst, dass sie einen oder ein paar Erwachsene haben, die ihnen ein echtes Beziehungsangebot machen, damit sie in eine tragfähige Beziehung kommen können. Diese kann nur entstehen, wenn Pädagog:innen tatsächlich präsent sind und die Bereitschaft haben, die Ganzheit ihres Wesens einzubringen. Das, was Not tut, das, was das Kind zum Heilwerden braucht, muss im Fokus stehen. Heil ist hier nicht im Sinne der Medizin zu verstehen, sondern im Sinne eines Wohlbefindens, das trotz eines erschwerten Entwicklungszustandes möglich ist.
Eine heilende Erziehung wird primär durch eine echte, tragfähige, verlässliche Beziehung ermöglicht, die aus- und standhält aber auch Grenzen setzt und zugleich Raum gibt für neue Erfahrungen. Das heisst unter anderem: Für die Pädagog:innen ist jedes Kind und jeder Jugendliche ein werdendes wertiges Subjekt (und nicht ein Objekt, das es zu erziehen gilt!). Zudem müssem die Pädagog:innen in den ersten Monaten Projektion aushalten können, mit Geduld und Ausdauer als Hilfs-Ich den Weg des Kindes/Jugendlichen begleiten. Sonst gelingt keine pädagogisch tragfähige, heilende Beziehung.
In Anlehnung an Lotz ‹Aphorismen zur Heilpädagogik› (1991) ist Heilpädagogik – und damit Nacherziehung – «die Lust am Unfertigen, Ungewissen, am Ungeahnten. Im Moment des Nicht-mehr-weiter-Wissens – innehalten, Staunen über das Unfassbare, um sich dann Zeit zu lassen für Schöpferisches und vielleicht einem Werte-Wandel. Das Tempo, mit dem oft Veränderungen erzwungen werden will ist meist nicht einzuhalten. Symptome oder Probleme sollen schnellstens verschwinden. Erkennen und Handeln haben aber eine eigene Dynamik. In unserem Zeitalter der Geschwindigkeit geraten unsere Bemühungen, die eben Zeit brauchen, zum Kontrast. Erfolgsdruck ist häufig gepaart mit Zeitdruck. Stressoren dieser Art sind in der heilenden Pädagogik fehl am Platz. Wachsen braucht Zeit ebenso wie der Gewinn tragfähiger Lebenswerte.»
Wenn Nacherziehung einfach ein methodisches System wäre, zielte es ab auf Menschen mit Symptomen, die vorher formal korrekt diagnostiziert wurden. Weder Symptomkategorien noch Diagnosen können je umfassend sein: der Mensch ist nicht identisch mit seinem Symptom. Jedes Schicksal hat seine eigene Genese und jeder Lebensvollzug seine eigenen Kontexte: Jedes Problem hat sein eigenes System und Netzwerk. Wir brauchen folglich in der Nacherziehung Methoden der Improvisation, Mut, zum Versuch beziehungsweise sich dauernd anpassende Übungsanordnungen um dem sogenannten ‹schwierigen Einzelfall› – respektive diesem werdenden Menschen – gerecht zu werden.
In der Vergangenheit war Erziehung als Strategie einfach: sie basierte auf Belohnung und Bestrafung.
Die Erkenntnisse der Neurobiologie zeigen aber inzwischen klar auf, dass wir beim Kind, Jugendlichen und Erwachsenen möglichst ein Erlebnis erzeugen müssen. Also müssen Pädagog:innen Erlebnisse kreieren, die ein positives oder gar neues Gefühl auslösen! Erst wenn Pädagog:innen Kinder und Jugendliche einladen, ermutigen und inspirieren, damit diese neue und positive Erlebnisse überhaupt zulassen können, wird ein stationärer Aufenthalt bedeutsam für diese werdenden Individuen – und es kann dann allmählich Veränderung geschehen. Wenn man herausfindet, wie man positive Erlebnisse auslöst, hat man nach Gerald Hüther (2013) ‹das Geheimnis des Gelingens›.
Das Gelingen als solches ist ein sich selbst organisierender Prozess. Wir müssen als Pädagog:innen eigentlich nur dafür sorgen, möglichst optimale Bedingungen zu kreieren: einen äusseren sicheren Raum schaffen, einen äusseren klaren Rahmen geben und uns selbst für eine verlässliche Beziehung anbieten. Kinder und Jugendliche in schicksalsbedingten Grenzsituationen brauchen Pädagog:innen, die ihnen ausser-gewöhnliche Bedingungen und Beziehungsgestaltungen entgegenbringen. Innerhalb dieser Bedingungen kann das, was wir uns wünschen, wahrscheinlich werden – und im besten Fall gelingen. Die Interaktion, das systemische Zusammenwirken dieser Teile macht das Gelingen. Das Gelingen selbst geht ganz allein und ist ein individueller Prozess im Kind oder Jugendlichen, den wir auslösen und dann begleiten dürfen.
Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Fattoria diesem Geheimnis des Gelingens auf die Spur gekommen sind.