5.4 Diskussion und Praxisbezug

Es kann heute als gesicherte Tatsache betrachtet werden: In homogenen Klassen wird weniger soziales Verhalten gelernt als in heterogenen Gruppen. Aus Sicht der stationären Institutionen stellt sich die Frage: Gelten diese Ergebnisse nur für Schulen? Oder haben sie eventuell auch eine Gültigkeit für stationäre Institutionen, die auf Monokulturen ausgelegt sind? Es spricht wenig dagegen und viel dafür, dass Heterogenität auch ausserhalb der Schule gilt, dass es sich um ein ‹pädagogisches Gesetz› handeln könnte.

Die Nacherziehung müsste sich aus wissenschaftlicher Sicht daher die Frage stellen: Wie können 20 bis 40 verhaltensauffällige, dissozialisierte Jugendliche zusammen in einer Monokultur-Institution voneinander soziales Verhalten lernen? Diese Fragestellung ist variierbar und könnte beispielsweise auch heissen: Wie können 20 verhaltensauffällige Jugendliche in einer Jugendpsychiatrischen Klinik voneinander normaleres, sozialeres Verhalten lernen? Es geht um die Frage, wann sich die Erziehungswissenschaft und die angewandte Pädagogik dessen gewiss werden, dass Heterogenität/Soziodiversität zukünftige Pädagogik ausmacht, oder vorsichtiger, dass sie Pädagogik machen sollte. Heute wird Heterogenität in den stationären Institutionen meist als Störung, als zusätzliche Belastung wahrgenommen, nicht als Chance und Bereicherung. Bevor sich da etwas ändern wird, braucht es ein Wissen um die Perspektivengebundenheit der vorherrschenden Monokulturen und der daraus entstandenen alltäglichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Diskussion der nächsten Jahre sollte sich deshalb nicht auf ein Entweder-Oder, sondern auf ein Mehr oder Weniger konzentrieren. Eine soziale, kulturelle, schulische, altersmässige und diagnostische Durchmischung braucht eine Kultur der veränderten Wahrnehmungs- und Denkmuster. Nach Warzecha braucht es dafür «eine Kultur, ….  die allem menschlichen Leben eine Bedeutung zumisst als Grundbedingung jeglicher emanzipatorischer Grundprozesse in einer Demokratie» (Warzecha 2003, 25).

Wie wir in unserer Institution ‹Fattoria Gerbione› ein hohes Mass an Heterogenität als mehrperspektivisch-integrales Miteinander leben, ist in Kap. 13.2 beschrieben.