4.1 Fremdplatzierungen vom Mittelalter bis 1750

Die Heimerziehung und die Sozialpädagogik haben ihre Wurzeln in der Armenfürsorge des Mittelalters. In Armenhäusern, in Mundart häufig «Spittel» (Hospital) genannt, wurden nicht nur Alte, Kranke und geistig Verwirrte, sondern auch Kinder und Jugendliche versorgt. Diese «Vielzweckeinrichtungen» (Tuggener 1975, 178) waren für alle Bedürftigen offen. Die Mehrzahl der dort lebenden Kinder waren Waisen- oder Kostkinder, d.h. elternlose Kinder oder solche, deren Eltern oder Verwandte für ihren eigenen Unterhalt und den der Kinder nicht aufkommen konnten. Für die Waisenkinder dürfte die Situation, in einem solchen schicksalhaften Durcheinander mit anderen Kindern und Erwachsenen aufzuwachsen, nicht nur negativ gewesen sein. Für die Unterbringung von kleineren Kindern wurde den Armenhäusern ein Kostgeld bezahlt. Sobald Kinder aber ab 3 bis 4-jährig als arbeitsfähig galten, mussten sie mitarbeiten. Ab dem 10. Lebensjahr wurden sie als vollwertige Arbeitskräfte betrachtet. Deshalb wurden die Waisen- und Kostkinder häufig bei Handwerkern, Bauern oder beim Militär untergebracht, wo sie sich als Hilfskräfte ihren Lebensunterhalt selber verdienten. Im 1637 von der Stadt Zürich eröffneten Waisen- und Zuchthaus wurde die Textilmanufaktur ‹Fabrik› genannt. Die Waisenkinder arbeiteten dort mit, ihre Arbeitszeit betrug bis 16 Stunden pro Tag.

Im Mittelalter wurde Armut als gottgewollt betrachtet und war somit Teil der göttlichen Weltordnung. Armut war eine Tatsache ohne Moral und menschlichem Selbstverschulden. Entsprechend gehörte die Armenfürsorge zur religiösen Praxis. Gemäss katholischer Lehre konnte man mit der Verteilung von Almosen an Arme künftiges Seelenheil erlangen. Auch der Bettel war auf dieselbe Weise religiös begründet.

Zwischen 1600 und 1700 gerieten die die Armenhäuser als Gesamtsammelstelle für Erwachsene und Kinder, Gesunde und Kranke in Kritik. In der Folge wurde eine erste Differenzierung im Betreuungsangebot vorgenommen, die Differenzierung nach Alter. Sie bedeutete die Auftrennung in Krankenhäuser für Erwachsene und spezifische Armenhäuser und Waisenhäuser für Kinder. Der Grund dieser Aufteilung war ein gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsschritt. Im Mittelalter galten Kinder eher als kleine Erwachsene, die körperlich weniger stark waren und etwas weniger arbeiten konnten. Es ist entwicklungsgeschichtlich in unserer Kultur erst rund 300 Jahre her, dass die Kindheit und Jugend als eigene Lebensphase erkannt wurde und es aufgrund dieses neu erwachten Bewusstseins zu klaren Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen kam.

Zwischen 1700 und 1800 erfolgte eine zweite Differenzierung nach dem Kriterium gesund – krank. Sie bezog sich auf die körperliche Fähigkeit der Menschen, ob diese ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit erarbeiten konnten oder dafür zu krank waren. Aus früheren Spitteln wurden die Spitäler für die Kranken. Die Gesunden wurden in Armen-, Arbeits- und Zuchthäusern untergebracht (vgl. Tenorth 2010, Huonker 2004, Tanner 1999, Tuggener 1975).