4.2 Heimentwicklung von 1750 bis 1900

In der Aufklärung (Hauptepoche 1750-1780) wurden die Ideen und Zielsetzungen der modernen Erziehung entwickelt. So schrieb Immanuel Kant 1784 in seinem berühmten Traktat ‹Was ist Aufklärung?›: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude[1]! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.» (Kant, 1977, 53) Diese Forderung ist heute noch gültig, wenn Erziehung als Selbstwerdung und Selbständigkeit unter dem Anspruch der Vernunft verstanden wird.

4.2.1 Johann Heinrich Pestalozzi – der grosse Pädagoge und Aufklärer

Der wohl grösste Pädagoge und Aufklärer dieser Zeitepoche war Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Er kann in seiner Grösse als Aufklärer, Armenerzieher und Erzieher der Menschheit hier nicht annähernd gewürdigt werden. In der Schweiz gilt er als Gründer der Volksschule.

«Der Mensch muss sich in der Welt selbst forthelfen. Dies ihn zu lehren, ist unsere Aufgabe. » Mit Sätzen wie diesen wird er zum Begründer der modernen Pädagogik und Sozialpädagogik «…im Sine des sozialen Lernens im Unterschied zur von Rousseau begründeten Individualpädagogik» (Niemeyer 2005, 20). Es gibt nur wenige Menschen in der europäischen Kultur, die ein vorhandenes gesellschaftliches Problem so klar erkennen, beschreiben, durchdenken und mit Einsatz der ganzen eigenen Persönlichkeit praktisch zu lösen versuchen, scheitern und neu versuchen. Und all dies dauernd reflektierend für die Nachwelt schriftlich darstellen. Nur die äusseren Fakten seines Lebens betrachtend – so wie es dem heutigen Zeitgeist des 21. Jahrhunderts entspricht – würde Pestalozzis Leben allerdings in den Medien als ‹fortschreitendes Scheitern› beurteilt.

Der junge Pestalozzi war Mitglied des Zürcher Patriotenkreises und begeistert von Rousseaus Ideal eines natürlichen, tugendhaften und freien Landlebens. So gab er seine Studien auf und machte bei Tschiffeli eine halbjährige Bauernlehre. 1768 kaufte er in Birr Land, liess den ‹Neuhof› bauen und heiratete 1769 Anna Schulthess. 1771 begannen sie ihr Bauernleben in der Natur. Aufgrund fehlender Erfahrung und Missernten standen sie bereits drei Jahre später vor dem Ruin. Deshalb nahm Pestalozzi schon ab etwa 1773 arme Kinder auf den Neuhof auf um ihnen Weben und Spinnen, Grundkenntnisse im Lesen, Rechnen und Schreiben und eine moralisch-religiöse Bildung zu lehren. Aber die Mithilfe der Kinder in der Landwirtschaft änderte die wirtschaftliche Lage nicht grundlegend. 1780 zogen die letzten Kinder aus dem Neuhof; Pestalozzi war als Bauer und ebenso als Leiter seiner Armenanstalt gescheitert. Aus den Erlebnissen mit den Kindern im Neuhof erwuchs jedoch sein innerstes Anliegen für sein weiteres Leben: die menschengemässe Erziehung von armen Kindern. In den folgenden Jahren veröffentlichte Pestalozzi mehrere Schriften und Bücher, in denen er sein pädagogisches Verständnis, die innere Haltung und die Methoden für ein breites Volk beschrieb. 1797 erschien sein philosophisch bedeutendstes Werk ‹Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts›. In diesem Buch gelang Pestalozzi die Darstellung seines Menschenbildes und der Entwicklung des Individuums respektive der Menschheit. Inhalte, um die er jahrelang gerungen hatte. Nach Pestalozzi ist das Entwicklungsziel der Erziehung, des erwachsenen Menschen und der Gesellschaft die Freiheit. Die Freiheit beinhaltet für ihn ein Handeln aus eigener Erkenntnis und eigenem Gewissen; ein verantwortliches Handeln, das dem Anspruch des erkannten Wahren, Guten und Gerechten bestehen kann. Pestalozzi verwendet dafür auch die Begriffe Sittlichkeit oder sittlicher Zustand, was aber nicht die gesellschaftlich geltende Moral und Sitte meint.

Nach Pestalozzi lebt der Mensch zuerst in einem instinkthaften, weisheitsvollen Naturzustand, er ist ein «reines Kind seines Instinkts», ein «Werk der Natur», schuldlos und jenseits von Gut und Böse. Im Gegensatz zum Tier kann er aber nicht in diesem Zustand bleiben. Er tritt in einen gesellschaftlichen Zustand ein, wird durch die Erziehung, die gesellschaftlichen Einflüsse und Regeln zu einem Geschöpf der kollektiven Verordnungen und Vereinbarungen, zu einem «Werk der Gesellschaft». An den Regeln und dem Wirken der Gesellschaft erwacht aber das eigene Gewissen, die eigene Erkenntniskraft. Der Mensch hat die Möglichkeit und Fähigkeit, sein Wollen und Tun auf die eigene Erkenntnis zu bauen. «Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbständig, ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner anderen Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: Ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will[2]» (Pestalozzi 1995, 109).

Der Mensch besitzt nach Pestalozzi demnach drei Grundkräfte: tierische, gesellschaftliche und sittliche. «Also bin ich ein Werk der Natur, ein Werk der Gesellschaft und ein Werk meiner selbst. … Mein Instinkt macht mich zum Werk der Natur, der gesellschaftliche Zustand zum Werk der Gesellschaft und mein Gewissen zum Werk meiner selbst» (ebd. 114). Das Ziel jeglicher Erziehung und später des erwachsenen Menschen ist nach Pestalozzi das Hinarbeiten auf diesen «sittlichen Zustand». Denn ohne die sittliche Kraft ist der Mensch nur ein gesellschaftlicher Halbmensch. «Willst du aber dein Werk nur halb tun, da die Natur das ihre ganz getan hat? Willst du auf der Zwischenstufe deines tierischen und deines sittlichen Daseins, auf welcher die Vollendung deiner selbst nicht möglich ist, stehenbleiben, so verwundere dich dann nicht, dass du ein Schneider, ein Schuhmacher, ein Scherenschleifer und ein Fürst bleibst und kein Mensch wirst. Verwundere dich dann nicht, dass dein Leben ein Kampf ist ohne Sieg und dass du nicht einmal das wirst, was die Natur ohne dein Zutun aus dir gemacht hat, sondern gar viel weniger: ein bürgerlicher Halbmensch» (ebd. 125).

Pestalozzi brannte darauf, seine geistigen Erkenntnisse in pädagogische Taten umzusetzen. Schon ein Jahr später, 1798, erhielt er von der neuen Helvetischen Regierung den Auftrag, in Stans ein Waisenhaus zu führen, das schlussendlich im Januar 1799 seine Tore öffnete. Bereits 6 Wochen später lebten über 80 Kinder dort, die von Pestalozzi und einer Magd betreut wurden. Nach nur 6 Monaten wurde ihm jedoch die Leitung entzogen weil die Regierung dort ein Militärlazarett errichten wollte. Die meisten Kinder wurden zu Verwandten geschickt. Pestalozzi hielt seine Erfahrungen und pädagogischen Überlegungen im ‹Stanser Brief› (1799) fest – ein pädagogisch einzigartig-bedeutsamer Text, der auch heute zur Pflichtlektüre von allen PädagogInnen gehören müsste. Hatte Pestalozzi in den ‹Nachforschungen› die sittliche Kraft theoretisch postuliert, so erlebte er in Stans diese Kraft als praktischen Tatbeweis: «Indessen, so drückend und stossend die Hilflosigkeit, in der ich mich befand, war, so war sie von einer anderen Seite dem Inneren meiner Zwecke günstig. Sie nötigte mich, meinen Kindern alles in allem zu sein. Ich war von Morgen bis Abend soviel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand. Jede Hilfe, jede Handbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. … Sie waren ausser der Welt, sie waren ausser Stans, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. … Dadurch aber war es denn freilich auch allein möglich, dass sich die Kinder allmählich und einige innigst und soweit an mich anschlossen» (Pestalozzi, 1932, 10). An anderer Stelle beschreibt er die allmähliche Veränderung der Kinder: «Ich habe eine innere Kraft in den Kindern aufwachsen sehen, deren Allgemeinheit meine Erwartung weit übertraf und deren Äusserungen mich oft ebenso sehr in Erstaunen setzten als rührten» (ebd. 17).

Darum ist das «Stanser-Erlebnis» von Pestalozzi das pädagogische Urphänomen: im pestalozzischen Sinne Pädagog:in darf sich nur nennen, wer in einer erzieherischen Situation erlebt hat, ganz allein und auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Und dabei in seinem Denken, Fühlen und Handeln die eigene sittliche Kraft und diejenige der ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen gespürt hat. Es sind die der eigenen sittlichen Kraft verpflichteten Pädagog:innen, welche nach Pestalozzi «sittlich» sind – oder in heutigen Begriffen ausgedrückt: pädagogisch ganzheitlich Entwicklung bewirken. In solchen Momenten entsteht der echte pädagogische Dialog von Mensch zu Mensch, eine Dialogik im Sinne Martin Bubers (Seiler 1996, 8). Pestalozzi selbst beschreib diesen pädagogischen Dialog: «Der Mensch will so gerne das Gute, das Kind hat so gerne ein offenes Ohr dafür; aber es will es nicht für dich, Lehrer, es will es nicht für dich, Erzieher, es will es für sich selber. Das Gute, zu dem du es hinführen sollst, darf kein Einfall deiner Laune und deiner Leidenschaft, es muss der Natur der Sache nach an sich gut sein und dem Kind als gut in die Augen fallen. Es muss die Notwendigkeit deines Willens nach seiner Lage und seinen Bedürfnissen fühlen, ehe es dasselbe will. Alles, was es lieb macht, das will es. Alles, was ihm Ehre bringt, das will es. Alles, was grosse Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht ‹ich kann es›, das will es. Aber dieser Wille wird nicht durch Worte, sondern durch die allseitige Besorgung des Kindes und durch die Gefühle und Kräfte, die durch diese allseitige Besorgung in ihm rege gemacht werden, erzeugt. Die Worte geben nicht die Sache selbst, sondern nur eine deutliche Einsicht, das Bewusstsein von ihr» (ebd. 8).

Aufgrund seiner Erfahrungen entschloss sich der mittlerweile 53-jährige Pestalozzi Lehrer zu werden. Ein Beruf, der damals schlecht bezahlt und im Volk verachtet war. Der helvetische Erziehungsminister Stapfer hätte ihm 1799 lieber gleich die Leitung der neu gegründeten Lehrerbildungsanstalt auf Schloss Burgdorf übertragen. Aber Pestalozzi begnügte sich, in der Hintersassenschule von Burgdorf zu unterrichten. Er legte die Schulbücher weg und suchte mit seiner ganzen Energie eine neue anschauliche, natürliche und kindgemässe Methode. Seine Erfolge waren ausgezeichnet und überraschten die Aufsichtsbehörden. Im Jahr 1800 zog er ins Schloss Burgdorf. Dort eröffnete er sein Erziehungsinstitut, das eine Verbindung von Knabenschule, Pensionsanstalt für auswärtige Schüler, Lehrerseminar und Waisenhaus resp. Armenschule war. Mit den Mitarbeitenden arbeitete Pestalozzi intensiv an der Entwicklung neuer Unterrichtsmethoden, die er im Buch ‹Wie Gertrud ihre Kinder lehrt› erfolgreich veröffentlichte. Bald kamen Gelehrte und Politiker aus ganz Europa nach Burgdorf um diese neue Unterrichtskultur und ihre Erfolge zu bestaunen. Nachdem Napoleon im Jahr 1802 seine Truppen aus der Schweiz zurückzog, brach der Helvetische Einheitsstaat zusammen und die einzelnen Kantone und ihre alten Herrschaftsgeschlechter kamen wieder an die Macht. So entschied die Bernerregierung, dass Pestalozzi 1804 aus dem Schloss Burgdorf ausziehen musste, damit dort der neue Berner Oberamtmann für Burgdorf seine Residenz einrichten konnte. Pestalozzi zog nach Münchenbuchsee weil dort Philipp Emanuel von Fellenberg ein Mustergut und Erziehungsinstitut führte. Aber die beiden Pädagogen wurden sich nicht einig, da von Fellenberg nicht duldete, dass Pestalozzi arme und Waisenkinder unentgeltlich in seine Anstalt aufnahm. Deshalb musste sich Pestalozzi wieder nach einem Neuanfang umsehen. Der 1803 selbständig gewordene Kanton Waadt ergriff die Chance, dem berühmten Pädagogen das Schloss in Yverdon (deutsch: Iferten) für sein Erziehungsinstitut auf Lebzeiten unentgeltlich zur Verfügung zu stellen (vgl. Kuhlemann/Brühlmeier 2002).

Bereits in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1804 eröffnete Pestalozzi mit drei Mitarbeitern im Schloss Iferten das neue Institut. Auch dieses Institut wuchs rasch und war bald in ganz Europa berühmt – sogar Persönlichkeiten aus Russland und Amerika kamen auf Besuch. In den Erfolgsjahren 1807 bis 1809 zählte die Schulgemeinde 165 Zöglinge, 31 Lehrer und Unterlehrer, 32 Seminaristen und 10 Mitglieder der Familie Pestalozzi mit ihren Hausangestellten, insgesamt also rund 250 Personen. Pestalozzi selbst sah sich in Yverdon in der Stellung eines Vaters und geistigen Anregers. Er widmete sich seinen schriftstellerischen Arbeiten, überwachte die pädagogische Arbeit der Lehrer, empfing die zahlreichen Besucher und richtete Tag für Tag ermahnende Worte an die ganze Hausgemeinde. An Fest- und Feiertagen hielt er ausführliche Reden mit pädagogischen, menschenkundlichen und gesellschaftlichen Inhalten. In seiner bekannten Neujahrsrede 1809 teilte Pestalozzi beispielsweise den ihm anvertrauten Schülern mit: «Gottes Natur, die in euch ist, wird in euch heilig geachtet. … Es ist ferne von uns, aus Euch Menschen zu machen wie wir sind. Es ist ferne von uns, aus Euch Menschen zu machen, wie die Mehrheit unserer Zeitmenschen sind. Ihr sollt an unserer Hand Menschen werden, wie eure Natur will, wie das Göttliche, das Heilige, das in eurer Natur ist, will, dass ihr Menschen werdet» (Pestalozzi 1825, 272). So gross und einzigartig Pestalozzi als Pädagoge wirkte, für die Mitarbeitenden war er ein innerlich zerrissener und widersprüchlicher Leiter und unfähiger Organisator. Viele Streitigkeiten um die Führung, Verantwortungen und Nachfolge wurden schliesslich vor Gericht ausgetragen. Als 1825 ein Lehrer aus dem Kanton Waadt ausgewiesen wurde, verliess Pestalozzi mit ihm das Institut und zog sich auf den Neuhof zurück. Zusammen mit seinem Enkel Gottlieb wollte er die ursprüngliche Armenanstalt wieder beleben. Auf dem Neuhof schrieb Pestalozzi sein letztes grosses Werk ‹Schwanengesang› mit einer umfassenden Darstellung seiner Erziehungslehre. Die Streitigkeiten und Gerichtsfälle von Yverdon verfolgten ihn jedoch bis in den Neuhof und die vielen persönlichen Angriffe schwächten den mittlerweile 81-jährigen Pestalozzi, der im Februar 1827 in Brugg starb.

Pestalozzi ist als grosser Erneuerer der Pädagogik in die Geschichte eingegangen. Er hat Grundsätze der neuzeitlichen Denkweise über Erziehung vorgegeben und Methoden ihrer Realisierung ausgearbeitet. Seine pädagogischen und strukturellen Impulse zu einer Professionalisierung und Institutionalisierung des Bildungssystems beeinflussten ganz Europa indem sie von seinen Schülern wie auch von späteren Klassikern der Pädagogik aufgegriffen wurden (Tenorth 2010, 95). Pestalozzi überzeugt mit seinem anthropologischen und pädagogischen Konzept gerade auch deshalb, weil er die Inhalte nicht abstrakt erdacht, sondern aus sich selbst entwickelt, wie selten ein anderer schmerzlich durchlebt und authentisch danach gehandelt hat. Pestalozzi weist wiederholt darauf hin, dass es die sittliche Kraft ist, welche die Gesellschaft und die Welt zusammenhält. Es ist die sittliche Kraft, die nur individuell gefunden und entwickelt werden kann, gerade auch in der Pädagogik. Sei es dissoziales Verhalten oder Gewalt, sei es sittliches oder ethisches Handeln: beides entstand damals und entsteht heute erst durch die Tat des Individuums. Darin liegt wohl auch eine Tragik von Pestalozzi. Er wird zwar hochgeachtet und oft zitiert – aber seine Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten pädagogischen Grundlagen werden in der Praxis nicht umgesetzt.

4.2.2 Die Heimentwicklung nach Pestalozzi bis 1900

Im 18. Jahrhundert wurde bei Burgern und Bürgern die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen als neue Wichtigkeit erkannt. Für die Bildung ihrer eigenen Kinder gründete die Oberschicht Seminare respektive «Philantropine» (Anstalten für Menschenfreunde). Für die elternlosen Kinder begründeten die machtvollen städtischen Bürgerschaften in Städten bürgerliche oder burgerliche Waisenhäuser: Bern (1757), Zürich (1771), Basel (gegründet 1669, Trennung von Gefangenen und Waisen 1806). Die Waisenkinder erhielten neu, neben der täglichen Arbeit, einige Stunden Unterricht. Durch den Bau der bürgerlichen Waisenhäuser fand eine wichtige Differenzierung im Kinderbereich statt: In arme, unschuldige Waisenkinder und Kinder, die in den bestehenden Armenhäusern (Arbeits- und Zuchthäuser) lebten. Diese Aufteilung in Armen- und Waisenhäuser hielt sich bis ins 20. Jahrhundert und ihre Entwicklungslinien in der Heimerziehung sind bis in die 1970er Jahre erkennbar (Huonker 2004). Für die aus verarmten Familien stammenden Kinder blieb die seit dem Mittelalter übliche Verkostgeldung oder Verdingung weiter bestehen.

Im 19. Jahrhundert litten grosse Teile der Bevölkerung an elender Armut. Seit der Reformation wurde Armut und Bettel zunehmend nicht mehr religiös verstanden, sondern sie wurden als Ausdruck eines müssiggängerischen und lasterhaften Lebens, als selbstverschuldet betrachtet und entsprechend bekämpft. Man unterschied zwischen «würdigen» und «unwürdigen» Armen (Sutter 1994, 13ff.). Als «würdige» Arme galten die «unvermögenden Alten», die Kranken und die hilfsbedürftigen Kinder. Alle anderen fielen in die Kategorie der «unwürdigen» oder «selbstverschuldeten» Armen. Nur wer aufgrund von Alter oder Krankheit seine Arbeitsfähigkeit verloren oder noch nicht erreicht hatte, verdiente eine Unterstützung (ebd., 20f.). Armut oder Arbeitslosigkeit werden heute primär als gesellschaftliches Problem verstanden. Im 19. Jahrhundert waren sie eine moralische Angelegenheit. Die gebildete Bürgerschaft ortete die Gründe der Armut und des falschen Lebenswandels in einer fehlenden Bildung und Erziehung. So schrieb der deutsche Philanthrop Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811): «Die vorzüglichste Ursache von dem vielen Jammer und Elend in der Welt ist in der fehlerhaften Erziehung zu suchen» (zitiert nach Tenorth 2010, 86). Das Ziel der Armenerziehung war deshalb, die Jugendlichen besser zu bilden, zu «Genügsamkeit und Arbeitsamkeit» oder durch «Angewöhnung zu nützlicher Thätigkeit, durch Weckung des Gewissens, durch ein Leben in christlicher Zucht und Ordnung.» Auch in den Protokollen der «Verhandlungen des Armenerziehervereins» zwischen 1879 und 1885 beklagen die Armenerzieher wiederholt den «Verfall der Gesellschaft», gegen den sie ankämpfen, die «moralische Verwilderung der Jugend», dass sich die Zahl der «jugendlichen Schlingel» vergrössere und «Rauchen, Sichberauschen und flegelhafte Emanzipation von Regel und guter Sitte erschreckend zunehmen» (Sutter 1994, 20f.) Die Erziehung und Gewöhnung zur tüchtigen Arbeit galt in dieser Zeit als Allheilmittel gegen Armut und falschen Lebenswandel.

Als Folge der Pauperisierung wurden nun auch in den meisten ländlichen Gemeinden Armenhäuser errichtet. Darin wohnten, lebten und arbeiteten aber Kinder und Erwachsene zusammen. In den Städten dagegen wurden die Institutionen für Randständige und Arme respektive für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zunehmend spezifiziert. 1850 gab es in der Schweiz für Kinder und Jugendliche 46 Armenerziehungsanstalten und Waisenhäuser und 20 Rettungsanstalten (Chmelik 1986, 378; Sutter 1994, 15). Im Jahr 1900 waren es 160 Armenerziehungs- und Waisenhäuser sowie 35 Kinderrettungs- und Zwangserziehungsanstalten. Die Anzahl der Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendlich hatte sich somit innerhalb von 50 Jahren verdreifacht.

Bei den Institutionen mit Namen wie ‹Armenerziehungsanstalt› oder ‹Pestalozziheim› handelt es sich um eine von Pädagogen initiierte Professionalisierung, die auf Pestalozzi und Fellenberg zurückgeht. Pestalozzi verwendet den Begriff Armenerziehungsanstalt bereits 1805. Fellenberg bezeichnet 1813 die Anstalt in Hofwyl ‹Armen-Erziehungsanstalt›. Die Bezeichnung ‹Rettungsanstalt›, ursprünglich aus Deutschland stammend und in der Schweiz übernommen, basiert auf dem christlichen Rettungsgedanken und bezeichnet religiös bis pietistisch motivierte Anstalten (Chmelik 1986, 93).

Eine wichtige Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Einführung von Fabrik- und Arbeitsgesetzen, die auch Auswirkungen auf die Kinder hatten. Der Kanton Zürich erliess bereits 1815 ein erstes fortschrittliches Fabrikgesetz mit dem Verbot der Kinderarbeit unter 10 Jahren in Fabriken oder an Spinnmaschinen. Die Arbeitszeit der Kinder wurde auf 12 Stunden begrenzt und durfte im Sommer nicht vor 5 Uhr, im Winter nicht vor 6 Uhr beginnen. Das erste eidgenössische Fabrikgesetz trat erst 1877 in Kraft. Es brachte den 11-Stunden-Tag für Erwachsene sowie das generelle Verbot von Kinderarbeit unter 14 Jahren (Huonker 2004).

Im 19. Jahrhundert erfolgte nicht nur eine grosse Ausdifferenzierung bei den Kinder- und Jugenderziehungsheimen, sondern auch bei den Erwachsenen. Es wurden neu Heime für Schwangere, Mütter mit Kleinkindern gegründet, die oft ‹Heime für gefallene Mädchen› hiessen. In die gleiche Zeit fällt die Gründung der nun häufig für Frauen und Männer geschlechtergetrennten Arbeits-, Korrektions- und Zuchtanstalten. Aufgrund dieser zahlreichen Neugründungen wird das 19. Jahrhundert in der Fachliteratur als ‹das Jahrhundert der Anstalten› bezeichnet (Huonker 2004). Nach Tanner (1999, 73) brachte diese dritte Differenzierung die Unterscheidung in normal – abweichend – gefährdet. Diese Spezialisierung der Institutionen hatte zur Folge, dass Familien, die bisher in Armenhäusern zusammenlebten, zunehmend auseinandergerissen wurden. Dem Bedürfnis des Individuums oder der Familie wurde in dieser Zeit keine Beachtung geschenkt. Für die Behörden stand die geeignete vorhandene Institution und die finanziell günstigste Lösung im Vordergrund (Sutter 1994, 13).

Die im 18. Jahrhundert bei Kindern begonnene Aufteilung in Armen- und Waisenhäuser etablierte sich im 19. Jahrhundert weiter. Die Waisenhäuserhatten die Aufgabe, verwaiste und verwahrloste Kinder und Jugendliche zu versorgen und zu erziehen. In diesen Institutionen wurden teilweise ambitionierte Konzepte umgesetzt um die elternlosen (= unschuldigen und damit bemitleidenswerten) Kinder und Jugendlichen in alters- und geschlechtsgemischten familienähnlichen Gruppen zu erziehen und zu unterrichten. Aus den Armenhäusern entwickelten sich dagegen die Fürsorge- und Erziehungsanstalten, in denen meist zwischen 50 und 100 Zöglinge unter strafvollzugsähnlichen Bedingungen lebten, nach Geschlechtern getrennt. Hier wurden straffällige, sozial auffällige, geistig oder körperlich behinderte oder psychisch kranke Kinder und Jugendliche diszipliniert. Namen wie «Knabenheim für Schwererziehbare», «Anstalt für jugendliche Verbrecher und Taugenichtse» oder «Erziehungsheim für sittlich gefährdete Mädchen» waren gängige Bezeichnungen. In diesen Institutionen sollten Kinder und Jugendliche gebessert, geändert, erzogen werden. Aber auch im Behindertenbereich zeugen die Namen wie «Pflegeanstalt für geistesschwache, bildungsunfähige Kinder», «Erziehungsanstalt für Schwach- und Blödsinnige» für das Bewusstsein dieser Zeit.

Alle Anstalten wurden von einem Mann, dem ‹Anstaltsleiter›, in zumeist patriarchalischer und manchmal potentatenhafter Art geführt. Die Mitarbeitenden in der Betreuung, Schule, Küche, Wäscherei, im Garten oder der Landwirtschaft waren eigentliche ‹Anstaltsgehilfen› und führten die ihnen übertragenen Aufgaben im Status von Hilfskräften aus.


[1]     Sapere aude (lateinisch).Wörtlich bedeutet das Sprichwort etwa: Wage es, vernünftig zu sein! Die bekannte Interpretation von Kant lautet: «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!»

[2]     Anregung: Versuchen Sie die Zitate von Pestalozzi nicht einfach historisch, sondern vor allem im Hinblick auf ihre Anwendung in der heutigen Pädagogik und Nacherziehung zu lesen.