14.4 Die Eingewöhnungsphase

Charakteristisch für die moderne westliche pluralistische Gesellschaft – und damit ein Dauerproblem von Erziehung in dieser offenen pluralistischen Gesellschaft – erscheinen im Zusammenhang mit Erziehungszielen folgende drei Grundzüge:

  1. Die unübersehbare Ausweitung der Gegenstandswelt durch Produktion, Information und Transport;
  2. Eine Folge davon ist: Die Vermehrung der möglichen Strebensziele und Verhaltensweisen – und damit die Ausweitung unseres Wertebewusstseins;
  3. Eine Folge davon ist: Die verstärkte Ideologie, die vorhandene Vielfalt und Fülle auch zu nutzen.

Eine Folge davon ist beim Individuum: Ein stark empfundenes Missverhältnis zwischen vorhandenen Möglichkeiten und individueller Wirklichkeit.

Es gibt nun für jedes Individuum – und in jeglicher Erziehung von Kindern und Jugendlichen – zwei Wege, das schmerzliche Missverhältnis zwischen Möglichkeiten und Wirklichkeit zu verringern:

  1. Wir schränken die Möglichkeiten ein.
  2. Wir weiten die Realisierungen aus.

Nach dem Eintritt in die Fattoria Gerbione gibt es eine Eingewöhnungszeit an die geltenden Regeln und Strukturen, die ausführlich und wiederholt dargestellt und besprochen werden. Wir versuchen, die verunsicherte Persönlichkeit im Denken und Fühlen auf das Hier und Jetzt zu fokussieren: «Du bist hier und – du kannst hier bleiben. Damit uns beiden dies gelingt, hast du von uns die Inhalte des ‹BasisBrevet› erhalten. Es gibt dir eine Orientierungshilfe. An diesen Inhalten arbeiten wir in den nächsten Wochen. Du kannst die Themen mit deiner Bezugsperson anschauen, feststellen, was dir schon gelingt und woran du arbeiten musst.  So üben wir zusammen in den nächsten Wochen die Grundregeln des Zusammenlebens. Mal sehen, wie weit wir kommen».

Dann erklären wir ausführlich das ‹BasisBrevet› Stufe 1 (siehe Kap. 14.5). Wir versuchen mit diesem Vorgehen, das schmerzliche Missverhältnis zwischen den vorhandenen Möglichkeiten und der eigenen Wirklichkeit zu verringern. D.h.: 1. Wir schränken die Möglichkeiten ein, indem wir das Denken und Fühlen auf das Hier und Jetzt, auf einige Aufgaben und Inhalte fokussieren, welche die Jugendlichen teilweise können und teilweise noch lernen sollten für ein gelingendes Leben.

Gleichzeitig diskutieren wir mit der Jugendlichen Fragen wie: Überlege dir mal, was du bei uns lernen möchtest. Was hast du für Ziele, die du später erreichen möchtest? Was macht dir Freude? Was könntest du eventuell bei uns lernen? Möchtest du irgendwann den internen Schulunterricht besuchen? Oder möchtest du lieber etwas Handwerkliches arbeiten?  D.h.: 2. Wir weiten die individuellen Realisierungen aus, indem wir die Jugendliche selbst ihren Tages- und Wochenplan wählen und entscheiden lassen.