4.3 Professionalisierung im 20. Jahrhundert

Um 1900 fand eine weitere Professionalisierung statt. Die treibende Kraft dahinter war die ‹Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft› und ihre Exponenten. Diese forderten spezielle Anstaltstypen und Versorgungsarten. So wurde beispielsweise die bisherige ‹Blinden- und Taubstummenanstalt› getrennt in fachspezifische Anstalten für Blinde respektive Taubstumme. In dieser Zeit entstanden ebenfalls spezifische Institutionen für Epileptiker oder psychisch Abnorme. All diese Fach-Anstalten standen unter ärztlicher oder heilpädagogischer Leitung und hatten mehrheitlich Kinderabteilungen oder nahmen zumindest Kinder auf. Diese Entwicklung führte wiederum zu einem starken Ausbau der Fremdplatzierungen in den fachlich nun spezialisierten Anstalten. Abb. 13 zeigt diese Entwicklung und die institutionelle Differenzierung der vergangenen 500 Jahre.

Abb. 13: Stammbaum der Differenzierung stationärer Institutionen

                                                        Quelle: Tuggener 1975; ergänzt Tanner 1999; ergänzt Weber 2023

Das 20. Jahrhundert kann als ‹das Jahrhundert der Spezialisierung› bezeichnet werden, mit der vierten Differenzierung im Betreuungsangebot:die Differenzierung nach Diagnose. Diese führte zu den heute vorhandenen Spezialreinrichtungen mit möglichst reinen Monokulturen.

Zwischen 1940 und 1970 wurden aus den Anstalten zunehmend Heime. Der Berufsstand der Heimerzieher:innen und der Sozialarbeiter:innen bildete sich heraus. Aus dem Anstaltsleiter wurde der Direktor, Heimleiter oder Verwalter. Waren Frauen früher nur als Leiterin von Mädchenheimen wählbar, konnten sie nun zunehmend als Heimleiterin allen Institutionen vorstehen.

Seit etwa 1990 haben sich in der Heimlandschaft wieder grosse Veränderungen vollzogen: aus dem Direktor wurde der Gesamtleiter oder Betriebsleiter einer Organisation mit pädagogischen oder psychologischen Kernkompetenzen. Die Erziehungsarbeiten, die Behörden- und Elternkontakte gingen vermehrt in die Kompetenz und Verantwortung der dipl. Sozialpädagog:innen über. Die Leitung musste sich dafür vermehrt mit Organisations- und Personalentwicklung beschäftigen und sich in die neu eingeführten Qualitätssysteme einarbeiten. Mit der Internationalisierung und den Weiterbildungsmöglichkeiten an amerikanischen Universitäten hielten Fachausdrücke wie Casemanagement oder Group-Therapy Einzug. Sozialpädagogische Arbeit wurde zur Profession, die nun an Höheren Fachschulen oder Fachhochschulen gelehrt und studiert wird. Aus Sozialpädagog:innen wurden ‹Master of Arts in Special Needs Education› oder ‹Master of Science in Social Work›. Diese lernen in ihren Ausbildungen wissenschaftlich evaluierte Interventionsmethoden kennen, die sie dann in der Praxis als pädagogische Interventionen professionell zu platzieren versuchen – was bei heimerfahrenen dissozialisierten Jugendlichen unter Umständen zu sehr direkten reaktiven Verhaltensweisen führen kann.

Grosse Veränderungen erfolgten bei der Finanzierung der Heimplätze. Die Pioniere der Heimerziehung wie von Fellenberg oder Pestalozzi waren eigentliche Unternehmer, die ihr eigenes Geld (oder wie bei Pestalozzi, das Geld der reichen Ehefrau) investierten. Erst im 20. Jahrhundert begannen die Kantone an die Heime Investitions- und Betriebsbeiträgen zu bezahlen. Damit kam der Staat in eine aktive, verantwortliche Rolle: er nahm Einfluss auf die Institutionen und beide wurden dadurch rechenschaftspflichtig. In den 1990-er Jahren führte die Einführung des ‹New-Public-Management› (NPM) zu neuen Veränderungen. Die Kantone wurden vom finanziellen ‹Unterstützer› zum ‹Leistungsbesteller›, gemäss dem Grundsatz: «Wer zahlt befiehlt». Allerdings heisst, befehlen im NPM ‹steuern›. Seither steuern die Kantone ihren Bedarf und das Angebot der Institutionen mit Leistungsverträgen, mit klar definierten zu erbringenden Leistungen, die gemäss vereinbarten Normkosten finanziert werden (Woodtli 2012, 2).

Ein weiterer grosser Einschnitt war die Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA) zwischen Bund und Kantonen. Per 1. Januar 2008 gingen die bisher vom Bund finanzierten Institutionen in die Verantwortung der Kantone über. Seither sind die Kantone für die Heimfinanzierung und -aufsicht allein verantwortlich. Es bestand der Plan, bei allen Heimen, die bis anhin Betriebsbeiträge erhielten, diese durch Leistungsverträge und subjektorientierte Platzierungsbeiträge zu ersetzen. Dieser Wechsel zu Leistungsverträgen mit Fallpauschalen ist jedoch nicht in allen Kantonen vollzogen worden. Zudem erhalten die Justizheime weiterhin Betriebsbeiträge vom Bundesamt für Justiz für die strafrechtlichen Platzierung. Somit stehen die Justizheime nach wie vor unter einer doppelten Aufsicht: einerseits durch kantonale Aufsichtsbehörden, andererseits durch das BJ, Fachbereich Straf- und Massnahmenvollzug.