Unser Konzept unterliegt einer dauernden Weiterentwicklung. Als Konstante bleibt die Verbindung unserer Alltagserfahrungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wir verbinden zunehmend die Elemente der Bindungstheorie (Kap. 6), der Neurobiologie (Kap. 7), der Traumapädagogik (Kap. 8), der geisteswissenschaftlichen Entwicklungspsychologie (Kap. 13) mit psychoanalytischen, systemischen und auch verhaltenspädagogischen Ansätzen. Unser prozessuales Vorgehen beruht zwar primär auf einer geisteswissenschaftlichen Sichtweise. Diese deckt sich in zentralen Inhalten und pädagogischen Prozessen mit der Traumapädagogik, der Neurobiologie und der Bindungstheorie. Die Traumatherapie und die Bindungstheorie stimmen ihrerseits sowohl im psychopathologischen Verständnis als auch im Therapieansatz überein (Lovett 2000; Brisch/Hellbrügge 2012). Ebenso korrelieren die Grundlagen der Traumapädagogik mit den Erkenntnissen der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik: «Verändere, indem du nicht veränderst. Wenn du veränderst, verändert sich gar nichts. Denn jede Veränderung muss Selbständerung sein.» (Willke 1992, 38). (Vgl. Arnold 2004/2005, 2012; Schmidt 2003).
Im pädagogischen Alltag haben wir einerseits festgestellt, dass die im Kap. 6.2 dargestellten Symptome der frühkindlichen Entwicklungsstörungen und ihre Behandlungen nicht auf das Kleinkindalter beschränkt sind. Dieselben Phänomene und Symptome finden wir bei allen verhaltensauffälligen, dissozialisierten Jugendlichen ebenso. Die Symptome äussern sich einfach ausgeprägter – was im Ausleben einer Pubertätsentwicklung nachvollziehbar ist. Erstaunlich ist für uns jedoch gewesen, dass die von Niemeijer aufgeführten Behandlungsansätze nicht auf das Kleinkindalter beschränkt, sondern ebenso bei Jugendlichen anwendbar sind. Diese Erkenntnis war für uns sehr hilfreich, um unseren Behandlungsansatz zu entwickeln.
Zum Zweiten sind die in der Bindungstheorie beschriebenen unsicheren bis hochunsicheren Bindungen bei Jugendlichen in den stationären Institutionen offensichtlich massiv ausgeprägt vorhanden. Die anerkannten Fachkapazitäten der Bindungstheorie können zwar die vorhandenen Störungsbilder in ihren Büchern sehr ausführlich beschreiben – eine Behandlung im Erziehungsalltag können sie jedoch nicht anbieten. Das ist das Feld der Pädagogen und Psychologinnen, die in den stationären Institutionen sich überlegen und auch ausprobieren müssen, welche Regeln sich als sinnvoll und welcher Zugang sich als hilfreich-heilend herausstellt.
Zum Dritten stützen wir uns auf die Erfahrungen der Traumapädagogik und Traumatherapie, die beispielsweise strukturierte sichere Orte, die Würdigung und Wertschätzung eines Verhaltens, das Erleben von Partizipation als Selbstwirksamkeits-, Autonomie- und Zugehörigkeitserfahrung zur Voraussetzung für eine Heilung erklärt (vgl. Kap 8.3. und 8.4).
In dieser Verbindung verschiedener und breit abgestützter Erkenntnisse gewährleistet unser pädagogisches Konzept eine wirklich umfassende ganzheitliche Behandlung, welche die bio-psycho-sozio-spirituellen Ebenen umfasst und die Bedürfnisse eines/r einzelnen Jugendlichen ins Zentrum stellt. Als Behandlungskonzept bietet das Pädagogische Konzept eine brauchbare Grundlage. Es mag trivial klingen – aber: Wie gültig ist ein Konzept im Alltag? Das heisst: muss sich die Jugendliche dem Konzept anpassen oder muss sich das Konzept dem Jugendlichen anpassen? Gilt die Priorität des Konzeptes oder die Priorität der Entwicklung der Jugendlichen? Im pädagogischen Alltag finden wir uns dauernd in solchen Dilemmata wieder.
Kein Konzept kann der Komplexität verhaltensauffälliger Jugendlichen gerecht werden – oder besser gesagt: ihrer komplexen Unsicherheit des Handelns. Wir verfügen über keine allgemein akzeptierten Theorien des Erziehens, die uns mit Sicherheit angeben, «wie ein psychisches System ein anderes so beeinflussen kann, dass das andere System beeinflusst wird.» (Oelkers, zit. nach Arnold 2004/2005, 12). Konzepte als Rezepte des pädagogischen Handelns sind deshalb immer unvollständige, höchstenfalls skizzenhafte Abbilder pädagogischer Intentionen und Interventionen. Konzepte erwirken bei Behörden eine Gewissheit, dass die Strukturqualität eingehalten ist. Und Konzepte bieten Pädagog:innen einen Handlungsrahmen. In beiden Fällen erzeugen sie damit Sicherheit. Konzepte haben es aber an sich, eine Steuerungsillusion darzustellen, denn sie sind nicht in der Lage, den pädagogischen Alltag abzubilden.
In der Fattoria Gerbione haben wir uns klar dafür entschieden, dass das Konzept in der Anwendung bei jedem/r Jugendlichen eine individuelle Anpassung an die je eigenen Stärken, Problemstellungen, Zielsetzungen und pädagogischen Förderpläne zulassen muss. Nur so kann jede Behandlung absolut individualisiert, abhängig vom Alter, vom Ausmass und der Art der inneren Verstörtheit und dem jeweiligen Entwicklungsstatus erfolgen.
Einige inhaltliche Schwerpunkte der fünf Phasen unseres pädagogischen, psychologischen und therapeutischen Konzeptes werden skizzierend beschrieben und zusammenfassend in Abb. 41 dargestellt. Die Abfolge der fünf Phasen orientiert sich an der traumapädagogischen Behandlung und der Sinneslehre in Verbindung mit der Bindungslehre.
1. Phase: Basissicherheit erwerben
Nach ihrem Übertritt in die Fattoria Gerbione dominieren bei vielen Jugendlichen primär Ängste und tiefe Unsicherheit, die sich als eine innere Abwendung von den Menschen, als Antriebslosigkeit, Abstumpfung bis Apathie oder auch als starke Angespanntheit im Körper, wachster Aufmerksamkeit und sofortigen aggressiven Reaktionen äussern. Das sind identische Phänomene, wie sie bei den frühkindlichen reaktiven Bindungsstörungen in der 1. Phase (vgl. Abb. 15) mit gehemmtem oder ungehemmtem Überlebensverhalten beschrieben sind.
Die massivsten Symptome von Beziehungs- und posttraumatischen Belastungsstörungen weisen tendenziell Jugendliche auf, die einen Aufenthalt in einem Gefängnis oder einer geschlossenen Abteilung der Erwachsenenpsychiatrie erlebt haben. Diese Jugendlichen benötigen zuerst einfach einen sicheren Ort. Der Begriff «sicherer Ort» stammt aus der Traumapädagogik – die Bindungstheorie nach Bowlby nennt dies einen sicheren Hafen («secure base»). Die Forderung an die innere Haltung von Pädagog:innen ist quasi dieselbe: wir müssen den Kindern und Jugendlichen einen sicheren Platz, eine Basissicherheit bieten. Erst darauf aufbauend können später neue Gewohnheiten oder auch Beziehungen angebahnt werden.
In der Fattoria Gerbione begegnen wir den Jugendlichen zuerst einfach mit Verlässlichkeit und Empathie, bestätigen sie und akzeptieren sie in ihrer biografisch sehr belasteten Situation. Wir bieten ihnen Anhaltspunkte in einem geregelten Tagesablauf an, der ihnen ermöglichen kann, im Lauf von Wochen oder Monaten neue Gewohnheiten zu entwickeln. In dieser Phase geschieht die tägliche Arbeit nicht über ‹Beziehung›, weil diese tief gestörten Jugendlichen noch gar nicht Beziehungen eingehen und gestalten können. Pädagog:innen, die in dieser Phase den Jugendlichen eine Beziehung anbieten, Vertrauen aufbauen wollen, können nur scheitern – aber das dürfen wir nicht den Jugendlichen anlasten, sondern sind pädagogische Fehler von Newcomern. Die Jugendlichen verhalten sich ja auffällig, unsicher und rücksichtslos, weil sie in ihrem früheren Umfeld nicht lernen konnten, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Das können sie jetzt auch nicht, nach ihrem Eintritt in eine pädagogische Institution. Sie können höchstens ihre angelernten, dysfunktionalen, aber schützenden Beziehungsmuster voll aktivieren und auf Distanz gehen. Ihr ‹Ich› steht im Dienst des Überlebens und kann zu Erwachsenen keine Nähe zulassen. Deshalb hat unsere Betreuung eine beschützende, versorgende und umsorgende zu sein, die aus einer gewissen Distanz jeglichen Druck von aussen möglichst unterlässt.
Selbstverständlich verstossen diese Jugendlichen in den ersten Monaten oft gegen die Regeln, probieren aus, suchen die Grenzen und begehen ihre gewohnten Grenzüberschreitungen. Nach Konzept müssten wir diese Jugendlichen wieder zur Verfügung stellen, denn sie erfüllen die Anforderungen nicht und können am Ende der dreimonatigen Probezeit die 10 Punkte unseres ‹Basis-Brevet› (siehe Kap. 14.5) nicht erreichen. Wenn sich solche Jugendliche aber minimal auf uns einlassen können – d.h. wenn wir ein Bemühen und gewisse Fortschritte feststellen können – behalten wir sie. Denn ein Zur-Verfügung-Stellen, weil sie «nicht in unser Konzept passen» oder weil sie sich «nicht an die Regeln halten» bedeutet für diese Jugendlichen ein weiterer Abbruch, eine weitere Erfahrung, es nicht zu schaffen, nicht dazuzugehören, anders als andere und damit nicht normal zu sein. Wir versuchen, jede Jugendliche und jeden Jugendlichen auszuhalten – das erfordert die Bedeutung von ‹einen sicheren Platz bieten›.
Aus der Hierarchie der Wesensglieder betrachtet, beginnen wir bei diesen Jugendlichen die Behandlung auf der Ebene der zwei unteren Wesensglieder. Die eigene Leiblichkeit und Vitalorganisation muss zuerst wieder zu einem sicheren Ort werden. Dieser Ansatz entspricht ebenfalls den Erkenntnissen der Traumabehandlung: Der traumatisierte Mensch soll zuerst seinen Körper (physischer Leib und Vitalorganisation) als sichere Behausung erfahren. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Arbeit an den seelisch-geistigen Persönlichkeitsebenen angegangen werden (Reddemann/Dehner-Rau 2013; Ding 2013; Bausum et al. 2013).
Um den Jugendlichen eine Basissicherheit zu vermitteln, muss die pädagogische Arbeit möglichst breit ansetzen. Sich sicher und zunehmend geborgen fühlen im physischen Körper und der Vitalorganisation umfasst eine Versorgung mit gesunder und ausgewogener Ernährung, die Pflege der biologischen Rhythmen einer Tagesstruktur und Nachtruhe, die Pflege des Wärmeorganismus mit Bädern, Physiotherapie oder Massagen, die regelmässige Hygiene, der vertraute Rückzugsort des eigenen Zimmers inklusive regelmässiger Minimalordnung und eine geduldige Zuwendung durch die Betreuenden. Das Ziel ist, die Jugendlichen wieder mit ihrem Körper und den Lebenskräften in Verbindung zu bringen, damit sie sich im eigenen Körper sicher fühlen können.
Parallel dazu versuchen wir den Jugendlichen eine Grundsicherheit auf der noch unpersönlichen ich habe-Ebene zu vermitteln: ich habe eine Existenzberechtigung; ich habe ein eigenes «Territorium», in das ich mich zurückziehen kann; ich habe Probleme, aber ich bin nicht das Problem; ich habe die Möglichkeit hier zu bleiben; ich habe hier eine Grundversorgung mit Essen, Schlafen, Tagesstruktur und Menschen, die 24 Stunden pro Tag für mich anwesend sind; ich habe irgendeinen Gewinn, hier zu sein.
Von der menschlichen Sinnesorganisation her kann in dieser Phase die Pflege des Tastsinns unterstützend wirken. Die Haut bildet die Grenze des Organismus zwischen Innen- und Aussenwelt. Sie begrenzt nicht nur, sie schützt und vermittelt ebenso zwischen Innen- und Aussenwelt. Mit dem Tastsinn erspürt und erfährt der Mensch sowohl seinen Körper, seine Grenzen als auch die Objekte der äusseren Welt. Eine Wunde stellt ja immer eine Verletzung einer Grenze dar. Durch Kontakt mit der Haut, durch Körperkontakt wie Halten, Umarmen, Streicheln, aber auch mit äusseren Anwendungen wie rhythmische Einreibungen, Massagen, wärmende Bäder oder Wickel kann das Körpergefühl, das Körperbewusstsein als Kontakt zum eigenen Leib wieder hergestellt werden (Ruf 2012, 98). Alle diese Hilfeleistungen geschehen nur in offener Transparenz, nach Information an und Einverständnis des Teams und immer unter der Voraussetzung was der/die Jugendliche selbst will und zulässt. Wenn Jugendlichen solche Kontakte zu nahe gehen, helfen ärztlich verschriebene Physiotherapie, sensomotorische Übungen, Heileurythmie, Körper- und Bewegungsübungen, Spiele mit physischem Einsatz oder Sport.
Eine solche pädagogische Arbeit fordert von den Pädagog:innen einen grossen persönlichen Einsatz, aber auch Akzeptanz und Toleranz. In den wöchentlichen Pädagogischen Sitzungen bedingt dies intensiven Austausch und sehr genaue Absprachen, damit sich alle an den vereinbarten Prozessen beteiligen und diese einhalten. Denn wenn wir beispielsweise vereinbaren, dass wir bei einer Jugendlichen keinen Druck ausüben, sondern Zuwarten und ihr Raum geben verlangt dies ein pädagogisches Sich-selbst-Zurücknehmen. Das aber widerspricht herkömmlichen pädagogischen Interventionen (lat. intervenire = dazwischentreten, sich einschalten), die immer von aussen aktiv eine Veränderung bewirken wollen.
In der Regel sind nach vier bis sechs Monaten erste Fortschritte festzustellen, indem die Jugendlichen regelmässiger am Morgen aufstehen, sich besser in den Tagesablauf einfügen oder sich ihr Körpertonus etwas entspannt und die aggressiven Äusserungen seltener werden. Diese Jugendlichen benötigen dann minimal zwei und besser drei Jahre intensiver Nacherziehung, bis sie soweit ‹gesellschaftstauglich› sind, um eine Lehre absolvieren und abschiessen zu können.
2. Phase: Geborgenheit und Sicherheit erwerben
Jugendliche der 2. Phase sind geprägt von tiefem Misstrauen den Erwachsenen und einer Scham sich selbst gegenüber. Sie verhalten sich verschlossen und reagieren auf Nähe oder Beziehungsangebote klar abweisend oder stark ambivalent. Solche Jugendliche kommen oft aus der Kinder-/Jugendpsychiatrie oder geschlossenen Abteilungen zu uns. Die Mehrheit dieser Jugendlichen kann sich an einen Tagesablauf halten. Sie fühlen sich aber oft krank. So wollen sie wegen jeder Kleinigkeit sofort zum Arzt, benutzen gerne Medikamente oder sie bleiben einfach einen Tag im Bett. Diese Verhaltensweisen sind einerseits Ausdruck ihrer ungenügend ausgebildeten Vitalkräfte. Andererseits scheinen sie die besondere Aufmerksamkeit, die ein Arztbesuch oder das Kranksein mitbeinhalten, zu benötigen. Deshalb akzeptieren wir ihre Verhaltensweisen, gehen soweit möglich darauf ein und bieten ihnen eine Sonderbehandlung mit zusätzlicher betreuender Aufmerksamkeit. Selbstverständlich lässt sich aus psychoanalytischer Sicht einwenden, dass es sich hier um ein ungünstiges regressives Verhalten mit Therapierelevanz handelt. Ebenso lässt sich aus verhaltenspädagogischer Sicht argumentieren, dass dies ein unerwünschtes Verhalten sei, dem mit einer pädagogischen Reaktion, mit dem Ziel einer Löschung, zu begegnen ist. Wir vertreten demgegenüber die Haltung, dass ein Tag oder auch mehrere Tage im Bett zu verbringen, die damit einhergehende Ruhe, die Zurückgezogenheit ins eigene Zimmer und die Sonderbehandlung des mit Tee versorgt und «bemuttert» werden für diese Jugendlichen heilend wirkt. Sie hinterlassen ja oft den Eindruck eines verletzten Tieres, das sich zurückzieht und die eigenen Wunden leckt. So sollen diese Jugendlichen Gelegenheit erhalten ihre Wunden zu lecken, d.h. sich im Rückzug vor den Zumutungen und Selbstzweifeln ihrer Biografie zu schützen und in der Ruhe durchatmen zu können (vgl. Lempp 2003). Die Abnahme dieser Rückzugsphasen und der Arztbesuche sind später ein Indiz für Entwicklungsfortschritte und Normalisierung.
In dieser Phase versuchen wir bei den Jugendlichen ihren Lebenssinn zu stärken. Im Alltag spüren wir die Existenz dieser Sinnesorganisation oftmals gar nicht, deshalb ist der Lebenssinn nicht einfach erfassbar. Wir kennen ihn aber aus unseren eigenen Lebensextremen, wenn uns ein Ereignis bis in die Leiblichkeit hinein trifft. Das ist beispielsweise in einer gefühlten Sinnlosigkeit beziehungsweise Sinnerfülltheit der Fall. In der eigenen Biografie kennen wir gravierende Erschütterungen unserer Existenz, die uns meistens als Folge eines Verlustes treffen. Die daraus entstehenden Gefühle einer Mattigkeit, Müdigkeit, Antriebslosigkeit, existentiellen Einsamkeit und Sinnlosigkeit können unser ganzes Wesen lähmen. Wir kennen jedoch auch Situationen, in denen wir uns erwünscht und angenommen erleben dürfen, uns seelisch öffnen können, Vertrauen, Geborgenheit und Freude in uns spüren – und zu uns sinngemäss sagen können: «Das ist mehr als gut, das macht Sinn und gibt meinem Leben Sinn». Da spüren wir den Lebenssinn ebenfalls deutlich und können uns als ein erfülltes und den Raum erfüllendes, leibliches Selbst empfinden. Selbstverständlich können wir den Jugendlichen nicht einfach Geborgenheit, Vertrauen und Freude vermitteln. Aber es ist ein Ziel, bei ihnen – wenn auch nur ein minimales – Wohlgefühl dem Leben, den Menschen und sich selbst gegenüber zu entwickeln. Denn ihr Leben muss einen Sinn erhalten, der oftmals verschüttet wurde und jetzt wieder gesucht werden muss.
Ging es in der 1. Phase um die ich habe Ebene, steht nun die ich bin Ebene im Vordergrund. Diese Inhalte sind Ich-näher: ich bin in einer schwierigen Situation; ich bin einer der Jugendlichen, der nicht bei den Eltern aufwachsen kann; ich bin auf Hilfe und Unterstützung auf meinem Weg ins Erwachsenenleben angewiesen; ich bin nicht nur das, was ich bisher erlebt habe.
Ab dieser Phase offenbart sich das individuelle Bindungsverhalten in seinen Störungsbildern. Im Misstrauen, in den verbalen und nonverbalen Zurückweisungen und dem oft verbissenen Kampfverhalten kommt die unsicher-vermeidende Bindung zum Ausdruck. Jugendliche mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsverhalten dagegen steigen auf einzelne Bindungsangebote ein, zeigen Nähe, Offenheit, Freude und suchen überraschend sogar Körperkontakt. – um bald darauf mit verbal-aggressiven und auch verletzenden Äusserungen wieder die ihnen nötige Distanz zu schaffen. Das darf uns als Pädagog:innen nicht verunsichern. Unser Ziel muss sein, ihnen gegenüber ein konstantes Beziehungsangebot aufrecht zu halten: Geborgenheit vermitteln, Trost und Ermutigung geben, Beziehung anbieten. Hüther ruft Eltern und PädagogInnen in seinen Vorträgen immer wieder auf, dass sie die Kinder und Jugendlichen «einladen» sollen: «Wir müssen die Kinder einladen, ermutigen und stimulieren» oder «Wir müssen Jugendliche einladen, ermutigen und inspirieren» (Hüther 2013; Hüther/Aarts 2010).
Nach der 1. und 2. Phase sollten Kinder und Jugendliche genügend Sicherheit und Konstanz erfahren haben, um auf diesen Grundlagen nun allmählich und vorsichtig Vertrauen und Mut zu erwerben.
3. Phase: Vertrauen und Mut erwerben
Das wichtigste Ziel der 3. Phase ist, dass der bisherige Beziehungsaufbau nun eine sicherere Beziehung entstehen lässt. Kinder und Jugendliche sollen eine oder einige exemplarische Beziehung(en) eingehen können.
Das lässt sich leicht formulieren – im pädagogischen Alltag ist dies eine der schwierigsten Tätigkeiten, die von vielen Pädagog:innen oft als sehr frustrierend und kränkend erlebt wird. Die Schwierigkeit dabei ist: Eine zwischenmenschliche Beziehung eingehen zu können setzt immer Vertrauen voraus. Da diese Kinder und Jugendlichen jedoch meist unsicher bis hochunsicher gebunden sind fehlt ihnen dieses Vertrauen. Erwachsene um Hilfe anzufragen oder Hilfsangebote von ihnen anzunehmen würde bedeuten, einen Hilfebedarf zu äussern, sich schwach und damit verletzbar und hilfebedürftig zu zeigen. Einem anderen Menschen gegenüber eine eigene Hilfebedürftigkeit einzugestehen oder gar eine gewisse Abhängigkeit einzugehen setzt immer ein Minimum an Vertrauen voraus. Das aber fehlt bei diesen Kindern und Jugendlichen. Sie versuchen vielmehr, asymmetrische Beziehungen zu vermeiden, da sie diese schlecht kontrollieren können. Als Pädagog:innen stehen wir da vor dem Hilfeparadox. Wir sehen die dissoziale, manchmal sehr aggressive oder auch völlig vermeidende Symptomatik, die aus unserer Sicht Defizite manifestieren und einen Hilfe- und Unterstützungsbedarf begründen. Zugleich stösst jedes Hilfsangebot bei den Jugendlichen auf Granit. Oder pädagogisch-psychologisch formuliert: Jedes Hilfsangebot stösst auf eine hilfe-aversive Einstellung. Wir müssen uns brüske Zurückweisungen anhören wie: «Hör auf mit deinem pädagogischen Stuss!», «Lass mich in Ruhe!», «Dich habe ich nicht nötig!» Für Jugendliche, die keine vertrauensvollen Beziehungen erlebt haben, ist jedes Hilfsangebot zuerst einmal ein Angriff auf ihre emotionale Autonomie. Gefühle, Emotionalität und damit auch Bindungswünsche sind im Selbstkonzept dieser Jugendlichen sehr widersprüchlich und inkonsequent vorhanden. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ihre eigenen Bindungswünsche nur sehr verzerrt, mit Ängsten versetzt und situativ unterschiedlich wahrnehmen und äussern können. Nach einigen Monaten des gegenseitigen Leidens, in denen sie das System und die Betreuer:innen auf ihre Tragfähigkeit überprüft haben, übertragen jedoch auch sehr dissozialisierte Jugendliche in der Regel ihre Bindungserwartungen auf einen oder mehrere Betreuende. Sie wählen Erwachsene aus, von denen sie sich erhoffen, dass sie sie tragen, ertragen und ihnen eine sichere emotionale Basis sein können. Vielleicht ist es diese Hoffnung der Jugendlichen, ein Rest von noch vorhandenen Bindungswünschen als Erinnerung aus der Kindheit oder das Grundbedürfnis des Menschen nach Einbindung, die uns überhaupt eine Chance eröffnen in der pädagogischen Arbeit, die in diesem Bereich eine klar therapeutische ist.
Wenn Jugendliche zu uns kommen, die sich in der Phase 1 befinden und zuerst einmal einen sicheren Platz benötigen, dauert es oftmals sechs bis zehn Monate, bis sich ihre Verkrampfungen oder Erschöpfungszustände leicht aufzulösen beginnen. Wenn dagegen Jugendliche bei uns eintreten, die sich in der Phase 3 befinden – also klar geringere Verhaltensauffälligkeiten aufweisen – dauert es oft nur einige Wochen bis sie entspannter werden, sich öffnen, zu lachen beginnen oder selbst Witze machen.
Auf der Basis des Vertrauens in eine keimende Beziehung können Pädagog:innen nun die Jugendlichen stärken, ihnen Mut geben, sie in den Alltagshandlungen bestätigen und loben: «Du machst Fortschritte».: «Du kannst es!» und sie anregen, alte Konflikte anzugehen, ihre Beziehungen anzusehen, zu gewichten und möglichst zu erweitern. So können Jugendliche allmählich die Gewissheit erwerben: Ich bewege mich, ich verändere mich! Oder auch: Ich bin noch etwas anderes, als ich bisher geworden bin. Diese Schritte müssen von den Pädagog:innen intensiv und nahe begleitet werden, was in sich beinhaltet, dass auch die Beziehung zwischen Pädagogin und Jugendlichen sich erweitert und vertieft.
4. Phase: Freiheit und Ich-Kräfte erwerben
Die Prozesse der vorhergehenden Phasen werden in der 4. Phase weitergeführt. Der Focus ist nun auf Entwicklungs-der Ich-Kräfte gerichtet.
Die während der Kindheit angelernten Hilflosigkeits- oder traumatischen Ohnmachtserfahrungen machen das Ich hilflos und passiv. Diese negativen Erfahrungen müssen korrigiert und in eine erlebte neue Selbstwirksamkeit überführt werden. Jede Erfahrung der Selbstwirksamkeit heilt. Deshalb müssen Jugendliche in den stationären Institutionen primär positive Erlebnisse erfahren können, damit frühere negative Erfahrungen sich allmählich korrigieren. Pädagogik wirkt hier auf der biografischen Ebene (Ding 2013, 62ff). Professionelle Pädagog:innen sollten möglichst fähig sein, auf biografische Entwicklungen helfend einwirken können.
Das Erlebnis der Selbstwirksamkeit fördert die Ich-Entwicklung, wenn die Erlebnisse alters- und entwicklungsgemäss erfolgen. In jeder Altersstufe helfen künstlerische Übungen, die selbstkreative Äusserungen fördern wie Malen, Zeichnen, Theater spielen oder kreatives Schreiben. Ebenso unterstützend wirken handwerkliche und kunsthandwerkliche Ausdrucksweisen wie Plastizieren, Bildhauen, Schreinern, Schmieden, Nähen – und weitere Tätigkeiten, bei denen das Ich eine Materie gestaltend verändert. Veränderung wird so geübt und erlebt. Für andere Jugendliche können Wald-, Rodungs-, Feld-, Bau- oder Gartenarbeiten oder kleine ökologische Projekte gesundend und stärkend wirken. Selbstwirksamkeit und positive Erlebnisse erfahren die Jugendlichen, wenn sie von der Idee an über die Planung, Entscheidungsfindung, den Entscheiden bis zur Umsetzung beteiligt werden und sich mit ihren Ideen ganz einbringen können. In der Fattoria Gerbione haben wir verschiedenste Projekte mit Jugendlichen durchgeführt wie Ausbau des Nebenhauses, Bäume fällen und Brennholz herstellen, Unterstand für Brennholz oder eine Werkstatt bauen, das Hühnerhaus restaurieren und elektrifizieren und Aushubarbeiten. Gegenwärtig legen die Jugendlichen einen neuen Permakultur-Garten an.
Das Selbsterleben wirkt direkt auf das Selbstbild – und vice versa. Bei verhaltensauffälligen Jugendlichen ist in der Regel weder das eine noch das andere positiv oder auch nur genügend entwickelt. Selbstwertgefühl, Selbstbild Selbsterleben und Selbstwirksamkeit sind nur in vermindertem Mass vorhanden. Die Ich-Vorstellungen und das Ich-Erleben sind jedoch die tragende Basis der Psyche, sich als Mensch unter Menschen und in der Welt behaupten zu können. Schlussendlich sind es das Selbstbild und das Selbsterleben, die uns das Bewusstsein einer gewissen Kohärenz des eigenen Lebens, ein notwendiges Mass an Selbstvertrauen aber auch Autonomie oder adäquate soziale Teilnahme ermöglichen. Ohne ein einigermassen positiv besetztes Selbstbild und Selbsterleben gelingt Selbst-Initiative nicht. Je diffuser das Selbstbild, je unentwickelter das Ich-Erleben, desto wahrscheinlicher sind provozierende, verletzende, störrische, störende und unangepasste Verhaltensweisen. Deshalb ist es so grundlegend wichtig, die Ich-Kräfte in eine positive Entwicklung zu führen, negatives Selbsterleben zu verändern, das Selbstvertrauen zu fördern. Dafür eigenen sich in der 4. Phase vor allem Einzel- und Gruppengespräche. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Besprechung von konkreten Alltagssituationen mit den Jugendlichen und die gemeinsame Überlegung, was in der einzelnen Situation eine andere, vielleicht angepasste, Verhaltensweise hätte sein können, sehr verändernd auf das Ich wirken kann. Wenn ein Jugendlicher sich bereit erklärt für eine externe Therapie sind die meisten Formen von Psycho-, Gesprächs-, oder Verhaltenstherapie sehr förderlich, die eigene Biografie unter neuen Gesichtspunkten betrachten zu lernen. Häufig müssen die Jugendlichen in dieser Phase erneut eine lange Trauerarbeit leisten, ihre aktuelle Lebenssituation überprüfen um sich neu in ihrem Leben orientieren zu können.
Eine Kernaufgabe stationärer Institutionen ist, Verhaltensauffälligkeiten zu behandeln. Somit ist es Aufgabe der stationären Institutionen, die früher erlebten traumatisierenden, dissozialisierenden Erlebnisse mit neuen Erlebnissen zu ‹überlagern›. Mein Credo: Stationäre Institutionen müssen ein Ort sein, an dem Jugendliche konsequent neue, positive Erfahrungen sammeln können. Diese Aussage ist zugleich eine zentrale pädagogische Forderung an die stationären Institutionen. Die Erkenntnisse der Neurobiologie belegen: Neue Erlebnisse und neue Erfahrungen aktivieren das Gehirn. Sie lassen im Gehirn neue neuronale Netzwerke entstehen, die durch Wiederholungen die Synapsen und ihre Verbindungen stabilisieren und stärken. Wenn dagegen Synapsenverbindungen nicht mehr aktiviert werden, also ungenutzt bleiben, bilden sie sich zurück (vgl. Kap. 7.2).
In der 4. Phase müssen die Jugendlichen mehr Raum erhalten für ihre individuelle Entwicklung. Den Lebensraum zu erwerben und zu gestalten ist ein Freiheitselement des Ich. Die Jugendlichen müssen jetzt ihr Leben üben können und individualisierte Beziehung eingehen. Es sind grosse Momente, wenn sich eine Jugendliche als «Ich» zu fühlen beginnt, Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Leistungen gewinnt.
5. Phase: Widerstand und soziale Kräfte erwerben
In der 5. Phase haben die Jugendlichen eine zumindest hinreichend gute psychosoziale Stabilisierung erreicht. Die Ich-Kräfte sind so weit entwickelt, dass ein Selbstvertrauen und eine Selbstwirksamkeit in eigene Leistungen und damit ein Selbstwertgefühl sich allmählich etabliert. Jetzt können PädagogInnen Widerstand geben: «Willst du das wirklich?» Jetzt können wir die Beziehung belasten, die Normen und Werte hinterfragen und die Handlungen kritisch analysieren.
Die Traumapädagogik hat die Wichtigkeit der Sprache, der Sprachpflege und des Sprachausdrucks neu ins Zentrum gerückt. Rudolf Steiner und seiner Frau Marie Steiner-von Sivers haben bereits in den 1920er Jahren eine Sprachgestaltung entwickelt als künstlerisches Ausdrucksmittel der Sprache in der Kunst, der Pädagogik und der Therapie. Nach Steiners ist die Sprache ein universelles Ausdrucksmittel der menschlichen Seele: Durch sie offenbart sich der Mensch am unmittelbarsten. Durch den Sprachsinn verstehen wir, dass ein Wort ein Wort und mehrere aneinandergefügte Wörter ein Satz mit einer Aussage ist. Aber Sprache ist weit mehr als die Aneinanderreihung von Buchstaben und Wörtern. Die Sprache wird begleitet durch die Mimik und die Gesten, die nicht zufällige Bewegungen der Muskulatur sind, sondern begleitende, bestätigende und unterstreichende Gesten, deren Symbolgehalt wir unmittelbar wahrnehmen und verstehen. Somit geschieht Kommunikation nicht nur über den Sprachsinn. Beteiligt sind immer auch der Hörsinn, der Sehsinn und der Denksinn, welche die Wahrnehmungen erst verbinden und zu einem sinnvollen Verstehen führen. Sprache ist somit ein äusserst komplexer und lebendiger Bildeprozess des Selbstausdrucks und des Verstehens (vgl. Ruf 2012, 120ff).
Nach wiederholten schlimmen Erlebnissen oder einem traumatischen Schock sind Kinder und Jugendliche oftmals nicht mehr in der Lage, ihre Sprache sinnhaft zu gebrauchen. Ebenso können sie längere, kompliziertere Sätze oder mehrere aufeinanderfolgende Anweisungen nicht verstehen. Auf Pädagog:innen wirken diese Kinder, als würden sie gar nicht zuhören, die Mitteilungen gar nicht ernst nehmen – was dazu führt, diese Kinder als frech, ungezogen oder provozierend zu beurteilen. Dabei können sie die Mitteilungen als Worte und Sätze mit einer gerichteten Aussage oft gar nicht wahrnehmen, weil sie über den Hör- und Sprachsinn gar nicht in der psychisch-seelischen Organisation ankommen. Pädagog:innen müssen deshalb in einfachen, kurzen, positiven Formulierungen mit langsamer, deutlicher Aussprache und mehrfachen Wiederholungen kommunizieren. Aber schon in diesem Anfangsstadium müssen die Sprachinhalte über eine reine Information und Verständigung hinausreichen und positive Beziehungsangebote mittransportieren.
In den vorhergehenden Phasen wurde der Sprachsinn geschult und entwickelt. In Einzel- und Gruppengesprächen sind die eigenen Verhaltensweisen bewusst betrachtet und reflektiert worden, einzelne Teile der eigenen Biografie können zumindest ansatzweise etwas verstanden werden. Für das Selbstverstehen kann es nun sehr hilfreich sein, neben einer Einzeltherapie, in einer Systemtherapie die Familie und deren Funktionsweisen zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit sich und den Ordnungen der Ursprungsfamilie fördert Verständnis und Achtsamkeit, begünstigt das Verzeihen und das Sich ablösen in eine individuelle freie Entwicklung.
Abb. 41: Nacherziehung als Therapie bei fehlgeleiteter Sozialisierung

Quelle: Niemeijer: Vererbung und Schicksalsbildung, HPT 2013
Ich bin mir bewusst: Viele dieser inhaltlichen Ausführungen mögen für viele Fachpersonen sehr befremdlich klingen! Aber wie Heinrich Roth schon 1968 feststellte: «Alle Schulungs- und Erziehungsbemühungen im engeren Sinne sind, das zeigt sich immer wieder, abhängig von dem allgemeinen Trend der Kultur, gegen den zu erziehen ausserordentlich schwierig ist.» Roth’s Aussage hat in den vergangenen 50 Jahren an Gewicht gewonnen. Nichts desto trotz: Trends sind und bleiben Trends. Es kann heute schon als Auszeichnung gelten, gegen die trendmässigen Einseitigkeiten unserer Kultur anzugehen und Gegenzeichen zu setzen und festzustellen: Es funktioniert auch anders sehr gut!