5.2 Soziodiversität in der pädagogischen Geschichte

Die Idee von Soziodiversität (auch Durchmischung, Heterogenität, Diversity) zur Steigerung sozialen, kognitiven und emotionalen Lernens ist keineswegs eine neue Erfindung. Sie hat in der Pädagogik eine lange Tradition.

Schon bei Jan Amos Comenius (1592-1670) finden sich pädagogische und didaktische Überlegungen, die weit über die damalige gesellschaftliche und pädagogische Realität hinausgehen. Comenius geht von der Verschiedenartigkeit der Menschen aus, wenn er darauf hinweist, dass es die «Schwierigkeit der Dinge» selbst sei, die bewirke, «dass nicht jeder sie auffasst» (Comenius 1638; bearb. v. Ahrbeck 1961, 111). In seiner Grossen Didaktik spricht sich Comenius klar für die Durchmischung beim Lernen aus. Bis vor einigen Jahren wurde dies in der Schulpädagogik ‹integratives Lernen› genannt; der neue Begriff heisst nun ‹Inklusion›. Comenius kannte diese Begriffe nicht, er plädiert für die «Mischung» wenn er schreibt, dass «die Langsameren den schneller Auffassenden, die Stumpferen den geistig Regsameren, die Halsstarrigen den Folgsamen an die Seite gestellt und so lange nach denselben Vorschriften und Vorbildern gelenkt werden, als sie des Lenkers bedürfen. Wenn sie aus den Schulen entlassen sind, möge ein jeder den restlichen Studienlauf mit dem ihm eigenen Tempo weiterverfolgen (…). Jene Mischung verstehe ich jedoch nicht bloss im örtlichen Sinne, sondern weit mehr im Sinne gegenseitiger Hilfeleistung. Wenn nämlich der Lehrer einen Begabteren entdeckt, so möge er ihm zwei oder drei, die schwerfälligeren Geistes sind, zum Unterricht zuweisen (…). Auf diese Weise wird für beide Teile vortrefflich gesorgt, wenn noch obendrein der Lehrer darauf achtet, dass alles nach der Vorschrift der Vernunft ausgeführt wird» (ebd. 116).

Pestalozzi (1746-1827) äussert sich 1799 im ‹Stanser Brief› über die wichtigen Erfahrungen, die er bei der Durchmischung der «Menge der Ungleichheit der Kinder» machen konnte: «Die Menge der Ungleichheit der Kinder erleichterten meinen Gang. So wie das ältere und fähigere Geschwister unter dem Auge der Mutter den kleineren Geschwistern leicht alles zeigt, was es kann, und sich froh und gross fühlt, wenn es also die Mutterstelle vertritt, so freuten sich meine Kinder, das, was sie konnten, die anderen zu lehren. Ihr Ehrgefühl erwachte, und sie lernten selber doppelt. … So hatte ich schnell unter meinen Kindern selbst Gehülfen und Mitarbeiter, die in den Fertigkeiten, die Schwächeren das, so diese noch nicht konnten, zu lehren, mit der Anstalt immer vorgerückt und für die Augenblicksbedürfnisse der Anstalt ohne Zweideutigkeit brauchbarer und vielseitig brauchbarer geworden wären als angestellte Lehrer» (Pestalozzi, 1932, PSW 13, 29).

Fast zeitgleich mit Pestalozzi lebt der grosse Theologe, Ethiker, Platon-Übersetzer und Pädagoge Friedrich Daniel Schleiermacher (1768-1834). Er schreibt in seiner ‹Theorie der Erziehung› (1826): «… keine Eigentümlichkeit, keine Verschiedenheit, die sich in einem einzelnen oder in einer Masse, in einer Gemeinschaft findet, ist an sich etwas, dem die Erziehung entgegenwirken müsste, wenn es nicht böse ist. Die Verschiedenheiten, Eigentümlichkeiten der Menschen, die ausserhalb des Bösen sind, sollen auch sein. Die menschliche Natur ist nur vollständig, inwiefern diese Verschiedenheiten in ihr heraustreten. Es soll sich uns im Gebiet der menschlichen Natur die ganze Mannigfaltigkeit von Erscheinungen entfalten. Wenn der Mensch nur als Selbständiges und Selbsttätiges Gegenstand der Erziehung sein kann, so ist also was in der Entwicklung begriffen ist auch zu seiner Selbsttätigkeit gehörig anzusehen, und muss als solches, insoweit es der Idee des Guten nicht widerstreitet, auch im Zwecke der Erziehung liegen. Und so gibt es denn für die Erziehung keine andere Regel als für das sittliche Leben überhaupt. Was wir sittlicherweise später keine Macht und kein Interesse haben zu stören, das dürfen wir ebenso wenig in der Periode der Erziehung hemmen» (Schleiermacher 1983, 59). Die Sprache des Philosophen und Pädagogen Schleiermacher ist für die heutige Zeit in ihren Begriffen schwer verständlich, im Satzbau kompliziert. Doch die Botschaft ist für unsere Zeit absolut aktuell, denn sie stellt sich – und zwar aus ethisch-sittlicher Sicht – gegen das Differenzierungs- und Einheitlichkeitsstreben: Die Erziehung sollte nicht den Eigentümlichkeiten und Verschiedenheiten der Menschen entgegenwirken, wenn diese nicht ‹böse›, also schädigend sind. Eine Gemeinschaft ist nur vollständig, wenn die Verschiedenartigkeiten und Mannigfaltigkeiten der menschlichen Natur darin enthalten sind. Das heisst in der Konsequenz: nicht wer Soziodiversität fördern will, ist dafür rechenschaftspflichtig. Nach Schleiermacher ist es genau umgekehrt: Wer alles vereinheitlichen will und Monokulturen fördert, der ist rechenschaftspflichtig, weil er gegen die Natur verstösst. Die Verschiedenheit des Lebens ist das Normale; verschieden geworden zu sein, ist das Normale. Die Verschiedenheit als Heterogenität oder Soziodiversität ist gut für die Menschheit (vgl. Meyer 2003, 13).

Pestalozzi erreicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit seinen Schriften eine ‹Verallgemeinerung der Pädagogik›. In dieser Zeit liegen die Anfänge der Heilpädagogik, die er beeinflusst, da man von seinen Grund-sätzen für die Volksschule auch Unterstützung für die Behindertenförderung erwartet (Graumann 2003, 135). So erlässt beispielsweise das preussische Kultusministerium 1828 eine ‹Verordnung zur Realisierung der Verallgemeinerungsbestrebungen› mit dem Ziel, taubstumme Kinder an der Schule ihres Wohnortes durch einen ausgebildeten Lehrer zu unterrichten. (Dies entspricht den vor einigen Jahren in der deutschen Schweiz neu eingeführten ‹integrativen Schulmodellen›). Walther äussert sich 1882 euphorisch über diese ‹Verallgemeinerungsbestrebungen›, die es den Taubstummen ermöglicht zuhause anstelle in isolierten Internaten zu leben: «Durch die neue Einrichtung wurden die Taubstummen aus ihrer isolierten Lage herausgerissen und in den lebendigen Verkehr mit Vollsinnigen gestellt.» Dies sei auch zum Nutzen der allgemeinen Pädagogik: «Durch die Absonderung verkümmert sie, vertrocknen wir selbst. Deshalb keine Separation, sondern Association!» (Walther 1882, 226f; zit. nach Graumann 2003, 135).

Zurückblickend wissen wir: Die Durchmischung hat sich damals nicht durchgesetzt. Sie scheitert an den Taubstummenlehrern, die an ihren bestehenden Taubstummenschulen festhalten (Stadler 1975, 21).

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt sich politisch die Separation im Behindertenbereich und in der Volksschule durch und ab 1882 werden die ‹Hilfsklassen für schwachbegabte Kinder› eröffnet. 1889 findet dann die erste ‹Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen› statt (heutige Schweizerische heilpädagogische Gesellschaft). Es gibt jedoch viele Pädagogen, die sich vehement gegen die Separation der ‹Schwachbegabten› in Hilfsschulen und für deren Verbleib in der Volksschule aussprechen. Interessant sind die damaligen Argumente, die auch aus den jüngsten Integrationsdebatten rund um die Inklusion stammen könnten. So schreibt ein Hamburger Lehrer Armack 1880: «Gute Schulen dadurch zu schaffen, dass man sich gute Schüler aussucht, ist wenig ehrenvoll. Der Einfluss, den die Schüler wechselseitig aufeinander ausüben, darf nicht zerstört werden. Das Ziel der Volksschule darf nicht künstlich geschraubt werden, denn die Volksschulbildung soll nicht den Abschluss, sondern die erste Stufe der Ausbildung bezeichnen. Die Kinder sind keine Schulware, die man in Prima- und Sekundaware und in Ausschuss teilen kann» (Armack, 1880; zit. nach Graumann 2003, 135).

Wie oft in der Geschichte, hat sich nach der erfolgreichen Separation eine Gegenbewegung entwickelt. Die Reformpädagogik etabliert sich stark als Fürsprecher der Heterogenität. All die pädagogischen Erneuerer um 1900 wie Maria Montessori, Rudolf Steiner, Peter Peterson oder Célestin Freinet – um nur einige zu nennen – entwickeln ihre pädagogisch-didaktischen Methoden für heterogene Gruppierungen. Montessori entwickelt ihre Lernmaterialien für normale Kinder aus ihren Erfahrungen mit geistigbehinderten und lernbehinderten Kindern. Bei Steiner ist der Weg ähnlich: er lebte während 6 Jahren bei der Familie Specht und unterrichtete als Hauslehrer die vier Söhne, insbesondere den Jüngsten, der mit seinem Wasserkopf ein schwerer heilpädagogischer Fall war. Dank Steiners Einsatz konnte die Missbildung fast vollständig überwunden werden. Das als bildungsunfähig eingeschätzte Kind holte seine Entwicklungsdefizite auf und wurde später Arzt. «Diese Erziehungsaufgabe wurde für mich eine reiche Quelle des Lernens. Es eröffnete sich mir durch die Lehrpraxis, die ich anzuwenden hatte, ein Einblick in den Zusammenhang zwischen Geistig-Seelischem und Körperlichem im Menschen. Da machte ich mein eigentliches Studium in Physiologie und Psychologie durch. Ich wurde gewahr, wie Erziehung und Unterricht zu einer Kunst werden müssen» (Steiner 2000, GA 28, 105). Während die Montessori-Schulen die Heterogenität heute in der Unter- und Mittelstufe pflegen, führen die Steiner-Schulen als Gesamtschule die Schüler:innen bis zur 12. Klasse. Wiechert ist von diesem Konzept der Durchmischung an Steiner-Schulen überzeugt: «Je heterogener die Fähigkeiten in einer Klasse durchmischt sind, umso stärker entwickeln sich Interesse, Toleranz und Zusammenarbeit zwischen den Schülern. Auch weiss man aus vielen Forschungen, dass die Heterogenität die individuellen Leistungen nicht beeinträchtigt» (Wiechert 2009, 8).

Der Heilpädagoge Henning Köhler entwickelt 2009 den Begriff der ‹differenziellen Integration›, die er abgrenzt von der ‹normativen Integration›. Differenzielle Integration meint, «dass Menschen mit augenscheinlichen Besonderheiten von anderen aufgenommen werden, ohne dass damit der Hintergedanke verbunden wäre, ihnen ihre Besonderheiten auszutreiben» (Köhler 2009, 7). Als Gedankenbeispiel führt er vier Unnormale in einer homogenen Klasse an, die deswegen in eine Integrationsklasse ausgelagert werden. Wenn sie das Glück haben in eine gute Integrationsklasse zu kommen, werden sie in zwei bis drei Jahren auch zu den Normalen gehören. Um der steigenden Zahl der als ‹gestört›  diagnostizierten Kinder zu begegnen, schlägt Köhler mehr Wärme und Aufmerksamkeit in der Pädagogik vor.

Die Montessori- und der Steiner-Pädagogik verfügen je über 100 Jahre Erfahrung in der Durchmischung. Da beide pädagogische Ansätze von der klassischen Erziehungswissenschaft immer noch stark als ‹Randständige der Pädagogik› betrachtet werden, fliessen diese Erfahrungen in die aktuellen Diskussionen um Inklusion, Heterogenität und Soziodiversität nicht eigentlich ein.