6.1 Bindung und Bindungstypen

Die Bindungstheorie ist ein wichtiges und eines der am besten erforschten Konzepte der Entwicklungspsychologie. Entwickelt wurde sie ab 1933 vom englischen Arzt, Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1909-1990). Er stellte bei Kleinkindern fest, dass mindestens eine Vertrauensperson = Bezugsperson notwendig ist, damit ein Kind eine sichere Bindung zu den Menschen und der Welt entwickeln kann. Diese primäre Bezugsperson ist in der Regel die Mutter. Wenn ein Kind beide Elternteile hat, an die es sich binden kann, so kann es im besten Fall an beide Elternteile eine sichere Bindung entwickeln, oder auch nur an einen Elternteil. Im schlechtesten Fall kann es an beide Elternteile unsicher gebunden sein. Allerdings ist Bindungsverhalten ein interaktiver Prozess, bei dem sowohl das Elternverhalten aber auch die angeborenen Persönlichkeitsfaktoren des Kindes einwirken. Es gibt Kinder, die in einem Elternhaus mit sicherer Basis und guten Erziehungsvoraussetzungen aufwachsen – wie Sensibilität, Verfügbarkeit, Vorhersehbarkeit und offene Kommunikation bei den Eltern – und die nicht auf dieses Angebot eingehen können.

Bowlby stellte zudem fest, dass weniger die Quantität der Interaktionen zwischen Bezugsperson(en) und Kind entscheidend ist, sondern vor allem die Qualität des Verhaltens der Bezugsperson. Diese Qualität muss feinfühlig und zuverlässig sein, damit das Kind eine sichere Bindung aufbauen kann. Die Bezugsperson hat also die Aufgabe, dem Kind Sicherheit zu vermitteln, es jedoch auch in seinem Drang nach Erkundung der Welt (Autonomie, Exploration) zu unterstützen. Zwischen Bindung und Exploration besteht demnach ein unmittelbarer Zusammenhang: nur wenn das Kind einen sicheren Hafen («secure base») hat, von dem aus es die Welt erkunden und zu dem es jederzeit zurückkehren kann, kann es diese Erkundung wirklich frei ausüben (Lengning/Lüpschen 2012). Die Bindungstheorie geht heute davon aus, dass sich menschliche Entwicklung zwischen den Polen Autonomie/Exploration und Bindung ihre individuelle Ausgestaltung sucht. Die Schwierigkeiten, die das Kind in seiner Entwicklung zwischen Autonomie und Bindung zu bewältigen hat, können wir als Erwachsene etwas nachfühlen, indem wir uns vergegenwärtigen, wie anstrengend für uns selbst sich unseres Lebens zuweilen zwischen diesen Polen gestaltet.

Nach Bowlby (2011a) ist Bindung eine Fähigkeit, nicht eine Schwäche. Die Fähigkeit, Bindungen einzugehen, erlernt das Kind in den ersten Lebensjahren. Einerseits verfügt der Säugling über angeborene Fähigkeiten (Sensibilität, Temperament). Andererseits bestimmen die Bezugspersonen mit ihrem Verhalten, welches Bindungsverhalten das Kind erlernt. Ainsworth und Wittig (1969) differenzieren in einer klassischen Laborbeobachtungsmethode drei verschiedene Bindungstypen, die sich vor allem in Bezug auf die Beziehungsstrategien (Bindungssicherheit), auf das Selbstkonzept sowie im Umgang mit Emotionen und Körperkontakt unterscheiden. In den 1980er Jahren wird zusätzlich der Bindungstyp D als desorganisierte, desorientierte Bindung definiert:

  • Unsicher-vermeidende Bindung: Bindungstyp A, 20-29%[1] der Kinder (x̄ = 21%).
  • Sichere Bindung: Bindungstyp B, 45-75% der Kinder (x̄ = 60%)
  • Unsicher-ambivalente Bindung: Bindungstyp C, 5-15% der Kinder (x̄ = 10%)
  • Desorganisierte, desorientierte Bindung:  Bindungstyp D, 10-20% der Kinder (x̄ = 15%).

In ihren Forschungen stellen Ainsworth und Wittig fest, dass die Unterschiede in der Bindungssicherheit der Kinder häufig auf das Verhalten der Bezugsperson(en) – insbesondere deren Feinfühligkeit und Sensitivität – zurückzuführen ist. Ob die Bezugspersonen auf Unsicherheiten und Ängste des Kindes feinfühlig und sensitiv-zuverlässig reagieren – oder eben nicht – scheinen wesentliche Faktoren zu sein, wie ein Kind Bindung erlebt, in sich aufnimmt und abspeichert. Das Verhalten der Bezugsperson(en) scheint sich demnach auf die Bildungsrepräsentation der Kinder direkt auszuwirken:

  • Bei der unsicher-vermeidenden Bindung verhält sich die Bezugsperson zurückweisend und ablehnend, wenn das Kind Unterstützung sucht oder negative Emotionen zeigt. Folglich verinnerlicht das Kind diese Bezugsperson als zurückweisend.
  • Die Bezugsperson von Kindern mit einer sicheren Bindung ist in Situationen, in denen sich das Kind ängstigt oder unsicher fühlt, verfügbar und hilft dem Kind, diese schwierigen Situationen zu bewältigen. Sie ist zuverlässig, liebevoll und feinfühlig. Dementsprechend wird sie vom Kind auch als feinfühlig, liebevoll, helfend und verfügbar wahrgenommen und repräsentiert. In unserer westlichen Kultur gilt die sichere Bindung als bester Bindungstyp. Sicher gebunden Personen können einen feinfühligen Umgang pflegen, ihre Emotionen offen zeigen und verfügen über eine effektive Emotionsregulation.
  • Die Bezugsperson bei der unsicher- ambivalenten Bindung verhält sich in manchen Situationen unterstützend und bietet ihrem Kind Schutz, während sie es in anderen Situationen zurückweist oder alleine lässt. Das Kind erlebt daher die Bezugsperson als unberechenbar, unzuverlässig und hat sie auch so repräsentiert.
  • Kinder mit einer desorganisierten, desorientierten Bindung haben vermutlich Bezugspersonen, deren Bindungssystem aus der eigenen Kindheit noch stark aktiviert ist. Dadurch ist es ihnen nicht möglich, ihrem Kind ausreichende Pflege und konstante Unterstützung zukommen zu lassen. Dies hat zur Folge, dass das Kind keine eindeutige Bindungsstrategie entwickeln oder in bindungsrelevanten Stresssituationen keine oder nur mangelhaft geeignete Bewältigungsstrategien einsetzen kann. Zudem besteht die Vermutung, dass Misshandlungen oder Missbrauch zur Ausbildung dieses Bindungsmusters führen.

Es ist davon auszugehen, dass jedes Kind in seiner jeweiligen Bezugsperson-Kind-Situation sich in das für seine Situation beste Bindungsmuster hinein begibt. Dieses seiner Situation am besten angepasste Bindungsmuster sichert ihm zumindest das Überleben. So wird beispielsweise ein Kind, das immer zurückgewiesen wird, seltener Kontakt suchen, da es sonst immer wieder die Erfahrung macht, zurückgewiesen zu werden, was jedes Mal eine neue schmerzhafte Erfahrung bedeuten würde.

Die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Erfahrungsmuster auf Beziehungsstrategien, Selbstkonzept, Umgang mit Emotionen und Umgang mit Körperkontakt zeigt Abb. 14.

Abb. 14: Bindungstypen und ihre Besonderheiten bei Bindungsmustern

                                                                                                        Quelle: Lengning/Lüpschen 2012, 21


[1]     Die Prozentzahlen stammen aus verschiedenen Studien. Die Verteilung der Bindungsmuster schwankt in unterschiedlichen Kulturen teilweise stark.