3.1 Sozialisation

Unter dem Begriff Sozialisation wird die Gesamtheit der gesellschaftlichen Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen verstanden (Tillmann 2000). Konkreter: es geht um die Interaktion (= Wechselwirkung, Aufeinanderbezogensein) zwischen der gesellschaftlichen Umwelt und dem individuellen Menschen. Gemeint ist nicht, dass sich das Individuum per se der Gesellschaft unterordnen soll; Sozialisation meint eine dynamische Person-Umwelt-Beziehung (Hurrelmann/Ullrich/Grundmann/Walper 2015, 15). Es gibt auch nicht die Sozialisation als richtige Methode oder als richtiges Mass. Denn Sozialisation ist an sich ein begriffliches Konstrukt, ein Bündel von theoretischen Fragen- und Problemstellungen, das sich in analytischer Absicht mit einem nicht unmittelbar beobachtbaren Ausschnitt der Realität beschäftigt (vgl. Bauer/Hurrelmann 2007). Das heisst konkreter: Wir können zwar unmittelbar das Verhalten von Menschen beobachten, aber die Prozesse, die (vermutlich) zu diesem Verhalten geführt haben sind uns nicht unmittelbar anschaulich, sie sind begriffliche Konstrukte, Vermutungen, Interpretationen.

Definition Sozialisation

Die Definition von Hurrelmann/Ullrich/Grundmann/Walper ist in Theorie und Praxis allgemein anerkannt. Als wissenschaftliche Definitionen mutet sie auf den ersten Blick kompliziert an, bei näherer Betrachtung erweist sie sich jedoch als einsichtig: «Sozialisation ist ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen» (Hurrelmann et al 2015, 25). In dieser Definition sind die wesentlichen Inhalte der Sozialisation enthalten: Erstens ist die wechselseitige Interdependenz (= gegenseitige Abhängigkeit; das Verhalten eines Teils bedingt und beeinflusst das des anderen und umgekehrt) von Individuum und Gesellschaft so beschrieben, dass keiner der beiden Grössen eine ursprünglichere oder wichtigere Bedeutung zugemessen wird. Zweitens fliessen die individuelle und die gesellschaftliche Ebene als verschiedene Faktoren zusammen ein. Nach Gudjons (2012, 158) sind sie « zwei Seiten einer Medaille». Betrachten wir diese zwei Seiten genauer.

Die biopsychische Grundstruktur des Kindes/Jugendlichen können wir mit anamnestischen resp. medizinischen oder psychodiagnostischen Verfahren erkunden. Aufgrund der Ergebnisse können wir dann verstehend nachvollziehen, wie die Lebensereignisse diesen Menschen beeinflusst und geprägt haben in seinen Bedürfnissen, Emotionen, Denkweisen oder Reaktionsmechanismen. Darauf aufbauend werden Fragestellungen nach Vitalität, Stärken und Schwächen, Ressourcen und Gefahren, Schutz und Begrenzung, Autonomie, Potential beantwortbar.

Die grosse Mehrheit der Kinder und Jugendlichen erfährt eine erfolgreiche Sozialisation. Diese erfolgt in der Regel, wenn in den Lebensverhältnissen des Kindes, Jugendlichen und seiner unmittelbaren Umgebung (Familie, Schule) relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster entstehen und bestehen bleiben. Es ist wesentlich diese Konstanz, welche Geborgenheit, soziale Anerkennung, Entwicklung und Leistung ermöglicht.

Anders verläuft in den meisten Fällen der Prozess einer missglückten Sozialisation. In der Regel sind hier in den Interaktionsprozessen der Kindheit und Jugend tief einschneidende Erlebnisse festzustellen. Diese können sich als einmalig traumatisches Erlebnis oder als sich wiederholende Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsanpassungen zeigen. Erlebt das Kind in seiner persönlichen Wahrnehmung zu wenig an Geborgenheit, sozialer Anerkennung oder zu wenig an Entwicklungs- und Leistungsmöglichkeiten, erfährt es sich als Opfer. Spätestens ab dem Zeitpunkt der einsetzenden Pubertät entwickelt sich aus einem solchen Opfer meist ein Täter, weil sich der Mensch in aktiver Teilhabe und Gestaltung seiner sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse sehen will. Das Ergebnis einer solchen missglückten Sozialisation erfahren wir als dissoziales Verhalten und/oder als psychische Krankheit. Um die Einzelbiografie zu verstehen, können wir fragen: In welchem Lebensalter haben die ersten Auffälligkeiten eingesetzt? In welcher Art und Weise zeigten sich diese Auffälligkeiten? So können wir feststellen, dass der Mensch auch hier im Sinne der Reziprozität (= Wechselseitigkeit) und der Rückkoppelungsprozess auf seine Umwelt zurückwirkt.

Die Gesellschaft als soziale und physische Umwelt hat ihre Gesetze und Verordnungen, gibt Freiheiten und setzt Grenzen. Jede Gesellschaft muss sich immer wieder Fragen nach ihren Möglichkeiten und Grenzen bei Sozialisationsprozessen stellen: Wie gross sind bei uns die gesellschaftlich-institutionellen Spielräume? Wie gestalten wir die Einflussmöglichkeiten? Wo setzen wir klare Grenzen? Wie müssen wir unsere Gesellschaft gestalten, um sozial verträglich zu sein? (z.B. zwischen Jungen und Alten, zwischen Armen und Reichen, zwischen Progressiven und Konservativen, bei Selbst- und Fremdgefährdenden). Bei verhaltensauffälligen Kindern oder dissozialisierten resp. psychisch kranken Jugendlichen stellt sich die spezifische Frage: Wie müssen wir Rettungsinseln gestalten, wenn eine Sozialisation missglückt? Dabei braucht es Rettungsinseln zum Schutz der Kinder und Jugendlichen und zum Schutz der Gesellschaft. In solchen Fragestellungen zeigt sich deutlich, dass sowohl die theoretische Sozialisationsforschung als auch der praktische Umgang mit dissozialisierten Jugendlichen ein erhebliches gesellschaftskritisches Potential enthält.

Die heutige Sozialisationsforschung anerkennt biologische Anlagen, welche die Sozialisationsprozesse der Kindheit und Jugend mitbestimmen. Die Tatsache, dass das Kind genetische resp. vorgeburtliche Anlagen ins Leben mitbringt, welche die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprozesse zusammen mit den sozialisatorischen Einflüssen der Um- und Mitwelt bestimmen, ist im Ergebnis nur als sehr komplexes Zusammenspiel verstehbar. Die Sozialisationsforschung geht davon aus, dass die genetischen oder vorgeburtlichen Ausstattungsmerkmale keinen bestimmenden, sondern nur einen moderierenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben: «Sie stellen Dispositionen dar, die erst durch Umweltimpulse aktiviert … und mit Bedeutung versehen werden» (Bauer/Hurrelmann 2007, 675).

Struktur der Sozialisationsbedingungen

Versuchen wir eine Konkretisierung dieser Aussagen auf das Individuum bezogen. Im Mittelpunkt der heutigen Sozialisationsforschung steht der Mensch, die Individualität – oder wie Hurrelmann/Ullrich (1995, 9) wissenschaftlich formulieren: das Modell des «produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts». Die beiden grossen Teilnehmer, die biopsychische Grundstruktur des Individuums auf der einen Seite und die soziale und physische Umwelt der Gesamtgesellschaft auf der anderen Seite, bestimmen die Art und Weise der produktiven Realitätsverarbeitung. Anlage und Umwelt finden ihren Schnittpunkt in der Persönlichkeit, dem Ich, mit der je eigenen Persönlichkeits- resp. Ich-Entwicklung. Diese Entwicklung geschieht in Vermittlungs- und Anpassungsprozessen, wesentlich durch die Mittel der Interaktion, Kommunikation und Tätigkeit von Institutionen der Gesamtgesellschaft. Daraus ergibt sich eine Strukturskizze:

Abb. 12: Struktur der Sozialisationsbedingungen

                                                                                               Quelle: Tillmann 2000; erweiterte Fassung

Die Abbildung zeigt, dass die Gesamtgesellschaft (4) nicht direkt, sondern nur indirekt, quasi in Vermittlung über die Institutionen (3) und Interaktionen (2) das Individuum (1) beeinflusst. Die doppelseitigen Pfeile weisen darauf hin, dass der Einfluss nicht einseitig bestimmend von oben nach unten verläuft. Obwohl die nächst höhere Ebene selbstverständlich immer die Bedingungen für die nächst untere setzt, wirkt umgekehrt die jeweils untere Ebene auch auf die nächst höhere zurück.

Die Sozialisationsinstanzen sind im Normalfall die Familie mit Eltern, Geschwister und Verwandten; Lehrer:innen in der Schule; Organisationen wie Sport-, Musikvereine, Jugendgruppen; Berufsausbildung resp. Arbeitsmarkt; Massenmedien und Socialnetworks u.a.m.

Bei den Sozialisationseffekten wird unterschieden zwischen primärer Sozialisation (durch z.B. Familienbeziehungen, Kindergarten, Schule, die alle direkt erziehend einwirken), sekundärer Sozialisation (z.B. Mitschüler:innen, Gruppen der Gleichaltrigen) und tertiärer Sozialisation (z.B. Berufsausbildung, Weiterbildung, Vereinsleben, Alter).

Der Staat (4) kann mit seinen Strukturen der Legislative, Exekutive und Judikative nicht direkt sozialisierend wirken – weder auf Bundes- Kantonal- noch Gemeindeebene. Ebenso wirkt die Ebene ‹Institution› (3) mit ihren Behörden und Ämtern (Jugendanwaltschaften, KESB, Polizei) oder ihren ambulanten resp. stationären Institutionen (Familienbegleitung, Jugendheime, Jugendgefängnisse) nicht direkt sozialisierend. Sie alle können nur indirekt – über die Vermittlung der Ebene (2) – den Jugendlichen (1) beeinflussen.

 Fazit für die Nacherziehung
 Sozialisation geschieht nur dort, wo der Mensch dem Menschen begegnet, wo sich Erwachsene auf der Ebene ‹Interaktion und Tätigkeiten› (2) direkt mit Kindern/Jugendlichen auseinandersetzen. Für die praktische Arbeit der Nacherziehung heisst das: Sozialisation erreichen wir nur im direkten Kontakt, in der direkten Beziehung von Mensch zu Mensch, in der direkten Auseinandersetzung zwischen Betreuenden und Jugendlichen! Alle anderen Komponenten sind Teilnehmende in Begleit-, Stütz-, Finanzierungs- und Kontrollprozessen.