14.2 Theoretischer Hintergrund

Vom theoretischen Hintergrund her lässt sich unsere Wohn- und Ar-beitsgemeinschaft mit C. Otto Scharmers ‹Theorie U› verstehen. Auch Scharmer gründet seine ‹Theorie U› auf den Erkenntnissen von Johann Wolfgang von Goethe (Phänomenologie), Rudolf Steiner (Synthese von Wissenschaft, Bewusstsein und sozialer Innovation), Kurt Lewin (kollaborative Aktionsforschung) und dem Dialog (Sch-armer 2013, 57f). Bei der Entwicklung unserer Ideen für eine neue Gemeinschaft kannten im Jahr 2003 die ‹Theorie U› nicht. Es war je-doch unser Grundanliegen, eine Gemeinschaft aufzubauen, welche die Forderungen der Gegenwart aufnimmt und in die Zukunft weist.
Die Krise unserer Zeit ist nicht beschränkt auf einzelne Individu-en, Länder, Weltreligionen oder Wirtschaftssysteme. Vielmehr offen-bart die Krise «das Sterben einer veralteten sozialen Struktur und ei-ner bestimmten Art des Denkens, einer überkommenen Art der Insti-tutionalisierung und des gemeinsamen Hervorbringens sozialer For-men.» (Scharmer 2013, 26) Die ‹Praktiker an der Front des Lebens und Arbeitens› erleben die gegenwärtige Realität in identischer Wei-se: eine zunehmende Arbeitsbelastung und ein Druck, immer noch mehr zu leisten; eine zunehmende Reglementierungsdichte und ad-ministrativen Aufwand. Dem gegenüber steht eine abnehmende Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelmen-schen. Eine der Folgen ist, dass vormals tragfähige und bewährte so-ziale Strukturen brüchig werden und zunehmend einstürzen. Es sind dies Strukturen, Denk- und Funktionsformen, die historisch aus zwei Quellen stammen: der vormodernen-traditionellen und der modernen-industriellen Zeit. Beide waren in ihrer Zeit sinnvoll und haben die Kultur weitergebracht. Aber nun haben sie ausgedient. So wie früher einmal die Ansicht, die Erde sei eine Scheibe oder später das ptolemä-ische Weltbild (die Erde ist Zentrum unseres Sonnensystems) über-wunden wurden.
Seit den 1980-er Jahren bildet sich in der Welt ein eine Art neues Bewusstsein heran. Es ist die Möglichkeit einer tieferen Art der Wahr-nehmung bei den Menschen vorhanden. Wie manifestiert sich dieses Neue in der Welt? Scharmer bezeichnet das Neue daran als «Es ist eine andere Qualität der Verbindung untereinander, eine neue Art des miteinander und dem, was entstehen will, Anwesend- und Prä-sentseins. … Dies wird sichtbar durch eine veränderte Qualität des Denkens, Sprechens und des gemeinsamen Handelns. Wenn dieser Übergang geschieht, verbinden sich die Menschen mit einer tieferen Quelle der Kreativität und des Wissens und lassen die Muster der Vergangenheit hinter sich. Sie treten in ihr wirkliches Kraftzentrum ein, die Kraft des authentischen Selbst. Ich nenne diesen Vorgang ei-ne Verlagerung in ein anders soziales Feld, da dieser Begriff die Ge-samtheit und den Typ der Beziehung kennzeichnet, durch den die Teilnehmer eines gegebenen Systems sich miteinander verbinden.» (Scharmer 2013, 29f)
Dieses neue Denken, Fühlen und Handeln hat auch in Pädagogik zu ersten Veränderungen geführt. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erschien die Separation von in irgendeiner Weise ‹auffälligen› Schülern in Sonder-, Klein- oder Förderklassen selbstverständlich. Es ist eine Entwicklungs- und Bewusstseinsfrage, ob separiert wird – oder ob das Bewusstsein zu Integration fähig wird. Integration und Inklusion sind bewusstseinsmässig höher einzustufen und sind für den Menschen schwieriger zu bewältigen. Gegenwärtig sind wir als Kultur am Punkt, wo wir zwar das Bewusstsein für Integration und Inklusion haben. Aber wir können sie noch nicht handhaben, d.h. wir sind noch sehr am Üben. So betrachtet ist die Gründung der Fattoria Gerbione eine Étude, ein Entwurf und Übungsstück gelebter Integration und Durchmischung.

Bei der Konzeptentwicklung profitierten wir stark von den Erfahrungen der Camphill-Bewegung. Der Wiener Arzt und Heilpädagoge Dr. Karl König musste als Nicht-Arier bei Kriegsausbruch Wien verlassen und flüchtete nach England. Dort begann er bereits 1940 seine Idee des Zusammenlebens von verschiedenen Menschen mit und ohne Behinderungen zu verwirklichen und gründete in Camphill bei Aberdeen die ländliche Dorfgemeinschaft Camphill village. Die von König initiierte Lebensform für Kinder mit heilpädagogischem Hilfebedarf basierte auf engen Bezügen. Die Kinder lebten in den Mitarbeiterfamilien, wo sie erzogen und begleitet wurden. Die ideale Haltung der heilpädagogisch Tätigen, so Karl König im ‹Camphill-Brief 1965›, «kommt erst dort zustande, wo eine neue Demut im Herzen zu wachsen beginnt, die in jedem Menschenantlitz den Bruder sieht.» (König 1994b). Es war ihm sehr wichtig, den Kindern einen engen Bezug zur Natur zu verschaffen durch die gemeinsame Arbeit in der Landwirtschaft, im Garten, in der Bäckerei, Küche und weiteren Werkstätten. Zudem stellte er den Kindern im Unterricht spezielle Biografien vor; diese Auseinandersetzung würdige das Einzelschick-sal einer schwierigen Biografie, nähre und bilde sie.
Karl König ging davon aus, dass ein Eingebunden-Sein in der Natur, ein Zusammenleben mit Menschen ohne Behinderungen und ein gemeinsames kulturelles Leben sich als Normalisierung förderlich auswirken müssen. In seinen Büchern stellt er später dar, wie ein soziales Umfeld auf natürliche Weise therapeutisch wirkt, wenn es die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse erfüllt: das Bedürfnis nach engerer sozialer Zugehörigkeit, nach Orientierung, nach Wertschätzung nach Selbstbestimmung/Selbstwirksamkeit und nach Entwicklung (König 1994a; 1994b; 2008). Königs Konzept wurde weltweit in über 100 Camphill-Gemeinschaften umgesetzt, die in über 20 Ländern in Europa, Nordamerika, Asien und im südlichen Afrika verteilt sind (http://camphill.net/).
Meine Frau und ich gingen davon aus, dass dieses in der Heilpädagogik und Sozialtherapie bewährte Konzept – mit notwendigen Anpassungen – auch für junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen therapeutisch und heilend wirken müsste.

Weitere wichtige Grundlagen unsere Arbeit bildeten die Erkenntnisse
• der Kommunikationspsychologie (Paul Watzlawick, Carl Rogers u.a.)
• der Neurologie/Neurobiologie des 21. Jahrhunderts (Gerald Hüther, Manfred Spitzer, Gerald Roth u.a.)
• der Bindungstheorie (Mary Ainsworth, Barbara Wittig, Liselotte Ahnert, Martin Niemeijer, Karl Brisch, Theodor Hellbrügge u.a.).

Steiner hat im Heilpädagogischen Kurs 1924 unsere Kultur so beschrieben, dass Krankheit und Störungen in unserer Kultur verankert seien. Er stellte deshalb an die Pädagog:innen die Forderung, jede Erziehung müsse eine «heilende Erziehung» sein. Rund 100 Jahre später können wir feststellen, dass psychische Krankheiten und Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stark zugenommen haben. Folgerichtig können wir Steiners Forderung mit dem Zusatz ergänzen: In unserer Zeit muss jede Erziehung therapeutisch-heilende Elemente enthalten. Dies gilt ganz besonders für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, deren Entwicklung immer durch Störungen geprägt ist. Bei ihnen muss jede Erziehung eine heilende und thera-peutische Erziehung sein. Nur aus einer solchen Haltung heraus kann es uns gelingen, die vorhandenen Blockierungen zu lösen und eine innere Entwicklung in Bewegung zu bringen (vgl. Niemeijer 2011, 136).

Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass die idealen Strukturen oder positive Wirkfaktoren im stationären Bereich folgende Bedingungen aufweisen müssten:
kleine Institutionen (vgl. Kap. 11.3 und 11.4)
familienartige Strukturen – was durchmische Anspruchsgruppen impliziert (vgl. Kap. 11.3)
wenige, dafür möglichst konstant anwesenden Bezugspersonen = exemplarische Beziehungen (vgl. Kap. 6.3 und 6.4).

Es ist eine der vielen Absurditäten unserer Gesellschaft: der Staat finanziert an seinen Universitäten und Fachhochschulen wissenschaftliche Untersuchungen, deren Ergebnisse in den staatlich finanzierten Institutionen häufig nicht umsetzt werden. Aus unserer Sicht ist es jedoch unabdingbar, dass sich der praktische pädagogisch-therapeutische Alltag an zeitgemässen wissenschaftlichen Theorien, ihren aktuellen Erkenntnissen und Modellen ausrichtet. Als kleine und unabhängige Institution waren wir frei, unser Konzept laufend unseren Erfahrungen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen anpassen zu können. So haben wir über all die Jahre ein Konzept entwickelt, das den Alltag von verhaltensauffälligen, traumatisierten oder dissozialisierten Jugendlichen nicht nur (nach-) erziehend gestaltet, sondern den Anspruch einer pädagogisch-therapeutisch-heilenden Erziehung weitgehend erfüllen kann.