14.7 Beziehungskonstanz in der Fattoria Gerbione

Bei beziehungsgestörten Jugendlichen wissenschaftlich ‹Objektkonstanz› zu propagieren und in der Realität bis 20 wechselnde Personen pro Tag auf die Jugendlichen loszulassen, ist ein Widerspruch in sich (vgl. Kap. 6.4). Alle grösseren stationären Institutionen befinden sich in diesem massiven pädagogischen Dilemma.

Unsere kleine Struktur der Fattoria Gerbione erlaubt uns, den Alltag mit unseren Bewohner:innen zu teilen, indem das Leitungsehepaar und zumindest der/die Sozialpädagog:in in Ausbildung intern wohnen. Die Kleinheit plus das exemplarische mit den Bewohner:innen zusammen Leben ermöglicht die geforderte Beziehungskonstanz. Das heisst in letzer Konsequenz für die Nacherziehung: man muss mit den Jugendlichen zusammen leben. Denn: «Sehr wohl stellt es jedoch einen positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung dar, wenn die Professionellen mit den jungen Menschen an einem Ort leben» (Macsenaere/Esser, 2012, 80).

Meine Frau und ich haben zwischen 2004 bis zur Leitungsübergabe 2016 intern gewohnt, in der ‹Leitungswohnung› direkt über den Jugendlichen. Das machen unsere Nachfolger, ein Leitungsehepaar, seit 2016 ebenso. Das bestehende Dilemma lässt sich eigentlich nur so lösen, dass sich einzelne Professionelle für eine gewissen Zeit als direkte, konstant anwesende Bindungsperson zur Verfügung stellen. Das ist keineswegs eine revolutionäre neue Entwicklung. Ich erinnere daran, dass dies in allen stationären Institutionen bis in die 1980-er oder gar 1990-er Jahre eine Selbstverständlichkeit war. (vgl. Kap. 4.3). Als ich 1977 meine Arbeit in der Heimschule Schlössli begann, lebte die Mehrheit der jungen pädagogischen Mitarbeitenden zusammen mit den Kindern und Jugendlichen in den Wohnhäusern (siehe auch Kap. 11.3 ‹Individualisierung›).

Dieses ‹Mit den Bewohner:innen zusammen Leben› wirkt auf mehreren Ebenen positiv:

  • Alltags-Konsequenz: Wenn ein Bewohner die Bässe seines Sound-Systems unter meinem Büro, Wohnzimmer oder Schlafzimmer ausprobiert, interveniere ich direkt und bin aus eigenem ganz persönlichem Interesse für Nachhaltigkeit besorgt. Wenn ich dagegen als extern wohnender Mitarbeiter weiss, dass mein Dienst in einer halben Stunde um ist, nehme ich den Lärm eher in Kauf und gehe solche Konfrontationen weniger konsequent ein.
  • Ganzheitlichere Lebensgestaltung in der Institution: Die Fattoria Gerbione ist nicht nur unser Arbeitsort, sondern auch unser Lebens- und Wohnort. Wir wollen, dass es da wohnlich, gemütlich, ästhetisch und sauber ist. Es sind primär die intern wohnenden Betreuungspersonen, welche die Wohnkultur vorgeben, bestimmen und den Bewohner:innen direkt vorleben.
  • Konstanz: Der grösste und wichtigste Unterschied ist wohl, dass unsere Bewohner:innen konstant die gleichen Menschen um sich haben. Beziehungslernen kann schwerlich stattfinden, wenn pro Tag 6 bis 8 verschiedene Mitarbeitende nacheinander am selben Thema arbeiten wollen. Der Heilungsweg geht vielmehr über eine exemplarische Beziehungsaufnahme und Gestaltung zu wenigen, aber möglichst konstanten, anwesenden Personen.
  • Nach jedem Neueintritt braucht es in den ersten Monaten viel Zeit und Kraft. Aber wenn die Hierarchie und die Regeln für die Jugendlichen dann geklärt sind, sind die meisten dieser Jugendlichen sehr dankbar, dass man mit ihnen zusammenlebt, sie so aushält und mit ihnen den Alltag gestaltet und verbringt.

In der Fattoria Gerbione haben wir mit 80 bis 94% ausgebildetem Fachpersonal einen deutlich höheren Anteil als vorgeschrieben. Die Mitarbeitenden verfügen über mindestens zwei Berufe, davon einen pädagogischen Fachabschluss plus praktische Fähigkeiten. Diese hohe Professionalität und die berufliche und menschliche Vielfalt bei den Mitarbeitenden ist ein ‹Preis› der Soziodiversität. Der materielle Lohn für diesen zusätzlichen Aufwand ist bei allen Mitarbeitenden inklusive Leitung ein Einheitslohn von Fr. 6’300.- pro Monat bei einer 100%-Stelle.

Der immaterielle Lohn für diesen zusätzlichen Aufwand ist für Mitarbeitende, die sich auf eine zu entwickelnde Multiprofessionalität und Interdisziplinarität einlassen, dass sie zwischendurch immer wieder neue Erfahrungen und Einblicke bis ergreifende Erlebnisse in das Unbekannte erhalten, was sich hinter bestehenden pädagogischen Grenzen an neuen Perspektiven eröffnen kann.