Menschliches Leben findet immer innerhalb einer Kultur statt. Der Begriff Enkulturation bezeichnet das Hineinwachsen, die Eingliederung eines einzelnen Individuums in eine Kultur, wobei die Übernahme von Werten und Normen sowie die Auseinandersetzung mit kulturadäquaten Rollenmodellen wichtige Inhalte sind. Eine gelingende Enkulturation setzt die Aneignung und das Akzeptieren von kulturellen Massstäben und Symbolen voraus (vgl. Wenninger 2000, 387). Im Wesentlichen sind dies: das Erlernen und Teilhaben an Sprache, gefühlsmässigen Ausdrucksformen, Rollen, Spielregeln, Arbeits- und Wirtschaftsformen, moralischen Ordnungen, Künsten, Religion, Recht und Politik. Diese Inhalte der Enkulturation sind der Sozialisation übergeordnet. Dazu ein Beispiel: In der Enkulturation lernt der Mensch die deutsche Sprache. In der Sozialisation lernt er, dass er die Sprache nicht zum Fluchen, ‹dissen› oder sonstiger verbaler Aggression benutzen soll. Die Erziehung betont dabei wiederholend und korrigierend die beabsichtigte Zielsetzung dieses Prozesses (vgl. Gudjons 2012, 188). Tenorth beschreibt zusammenfassend: «Erziehung wird als ‹Sozialmachung› beschrieben, Sozialisation als ‹Sozialwerdung›, beide als Moment der ‹Enkulturation›, also des Lernens von Normen und Werten einer Gesellschaft» (Tenorth 2010, 19).
Die meisten Menschen definieren die eigene Kultur als ‹normal›. Es ist interessant, dass uns die eigene Kulturhaftigkeit nur im Kontrast zu anderen, fremden Kulturen erfahrbar und bewusst erscheint. Der Ethnologe Nigel Barley vergleicht deshalb die Kulturhaftigkeit mit der Nase: «Wir sehen sie nicht, weil sie genau vor unseren Augen liegt und wir gewohnt sind, die Welt unmittelbar durch sie hindurch zu betrachten. Wenn wir sie überhaupt wahrnehmen, sehen wir sie als Teil der Welt. Die Kultur der Anderen indes ist, wie die Nasen in ihren Gesichtern, offenkundig und bietet sich für unvoreingenommene und langwierige Forschungen und Vergleiche an» (Barley 1999, 9).
3.2.1 Enkulturation als Thema der Nacherziehung
Das Hineinwachsen in unsere Kultur scheint für viele Jugendliche schwieriger geworden zu sein. Bei dieser Feststellung muss jedoch die zunehmende kulturelle Durchmischung, die Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund berücksichtigt werden. Es gilt, zwischen den verschiedenen Herkunftskulturen zu unterscheiden:
- Bei der Nacherziehung von Jugendlichen, die in der Schweiz und im mitteleuropäischen Raum geboren und aufgewachsen sind, ist in der Regel keine massive Ablehnung der Kultur vorhanden. Sie setzen sich zwar über die bei uns geltenden Rollen, Spielregeln, Arbeits- und Wirtschaftsformen, moralischen Ordnungen oder Gesetzgebung hinweg. Manche zeigen ein explizites Unverständnis dafür oder monieren über die ‹Scheissgesellschaft› oder sie erklären unsere Gesellschaft als ‹huerebrutal›, in der sie ebenso brutal sein müssen um nicht unterzugehen. Aber die eigene Kultur wird in der Regel als normal und selbstverständlich angesehen.
- Bei Jugendlichen, die ausserhalb unseres Kulturkreises aufgewachsen sind, teilweise in Gassengangs von Grossstädten mitmachten oder Kriege miterlebten, ist Enkulturation ein Dauerproblem. Jugendliche aus den Balkanländern, aus Afrika oder Südamerika sind nicht nur in ganz anderen Kulturen aufgewachsen, sondern leiden zudem häufig an traumatischen Kindheitserfahrungen, was die Arbeit zusätzlich massiv erschwert. Eine Integration in unsere Gesellschaft ist in solchen Fällen nur mit grösstem Einsatz und jahrelanger intensivster Arbeit möglich.
Durch die Globalisierung wachsen heute immer mehr Kinder und Jugendliche in verschiedenen Kulturen auf, die sich im täglichen Lebensvollzug verschiedenartig und häufig gar widersprüchlich gestalten können. Nach Bazzi ist es deshalb wichtig, dass sich Kinder, Jugendliche und Professionelle mit den verschiedenartigen Eigenheiten und Präferenzen der unterschiedlichen Kulturen auseinandersetzen. Dadurch kann einerseits der Kultur-Zentriertheit, dem Ethnozentrismus, Rassismus und dem Nationalismus entgegengewirkt werden (Bazzi 1980, 30) und andererseits können wir den AusländerInnen die Eigenheiten und Regeln unserer Kultur näherbringen.
Unter dem Aspekt, dass es von jedem/r einzelnen Jugendlichen eine individuelle Leistung erfordert in eine Kultur hineinzuwachsen, kann die Gruppe der verhaltensauffälligen Jugendlichen beschrieben werden:
- Bei Jugendlichen mit primär psychiatrischen Diagnosen scheint vermehrt ein Rückzug aus Gesellschaft und Kultur festzustellen zu sein. Deutliche biografische Entwicklungsschritte in die Welt hinein geschehen beim Kind im 5./6. und im 9./10. Lebensjahr. Dann folgen weitere Schritte in der Pubertät ums 14. Altersjahr und in der Adoleszenz ums 18. Altersjahr. Bei Pubertierenden und Adoleszenten ist häufiger eine Haltung beobachtbar von «Bevor ich da mitmache in dieser Welt, bevor ich mich hineingebe in diese Gesellschaft, ziehe ich mich lieber wieder zurück». Es scheint, dass sich verschiedene Jugendlichen gar nicht mit der vorhandenen Gesellschaft und Kultur verbinden wollen. Bei solchen Jugendlichen ist eine innere Distanz zur Gesellschaft spürbar, die von Skepsis bis klarer Ablehnung reichen kann. Als Phänomen können uns bei solchen Jugendlichen depressive, schizophrene oder borderlineartige Störungsbilder begegnen, die sich aufgrund von Traumatisierungen und Beziehungsstörungen entwickelten.
- Bei dissozialisierten, straffälligen Jugendlichen stellt sich das Problem anders. Massivste Schwierigkeiten bieten Jugendliche, die aus Kriegsgebieten oder aus Slums zu uns kommen. Da sind Tod und Hinrichtungen, selbst erlebte Gewalt und selbst begangene Gewaltverbrechen und auch Mordtaten erlebte Fakten der Biografie. Wenn wir sie wegen Überschreitungen wie Lügen, Diebstahl, Bedrohungen oder Drogenkonsum konfrontieren, empfinden sie dies als eine unangebrachte Zumutung. Ob solchen Jugendlichen eine Enkulturation als Eingliederung in unsere Kultur als eine Anpassung an unsere Werte, Normen und kulturadäquaten Rollenmodelle gelingt, ist bei jedem/r Jugendlichen zu Beginn der pädagogisch-therapeutischen Arbeit immer wieder eine offene Frage. Bei diesen Jugendlichen ist nur schon eine periphere Integration in unsere Gesellschaft ausschliesslich mit grösstem Einsatz und jahrelanger intensivster Arbeit möglich.