In der Erziehungswissenschaft beschränkt sich die aktuelle Forschung vornehmlich auf die Heterogenität in Klassen und somit auf den Schulunterricht. Es sind keine Untersuchungen in stationären Institutionen bekannt. Das erstaunt nicht, weil diese durchgehend nach Konzepten der Differenzierung arbeiten. Zudem bestehen in Wissenschaft und praktischem Alltag wenig Berührungspunkte zwischen den beiden Praxisfeldern Unterricht und Pädagogik in stationären Institutionen. Die allgemeine Pädagogik und die Sonderpädagogik sind stark auf die Schule und das Unterrichtsgeschehen ausgerichtet. Politisch und gesellschaftlich ist dieser Bereich ausgeprägt mit Leistung, Leistungserwartung und kognitiver Leistungsfähigkeit besetzt. Diese Besetzungen sind in unserer Gesellschaft stark begründet bis fixiert.
Die stationären Institutionen für Kinder und Jugendliche gehören dagegen in den Bereich der ‹allgemeine Sozialisationshilfe›, die mit Sozial-, Heilpädagogik und Sozialarbeit die vorhandenen Probleme erzieherisch angemessen lösen soll. Unsere Gesellschaft macht eine Trennung zwischen Bildung und Erziehung. Das kommt auch zum Ausdruck, indem in den meisten Kantonen die Schule der Bildungs-/Erziehungsdirektion unterstellt ist und die Heime der Fürsorge-/Sozialdirektion. Diese Differenzierung hat in der Schweiz Tradition.
Die folgenden Ergebnisse stammen deshalb von Untersuchungen zur Heterogenität in Schulen (Bohl 2013; Tillman/Wischer 2006; Graumann 2003). Die Studien gelangen zu ähnlichen Ergebnissen:
- Leistung: Es gibt keine Hinweise, dass SchülerInnen in einem homogenen Schulsystem ihre Entwicklungsfähigkeiten besser entfalten oder bessere schulische Leistungen erbringen. Umgekehrt führen heterogene Klassen mit individualisiertem und geöffnetem Unterricht nicht zwangsläufig zu besseren schulischen Leistungen oder zur Verringerung von Leistungsunterschieden. Eine Ausnahme bilden die Ergebnisse von Beck et al. (2007) und Peschel (2006) die feststellen: «Bemerkenswerterweise fallen die Leistungszuwächse bei den leistungsheterogenen Klassen sogar höher aus als bei den leistungshomogenen Klassen» (Beck et al. 2007, 207).
- Soziale Kompetenzen: Es gibt keine Hinweise, dass soziale Fähigkeiten in einer homogenen Lerngruppe eher erlernt werden können. Es gibt jedoch eine Reihe von Untersuchungsergebnissen, die bestätigen, dass die sozialen Kompetenzen von SchülerInnen in heterogenen Gruppen wachsen.
Diese Ergebnisse sind mit ein Hauptgrund, weshalb seit einigen Jahrzehnten die Stimmen innerhalb der Erziehungswissenschaft zugenommen haben, die in der Schule – vornehmlich aus kultureller Perspektive – mehr integrative Pädagogik einfordern (vgl. Bienstein, (2016); Thorsten 2013; Hagedorn 2009; Reusser 2009; Tillman/Wischer 2006; Graumann 2003; Warzecha 2003; Störmer 2003). Pädagogik hat grundsätzlich die gesellschaftliche Aufgabe, zukünftige Generationen auf das Leben vorzubereiten, damit sie ihre eigene Persönlichkeit ausbilden, sich in das Berufsleben integrieren und die soziale Gesellschaftsstruktur weiterentwickeln können. Über diese Zielsetzung herrscht Konsens im Unterricht, in der allgemeinen Erziehung oder speziellen Nacherziehung. Wenn nun das Ziel der Erziehung zu gesellschaftlich-demokratisch-sozialem Verhalten untrennbar verbunden ist mit dem Ziel, neues Wissen zu erwerben und Leistungen zu erbringen, dann kann Lernen nur in einer sozialen Umgebung erfolgen, die möglichst anregend und heterogen ist. «Wissenserwerb ohne sozialen Bezug ist unvollständig als Ziel, wie das Leben in demokratischen Strukturen ohne Wissenserwerb. Zwischen beiden Zielen besteht eine Interdependenz, die nur zu Analysezwecken auseinanderdividiert werden kann. Im Kleinen wie im Grossen stehen wir heute vor der zwingenden Aufgabe, unsere kognitiven Möglichkeiten mit den Fragen nach Ethik, Moral und demokratischen Grundsätzen zu koppeln» (Graumann 2003, 132). Deshalb sieht sie ein wichtiges Ziel von Heterogenität in der Koppelung von
- höchstem inhaltlichem Niveau auf der kognitiven Ebene und
- höchsten Anforderungen an soziales Verhalten (ebd.).
Wenn sich die Erziehungswissenschaft als Theorie des pädagogischen Handelns versteht, darf sie gesellschaftliche Erfordernisse nicht ignorieren. Erziehungswissenschaft ist aufgrund ihrer Parteilichkeit für Kinder und Jugendliche in allen Bildungs- und Erziehungssystemen der Gesellschaft «immer auch eine politische Handlungswissenschaft» (Warzecha 2003, 19). Es muss Ziel einer zukunftsweisenden Erziehungswissenschaft sein, nicht nur empirische Ergebnisse zu generieren, sondern darauf aufbauend eine Reflexion pädagogischen Handelns zu schaffen. Sie muss zu einer Reflexion fähig werden, die sowohl der Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge gerecht wird, als auch die Handlungskompetenz aller Beteiligten zu stärken vermag.
Eine interessante Ergänzung zur Heterogenität zeigen Studien aus der Wirtschaft. Diese sieht sich durch die Internationalisierung und durch die Zunahme von Studienabgänger:innen ebenfalls mit der Durchmischung konfrontiert. Iris Bohnet, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University und Verwaltungsrätin der Credit Suisse, hat in einer Metastudie 140 Untersuchungen zur Gender Equality (= Gleichstellung der Geschlechter) verglichen. Sie kommt zum Ergebnis: Gemischte Teams schneiden besser ab als homogene Teams. Alle Studienergebnisse auf allen Ebenen – Team, Kader, Management und Verwaltungsrat – zeigen, dass gemischte Gruppen bessere Ergebnisse ermöglichen als homogene Gruppen. Nach Bohnet weist keine der Studien darauf hin, dass Menschen in homogenen Gruppen bessere Leistungen erbringen (Bohnet 2016).