Das Konzept der Fattoria Gerbione basiert auf Heterogenität/Soziodiversität. Meine Frau arbeitete früher als Lehrerin mit blinden und sehbehinderten Jugendlichen. Ich verfügte über langjährige Erfahrungen mit dissozialisierten Jugendlichen. Wir hatten in Gesprächen wiederholt festgestellt, dass die Jugendlichen dieser zwei Anspruchsgruppen ganz verschiedene und sich eigentlich ergänzende Stärken und Schwächen aufweisen:
Abb. 43: Verhaltensauffällige und sinnesbehinderte Jugendliche

Deshalb entschieden wir uns für ein Konzept mit diesen zwei Anspruchsgruppen. Wir gingen davon aus, dass diese Menschen mit ihren je verschiedenen Persönlichkeitsprofilen im Zusammenleben voneinander profitieren könnten.
An früheren Arbeitsstellen hatte ich wiederholt Jugendliche und junge Erwachsene in die stationäre Psychiatrie einweisen müssen. Ich hatte oft Mühe, diesen Entscheid zu fällen und auszuführen. Einerseits sicher deshalb, weil ein Klinikaufenthalt für jeden Menschen ein einschneidendes Ereignis in seiner Biografie bedeutet. Wenn ich andererseits die Behandlungsübungen durch Assistenzärzt:innen und die erzielten Ergebnisse beim Austritt betrachtete, fragte ich mich wiederholt, ob ich damit diesem jungen Menschen wirklich geholfen hatte. Mit diesen Erfahrungen entschieden wir uns, auch zwei bis drei Plätze für junge Erwachsene mit psychiatrischen Problemen anzubieten. Diese Menschen benötigen nach einer Akutbehandlung in einer psychiatrischen Klinik ein möglichst normales Umfeld, das ihnen Unterstützung in ihrem Lebensvollzug bereitstellt. Dazu gehören primär ein begleitetes Wohnen und eine sinnvolle Beschäftigung mit wenigen, konstanten Kontaktpersonen. Sie bedürfen einer hohen Konstanz, damit ihre Ich-Kräfte – als angepasstere Selbstwahrnehmung und Stärkung des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeit – erstarken können. In der Fattoria Gerbione bilden diese Betreuten die Konstante: sie benötigen einen längeren stationären Aufenthalt, sie kennen die Regeln und leben diese im besten Fall vor. Im täglichen Kontakt mit den Bewohner:innen der anderen Zielgruppen werden sie herausgefordert und mit ganz anderem Verhalten konfrontiert. So haben sie täglich Realitätsbezüge zur Aussenwelt.
In Anlehnung an die Definition der Biodiversität erklärten wir unser Konzept der Durchmischung als Soziodiversität: «Soziodiversität ist die Vielfalt des Lebens in einer Gemeinschaft».Die Vielfalt des Lebens lässt sich in Anlehnung an die Definition der Biodiversität leicht auf eine Gemeinschaft übertragen:
- Ebene: Vielfalt der Herkunft (Stadt, Land, Muttersprache, Bildung, Interessen) im definierten Lebensraum der Fattoria Gerbione;
- Ebene: Vielfalt der Arten (Männer und Frauen, Altersgruppen, Zielgruppen bei den Bewohner:innen und Ausbildungen bei den Mitarbeitenden);
- Ebene: Vielfalt der Individuen (verschiedene Anspruchsgruppen mit unterschiedlichen Zielsetzungen, Ansprüchen und verschiedenartigen Stärken und Schwächen);
- Ebene: Funktionale Soziodiversität als Vielfalt der Wechselbeziehungen innerhalb und zwischen der 1. und 3. Ebene.
Unser Ziel war, mit dieser überlegten Durchmischung die bekannten eigendynamischen Prozesse von Monokultur-Institutionen möglichst gar nicht aufkommen zu lassen. Die Erfahrung zeigt, dass in einer so durchmischten Gemeinschaft sich plötzlich völlig unvorhersehbare Dynamiken und Erlebnisse. Dazu drei Beispiele:
M. ist ein kräftiger 14-Jähriger, der aus der öffentlichen Schule ausgeschlossen wurde und sich längere Zeit mit Delikten über Wasser gehalten hat. Er ist neu in der Fattoria und es passt ihm vieles nicht. So geht er einmal auf eine Gruppe von BewohnerInnen zu, wirft sich in Imponierposition und provoziert: „Dir schisset mi a. Dir chömet überhaupt nid drus – Mann! No einisch und de chlepfts!“ Die anderen Bewohnerinnen schauen ihn nur verständnislos an und schweigen. Auf seine aggressive Aktion eine totale Null-Reaktion des Gegenübers: damit hat A. nicht gerechnet, das kennt er nicht. Er wendet sich um und zieht verunsichert ab.
U. ist 17-jährig, auch aus der Gruppe der dissozialisierten Jugendlichen: seit 2 Jahren in der Fattoria, weil er die Schule geschmissen und verschiedene Delikte begangen hat. Immer nach der neusten Mode gekleidet ist ihm seine Erscheinung und der Umgang mit ebenso modischen Jugendlichen sehr wichtig. In der Freizeit bastelt er an Motoren. Einmal hat er ein Dilemma: er braucht in Bellinzona ein Ersatzteil, kennt aber den Weg und die Busverbindungen zum Geschäft nicht. Soll er B. fragen, der stark sehbehindert und durch ein Asperger-Syndrom in seinem Verhalten etwas auffällig ist, sich nichts aus Markenkleidern macht, aber jede Bahn- und Busverbindung auswendig kennt …? Schliesslich obsiegt bei U. das Verlangen nach einem reparierten Motor und er überwindet sich. B. ist in seiner lieben und hilfsbereiten Art bereit, ihn zu begleiten und löst die Sache mit den Verbindungen und dem Umsteigen souverän. U. ist nach der Rückkehr ganz begeistert: „He, der kennt jede Haltestelle und weiss genau, wo man umsteigen muss und wann der nächste Bus kommt. Der weiss alles!“ Und B. ist stolz, dass sein Wissen und seine Person gewürdigt werden, dass er mit seinen Stärken jemandem geholfen hat.
A. besuchte das Gymnasium, bis er wegen einer schweren Depression in die Klinik musste und dort über 2 Jahre verbrachte. Er spürt in sich einen Überdruss an Unterricht und Lernen und will deshalb später eine handwerkliche Lehre machen.
K. will seine Maturität erreichen obwohl er in Mathematik grosse Mühe hat und einzelne Aufgaben nicht versteht. K. ist in einem Dilemma.
Eines Abends fragt K. schlussendlich A., ob er ihm mal bei den Aufgaben helfen könne… A. setzt sich still hin und beginnt zu Rechnen. Dann erklärt er K. mit leiser Stimme die Lösungswege der verschiedenen Gleichungen. So wird er zu K.’s Privat-Mathelehrer. In den folgenden Monaten sitzen sie abends stundenlang in der Küche oder im Soggiorno und der redescheue, in sich zurückgezogene A. zeigt dem redegewandten, weltmännischen K. die Lösungswege in der Mathematik auf. Im Sommer 2012 schloss K. seine Ausbildung an der Scuola media di commercio in Locarno mit Berufsmatur ab!
Solche Ereignisse und Entwicklungen sind grundsätzlich nicht planbar. Sie entstehen als ‹Geschenk› in einer Alltagssituation und einer jeweilig vorhandenen Gruppenzusammensetzung. Diese den jungen Menschen im eigentlichen Sinn berührenden und bildenden Prozesse können sich so nur in durchmischten Gruppen einstellen. Dabei laufen die wichtigen Prozesse direkt unter den Bewohner:innen mit ihren unterschiedlichen Stärken und Schwächen ab.
Die Pädagog:innen müssen dabei nicht direkt pädagogisch intervenieren. Ihre Rolle ist die der aufmerksamen Beobachter:innen und Prozessbegleiter:innen. Um als Pädagog:in solche Prozesse begleiten zu können braucht es nicht nur eine grosse Wachheit der Wahrnehmung sondern auch das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit und Selbstregulation der Bewohner:innen. Und es setzt bei den Pädagog:innen eine innere Haltung der Gleichwertigkeit des Menschen voraus, welche erst eine partnerschaftliche Unterstützung der Betreuenden ermöglicht. Das heisst auch, sich als professionelle Unterstützende zu sehen mit der Überzeugung, dass jeder Mensch
- lernen möchte und dies mit den entsprechenden Voraussetzungen auch kann;
- sein Potential entfalten, sich entwickeln und sich zeigen möchte;
- anerkannt und zugehörig sein möchte.
An die Mitarbeitenden stellt das Konzept der Soziodiversität hohe bis sehr hohe Anforderungen. Sie müssen als Mensch in sich selbst eine entsprechende Haltung und Fachlichkeit entwickeln und sich als Professionelle in einem multiprofessionellen Team mit interdisziplinären Arbeitsbereichen und Aufgaben zurechtzufinden. Dies beinhaltet auch die Bereitschaft zu teilweise intensiven Konfrontationen und zur gemeinsamen Weiterentwicklung und Neuentwicklung von Handlungskonzepten. Da ist innere Offenheit und Lernen an den Erfahrungen in der Praxis gefragt. Denn in den bestehenden Ausbildungen können diese Kompetenzen der Soziodiversität nicht erworben werden.
Das heisst für die Zukunft: um Soziodiversität in Institutionen überhaupt leben zu können, müsste zuerst die entsprechende Qualifizierung von Fachkräften im schulischen und betreuenden Bereich verändert werden, um eindimensionale Handlungsstrategien zugunsten von systemisch-dynamischen und mehrperspektivisch-integralen Handlungsweisen zu überwinden (vgl. auch Störmer 2003, 124).