In Gesprächen mit dissozialisierten Jugendlichen erstaunt immer wieder, wie Werte-konservativ diese ‹bösen› Buben und Mädchen sind. Man könnte von diesen GrenzgängerInnen erwarten, die sich oft massiv über gesellschaftliche Normen und Werte hinwegsetzen, , dass sie sich eine ganz eigene Wertesynthese zurechtgelegt haben. Sicher sagt mal eine Jugendliche, sie wolle die berühmteste Prostituierte von Zürich werden oder ein Jugendlicher träumt davon, der grösste Dealer von Bern zu sein, weil sie dieses Business schon gut kennen. Aber auch da sind im Hintergrund letztlich sehr gesellschaftskonforme Werte zu finden wie ‹viel Geld haben›, ‹erfolgreich sein› und ‹unabhängig sein›. Geschätzte 80 bis 90% dieser Jugendlichen geben in Gesprächen an, dass sie zuerst einen Schulabschluss, dann eine Lehre machen, dann eine eigene Wohnung mieten, ein Auto kaufen, in einer guten Partnerschaft leben, vielleicht mal zwei Kinder haben und ein ruhiges Leben führen wollen. Diese Jugendlichen sind in ihren ganz persönlichen Wertehaltungen in Bezug auf den eigenen Zukunftsentwurf mehrheitlich gut bürgerlich-konservativ. Im Gegensatz zu den 1970-er und 1980er Jahren ist bei der Mehrheit dieser Jugendlichen die Normalität der Normalgesellschaft zu einem erstrebenswerten Wert geworden. Darin offenbart sich ein ‹Wille zur Norm›. Wenn ich wie die Anderen bin, dann habe ich ein normales Leben. Dann fällt es mir leichter, die anderen zu verstehen und die Wahrscheinlichkeit, von anderen verstanden zu werden, ist ebenfalls grösser (Zimpel 1998, 48). Der Wunsch nach Normalität weist auf das Bedürfnis und die beruhigende Sicherheit dazuzugehören, normal zu sein, nicht aufzufallen und sich nicht dauernd legitimieren zu müssen.
Es ist mein Credo, die wertegebundene Erziehung zu fördern. Dabei ist jegliche normative Pädagogik abzulehnen. Pädagog:innen müssen jedoch Werte und Normen als pädagogische Haltung befürworten. Für die Nacherziehung bedeutet dies, dass im Alltag mit den Jugendlichen Werte angelegt und aufgebaut werden. Wir müssen Werte vorleben, loben und bestärken, aber auch klar eingreifen, wenn Werte nicht eingehalten werden. Nur wo Werte gelebt und vermittelt werden, kann Erziehung gelingen! Wenn in einer Gesellschaft Werte wie Respekt, Anstand und Toleranz fehlen, gibt es für Kinder und Jugendliche keine Massstäbe, an denen sie sich als Individuum orientieren können. Sie sind die zu erziehende und zu bildende nachwachsende Generation. Erziehung, Bildung und Unterricht sind die zentralen Bereiche von Pädagogik innerhalb eines gesellschaftlich definierten Normen- und Wertesystems.
Für viele Vertreter der Erziehungswissenschaften sind Normen und Werte in der Pädagogik gleichbedeutend mit normativer Pädagogik – und beide bilden keine Basis für ihre Forschungen. Das ist zu akzeptieren. Deshalb sind die Diskussionen um Normen und Werte in den praxisbezogenen pädagogischen Wissenschaften zu positionieren. Für Pädagog:innen gilt: wir benötigen Normen und Werte in unserer Arbeit.
Wichtige Werte von Erwachsenen und Jugendlichen
Welche Werte erachten Erwachsene in der Erziehung von heute als wichtig? Welche Werte erachten die Jugendlichen selbst als wichtig? Betrachten wir die Ergebnisse von zwei Studien aus Deutschland und zwei Erhebungen aus der Schweiz. Die Studien aus Deutschland dürften mit je über 2’000 Befragten insgesamt repräsentativere Ergebnisse liefern als die kleineren Schweizer Umfragen mit je 1’000 Teilnehmenden.
Abb. 6 zeigt die Ergebnisse einer Repräsentativbefragung von 2’000 Personen in Deutschland. Allgemein zeigen diese Ergebnisse, dass seit Mitte der 90er Jahre traditionelle Werte eher wieder an Bedeutung gewinnen. Es stehen Ehrlichkeit (79%), Selbstständigkeit (65%), Verlässlichkeit (64%) und Hilfsbereitschaft (64%) in der Werteskala ganz oben. Auch konventionellen Werten wie Höflichkeit (59%), Anstand und gutem Benehmen (61%) wird eine hohe Bedeutung zugemessen. Obwohl Hartmut von Hentig ‹Austragen von Konflikten›, ‹Mut und Überzeugung› zu den heutigen Tugenden und Erziehungszielen zählt (vgl. Kap. 9.1.3 Erziehungsziele S. 224), landet die Kritikfähigkeit weit abgeschlagen am Schluss der Liste.
Abb. 6: Werteorientierte Erziehung in Deutschland
Von je 100 Befragten nennen als besonders wichtige Erziehungsziele:

Quelle: Stutzer/Saleth 2006
Die Shell-Jugendstudie erfasst in Deutschland periodisch die Werteorientierung von über 2’500 Jugendlichen im Alter zwischen 12 bis 25 Jahren. Dargestellt sind die Ergebnisse der Jahre 2002, 2010 2015 und 2019, was über die Veränderung von einzelnen Werten eine gewisse Aussagefähigkeit ermöglicht.
Die Ergebnisse (Abb. 7) zeigen, dass die Werte und die Lebenseinstellungen von Jugendlichen in den vergangenen Jahren zunehmend auf einer pragmatischen Wertesynthese basieren, in der sich plurale Wertekonzepte nicht ausschliessen. So sind Selbstdisziplin und Selbstverwirklichung, Bindung und Freiheit für die Jugendlichen keine Widersprüche, sondern ergänzen sich. ‹Traditionelle› und ‹moderne› Werte stehen nebeneinander: Fleiss und Durchsetzungsvermögen (>80%) werden für ebenso wichtig gehalten wie Spass und Genuss am Leben (80%) und soiale Verantwortung wahrnehmen (>60%).
Abb. 7: Werteorientierung von Jugendlichen
Von je 100 Jugendlichen nennen als besonders wichtigen Wert:

Quelle: Albert et al.: Shell Jugendstudie BRD (2002, 2010, 2015, 2019)
Die wichtigsten Werte der Jugendlichen sind seit Jahren ein ‹Gutes Familienleben führen› und ‹Gute Freunde haben›. Die Bereitschaft ‹Sozial Benachteiligten zu helfen› steigt seit 2000 kontinuierlich an und erreicht neu einen Wert von 62%. Am meisten verändert hat sich in den vergangenen 20 Jahren das Bewusstsein und die Bereitschaft ‹Sich umweltbewusst zu verhalten› (neu 71%). Dagegen verloren materielle Dinge wie Macht oder ein hoher Lebensstandard eher an Bedeutung. Aber auch der ‹Glaube an Gott› hat bei Jugendlichen kontinuierlich abgenommen.
Der ‹Beobachter› veröffentlichte in der Nr. 1/2010 die Ergebnisse einer Umfrage in der Schweiz bei 1’000 Teilnehmenden zur Frage: «Welche Werte sind in der Schweiz heute wichtig?» (Meier 2010). Die befragten Personen konnten die Werte ohne Vorgaben nennen, was aus Sicht des Beobachters zu einem besonders authentischen Meinungsbild führt. Dies erklärt zugleich, weshalb die Prozentsätze deutlich tiefer ausfallen als in den Ergebnissen der Studien aus Deutschland.
Abb. 8: Welche Werte/Bereiche sind Ihnen persönlich im Leben wichtig?

Quelle: Meier. Was uns im Leben wichtig ist. Beobachter 1/2010

Lesebeispiel: 16,4 Prozent der Befragten gaben ‹Gesundheit› als persönlich wichtigen Wert oder Lebensbereich an. Die Mehrheit meinte zudem, dass dieser Wert in der letzten Zeit an Bedeutung gewonnen hat (↑).
Die Nennungen sind in je einer Grafik für private Werte (Abb. 8) und gesellschaftliche Werte (Abb. 9) dargestellt.
Abb. 9: Welche Werte/Bereiche sind Ihnen gesellschaftlich im Leben wichtig?

Quelle: Meier. Was uns im Leben wichtig ist. Beobachter 1/2010
Freunde werden hier nicht als privater Wert, sondern als gesellschaftlicher Wert verstanden, im Sinne eines sozialen Netzwerks und sind deshalb in Abb. 9 aufgeführt. Die wichtigsten persönlichen Werte der SchweizerInnen sind damit Gesundheit, Familienleben, persönliche Sicherheit (dabei vor allem finanzielle Sicherheit) und Arbeit. Alle diese Werte haben nach Ansicht der Befragten an Bedeutung gewonnen. Die Kategorie Respekt umfasst auch Toleranz und Wertschätzung. Damit sind diejenigen Werte wichtiger geworden, die das direkte engere Lebensumfeld betreffen. Die Untersucher sehen drei Gründe für diese Entwicklung: die Wirtschaft ist globalisiert und scheint zunehmend unkontrollierbar, das Vertrauen in die Politik, welche z.B. Lösungen gegen geldgierige Wirtschafts- und Bankenvertreter suchen müsste schwindet und die Gesellschaft zersplittert immer stärker. Das Bedürfnis des einzelnen Menschen nach Kontrolle, Überschaubarkeit und Verbundenheit kann im persönlichen Umfeld viel besser befriedigt werden. Und die gefährdeten Werte Respekt, Toleranz und Vertrauen werden dort eher erfahren – oder können zumindest besser eingefordert werden. Es wäre aber sicherlich falsch, diese Ergebnisse einseitig so zu interpretieren, dass ein ‹Rückzug ins Private› erfolgt.
Die neuste Werte-Erhebung wurde 2022 von Statista online bei 1’006 schweizerischen Jugendlichen im Alter zwischen 12 bis 25 Jahren durchgeführt.
Abb. 10: Welche Dinge sind für Sie persönlich in Ihrem Leben äusserst / sehr wichtig?

Quelle: Statista 2022
Abb. 10 zeigt die 10 wichtigsten und 6 unwichtigsten Werte. Auch diese Resultate zeigen, dass heute Werte wie ‹Verantwortungsbewusst leben› (70%) und ‹Umwelt schützen› (62%) zu den wichtigsten Lebensinhalten gehören. Allerdings landet der eigene Wille ‹Mit Handeln die Welt bewegen› (34%) auf den hinteren Plätzen.
Wie in der Shell-Studie zeigt sich auch hier, dass materieller Reichtum wie ‹Viel Geld verdienen› (29%), das einen herkömlich hohen Lebensstandard ermöglicht, an Bedeutung verloren hat.
Von diesen zwei wichtigen Veränderungen abgesehen, zeigen die Ergebnisse dieser Studien, dass die ‹alten Werte› seit Ende der 1970er Jahre insgesamt recht stabil sind. Weder die wissenschaftliche Forschung noch die Ergebnisse von Wertestudien scheinen den immer wieder zu hörenden «Werteverfall unserer Gesellschaft» zu bestätigen. Hinzu kommt, dass die heutige wissenschaftstheoretische Diskussion um Ethik, Werte und Normen in der Pädagogik eher eine skeptische Tendenz zeigt, denn «zu lange und zu oft wurden Macht und Gewaltausübung gegenüber der nachwachsenden Generation mit Moral legitimiert.» (Gudjons 2012, 200).
Normen und Werten drücken sich in jedem System und seinen Subsystemen aus. Abb. 11 zeigt die dabei involvierten Systemebenen:
- Im Zentrum steht der jugendliche Mensch als Individuum mit seiner Individuation. Jede Individuation ist ein einzigartiger Weg eines ‹Ich›, das sich in der je eigenen Biografie ausdrückt.
- Durch die Erziehung sollen und müssen jedem Kind/Jugendlichen Normen und Werte vermittelt werden. Erziehung und Bildung haben damit immer auch die Aufgabe, das Individuum sozial zu machen. Die Erziehung selbst ist Teil der Sozialisation.
- Die Sozialisation ist Teil der Enkulturation. Und die Enkulturation ist Teil der Globalisation.
- Globalisation ist der umfassendste Prozess. Nach Montessori beinhaltet sie die ‹Ökologie- und Friedenserziehung› oder die ‹kosmischen Basisfähigkeiten›. Die Maastrichter Erklärung von 2002 nennt sie ‹Global-education›
Abb. 11: Globalisation, Enkulturation, Sozialisation, Erziehung, Individuation

Quelle: Gudjons 2012, 188; erweiterte Fassung
Jedes Individuum benötigt Erziehung. Ohne Erziehung gibt es keine Sozialisation als Teilhabe am sozialen Leben. Ohne Sozialisation gibt es keine Teilhabe an der Kultur. Und ohne Kultur ist menschliches Überleben gar nicht möglich. Dass sogar die Globalisation als Erwerb von ökologischen Fähigkeiten für unser Überleben wichtig und sogar dringlich ist, wird uns erst seit einigen Jahren durch die Klimaerwärmung zunehmend bewusst.
Sozialisation und Enkulturation als pädagogische Erfordernisse sind Inhalt des nächsten Kapitels.