6.2 Kindliche Entwicklungsphasen: Bindung und Bindungsstörung

Sigmund Freud hat 1905 in seinen ‹Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie› als erster beschrieben, dass die ersten drei Lebensjahre eines Kindes für seine weitere Entwicklung von grosser Bedeutung sind. Spätere Autoren unterscheiden verschiedene frühkindliche Entwicklungsphasen im Prozess einer Bindungsentstehung (Bowlby, 2006; Mahler 2008; Ainsworth, 1978; Erikson, 1973).

Rudolf Steiner beschreibt 1923, wie die vier leibgebundenen Sinne, der Tastsinn, der Lebenssinn, der Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn, die Basis bilden für vier Phasen der Bindungsentwicklung (siehe Abb. 15). Vereinfacht dargestellt lernt das Kind im ersten Lebensjahr gehen, im zweiten Jahr sprechen und im dritten Jahr denken. In diesen Entwicklungsphasen werden die vier leibgebundenen Sinneswerkzeuge ausgebildet. Alle Sinneseindrücke, die auf das Kind in den ersten drei Lebensjahren einwirken, nimmt es vor allem mit diesen vier Sinnen wahr (Steiner 1989). Ihre Wirkung auf das weitere Leben ist deshalb so gross, weil der Mensch auf diese Lebensphase kein bewusstes Erinnerungsvermögen, keinen bewussten Zugang hat. Die Sinneseindrücke werden und bleiben jedoch im Unbewussten gespeichert – und im Organismus, wie die neuen Erkenntnisse der Neurologie zeigen (vgl. Kap. 7.4.2). Das kleine Kind erübt sich in den ersten drei Lebensjahren diese leiborientierten Sinne und entwickelt dadurch seinen eigenen Körper, seine Selbstwahrnehmung und seine Beziehungen zur Welt. Deshalb sind in dieser Phase die liebevolle Zuwendung und emotionale Versorgung durch die Eltern so entscheidend.

Die einzelnen Entwicklungsschritte des Bindens und Loslassens hat die Entwicklungspsychologin Marijke Bijloo (2011) erforscht und beschrieben. Bijloo beschreibt zwar die frühkindliche Entwicklung. Aber bei einer nicht geglückten Entwicklung sind es diese identischen Beziehungsstörungen, die uns als pädagogische Herausforderungen in der Nacherziehung von Pubertierenden und Adoleszenten täglich begegnen.

Erste Phase: Basisvertrauen – Angst

In dieser ersten Phase geht es um das Entwickeln von Basisvertrauen, als Grundlage von Sicherheit. In der ersten Lebensphase ist das Neugeborene mit der Mutter in einer Symbiose[1], die zugleich eine totale Abhängigkeit des Kindes von der Mutter mitbeinhaltet. Steht die Mutter dem Kind in der symbiotischen Phase angemessen zur Verfügung, kann es das grundlegende Sicherheitsgefühl und Basisvertrauen entwickeln, als Grundlage für spätere Beziehungen. Neuere Studien zeigen, dass das körperliche, seelische und psychische Wohlbefinden der Mutter schon während der Schwangerschaft einen grossen Einfluss auf das Kind hat. Ob ein Kind gewünscht oder ungewünscht ist, findet Ausdruck in seinem Existenzgefühl: gewünscht oder ungewünscht zu sein, existieren zu dürfen oder nicht existieren zu dürfen.

Sinneswerkzeug: Haut. Mit der Geburt wird das Eins-Sein mit der Mutter im physischen Bereich aufgehoben. Es scheint, dass bereits bei der Geburt dem Erleben der eigenen Haut eine grosse Bedeutung zukommt: hier wird die Grundlage gelegt, sich selbst innerhalb der eigenen Haut als abgegrenzt zur Welt zu erleben (Bijloo 2011, 200). Es ist die Haut, die das Neugeborene als Existenz in der eigenen Leiblichkeit von der Mutter und der Welt trennt. Und die Haut ist zugleich Kontaktorgan, das zwischen Innen und Aussen verbindet. Sowohl Konflikte mit der Umwelt als auch innere Konflikte können hier ihren symptomatischen Ausdruck finden: Was uns besonders berührt, zeichnet sich auf der Haut ab. Es ist wohl mehr als Zufall, dass heute Hautkrankheiten verbreitet auftreten. Waren vor 50 Jahren etwa zwei bis drei Prozent der Kinder von Neurodermitis betroffen, sind es heutzutage bereits zehn bis zwölf Prozent. Bei etwa 30 Prozent davon setzt sich die Erkrankung im Erwachsenenalter fort (Weiser 2014, 25).

Die Qualität und Intensität des Körperkontaktes über die Haut in der Kindheit haben massive Folgen für die Gesundheit und die spätere Identitätsfindung. Wie wichtig Berührungen sind, zeigen die zwar brutalen, aber aufschlussreichen Experimente an Affen, die vor etwa 50 Jahren von Harry Harlow durchgeführt wurden. Wurden die Affen ohne Körperkontakt aufgezogen, d.h. lediglich gefüttert, starben sie nach kurzer Zeit. Konnten sie sich dagegen an ein mit Fell bespanntes Drahtgestell ankuscheln, überlebten sie. Bekamen diese Affen allerdings später Kinder, liefen sie schreiend davon, wenn ihre Babys sich an sie anschmiegen wollten. Eine Erkenntnis daraus ist, dass das Körpergedächtnis sehr genau weiss, wie liebevoll oder lieblos die durch die Haut bzw. den Tastsinn erfahrenen Berührungen in den ersten Lebensmonaten waren. Den Grad an Nestwärme und Geborgenheit, den wir kennengelernt haben, können wir ertragen und weitergeben.

Eltern müssen dem Kind empathische Aufmerksamkeit, vorbehaltlose Liebe und Akzeptanz, Verantwortungsgefühl und Sicherheit geben. Dies sind die Voraussetzungen, damit sich ein Basisvertrauen beim Kind zu sich selbst und der Welt überhaupt bilden kann. Wenn diese Voraussetzungen fehlen, kommt es zu schweren Störungen, die diagnostisch als frühkindliche Vernachlässigung oder Verwahrlosung bezeichnet werden. Das Kind erhält keinen festen Boden, auf dem es in sein Leben gelangen kann. Vielmehr bildet sich das Grundgefühl der Angst. Auch wenn der Mutter lediglich eine ambivalente Zuverlässigkeit gelingt, weil sie selbst unter psychiatrischen Konstitutionsbildern oder einer postnatalen Depression leidet, treten später oft Störungen beim Kind auf.

Störungssymptome beim Kind: Zuerst ist vermehrtes Weinen vorhanden, dann treten Angst und Panik auf, die in eine Apathie oder eine innere Abwendung des Kindes übergehen.

Hilfestellungen/Therapie: Das Kind benötigt in jedem Fall einen sicheren Ort, als sicheren Hafen, mit Verlässlichkeit und Empathie, damit es überhaupt leben lernt. Dies kann in einer Pflege- oder Adoptivfamilie der Fall sein. Später können Spiel- oder Vorstellungstherapie für das Verarbeiten hilfreich sein. Bei allen Grenzproblemen hilft das liebevolle Umsorgen des Kindes, ein leichtes Massieren mit warmem Öl.

Zweite Phase: Vertrauen – Misstrauen

In dieser Phase entwickelt sich eine Responsivität (= Antwortverhalten), ein Hin und Her von Signalen zwischen Mutter und Kind, das bereits viel aufmerksamer auf die Welt gerichtet ist. Es kann lächeln, intensive Blickkontakte und Mimik auszutauschen und zeigt grosse Freude an vorhersehbaren Wiederholungen. Solche Austauschspiele können das Kind ganz erfüllen. Es geniesst die mütterliche Versorgung, welche momentanes Unwohlsein und Unlust immer wieder durch Lustgefühle überwinden lässt. So entsteht beim Kind Hingabe und die Bindung wird durch die immer wiederkehrenden Rituale stärker. Die Grundlage für Vertrauen bildet sich. Das Vertrauen in die Mutter, die ihm immer wieder hilft, es tröstet, trägt und wiegt, kann so zum Mut werden, später auch der Welt zu vertrauen.

Sinneswerkzeug: Lebenssinn. Wo Behaglichkeit sich bildet und Vertrauen entsteht, entwickelt sich der Lebenssinn. Das Wohlgefühl, welches das Kind bei der Versorgung durch die Mutter erlebt, wird zu einem Sich-in-sich-selbst-Wohlfühlen und daraus wird das Sich-in-der-Welt-Wohlfühlen.

Eltern müssen in dieser Phase das Kind versorgen, umsorgen, seine Körpersprache verstehen, erreichbar, zuverlässig und beständig sein. Sie sollen Geduld, Verständnis, Mitempfinden und Einfühlungsvermögen mit deutlicher Mimik und liebevollem Sprechen zeigen.

Störungssymptome beim Kind: Wenn das Kind nicht gut umsorgt wird, fühlt es sich nicht wohl in seiner Haut. Es bildet sich das Gefühl in ihm, nicht das zu erhalten, was ihm zusteht, zu kurz zu kommen. Dies äussert sich darin, dass es nie genug bekommen kann, wenn es etwas bekommt. Es wird wie ein ‹Fass ohne Boden› oder beim Essen hat es ‹ein Loch im Bauch›. Später treten Überkompensationen auf wie Naschsucht, immer mehr Gegenstände besitzen wollen, dauernde Partnerwechsel oder bei allen ‹lieb Freund:in› sein zu wollen. Es sind Probleme, die sich im Bereich Hingabe und Abhängigkeit abspielen. Durch fehlendes Vertrauen bildet sich eine frühe Ego-Entwicklung aus, die als Grundlage ein waches Überlebensverhalten, ein Kampfverhalten und ein Misstrauen haben.

Hilfestellungen/Therapie: Die professionelle Hilfe muss empathisch sein, im Verhalten des Kindes mitschwingen, seine Bedürfnisse aufnehmen und moralfrei akzeptieren. Eine sichere Nähe in der Beziehung muss geübt werden. Das Kind kann so erfahren, dass sich der Mensch öffnen, einander Raum lassen und den Kontakt wieder schliessen kann. Dabei darf man das Kind nicht verunsichern oder forcieren. Dafür soll man Einladen, Ermutigen und Stimulieren. Hilfreich sind ebenfalls alle rhythmischen Spiele und auch Körperübungen, die das Vertrauen fördern.

Dritte Phase: Selbstvertrauen – Unsicherheit

In dieser Phase wird das Kind nun selber aktiv. Es lernt Krabbeln, Rollen und Robben, lernt greifen, übt Festhalten und Loslassen und folgt der Mutter mit den Blicken. Dann lernt es aufstehen, sich an Möbeln entlanghangeln und frei laufen. Das Kind ist zwar in all diesem Tun noch völlig abhängig – aber es entwickelt darin seine erste Autonomie, die in einer sicheren Situation sich zu einem Drang nach Erkundung der Welt (Exploration) entwickeln kann. Diese Phase dauert normalerweise bis ins dritte Lebensjahr hinein. Das Kind entwickelt zunehmend Intentionalität (= Fähigkeit des Menschen, sich auf etwas zu beziehen) und lernt, kurze Trennungssituationen auszuhalten. Denn es weiss, dass nach einer Trennung von der Mutter wieder Nähe folgt. Das bisherige Wir wird jetzt zum Ich und Du; das Kind kennt seinen eigenen Namen, weiss wer Mama und Papa sind. Zudem wird die Welt in dieser Phase für das Kind dauerhaft und es erlebt seine eigene wachsende Kraft, Stärke, Beweglichkeit und Fähigkeit zur Selbstäusserung. Das Vertrauen zum anderen wird so zum Vertrauen in das eigene Selbst und die eigenen Fähigkeiten.

Sinneswerkzeug: Bewegungssinn. Das Kind erfährt und erübt unermüdlich die eigenen Bewegungen. Von den ersten Versuchen, den Kopf zu wenden, sich aus der Rücken- in die Bauchlage zu drehen bis zum erfolgreichen, selbständigen senkrecht gehen wird intensiv der Bewegungssinn entwickelt. Darin kann das Kind ein starkes Gefühl von Freiheit und Autonomie erleben. Das kann die Grundlage bilden für eine spätere glückende Exploration des Lebens. In dieser Phase beginnt auch die Nachahmung als feines, flexibles Wahrnehmen, sich Abstimmen auf und Nachbilden der Umgebung, als Fähigkeit, später ein empathisches soziales Wesen zu werden.

Eltern müssen das Kind stimulieren, unterstützen und ihm Raum geben für seinen Forscherdrang. Es braucht nun ein Gleichgewicht zwischen Abstand und Nähe. Das Kind muss Raum erhalten, um sich mit sich selbst beschäftigen zu können; aber im Hintergrund müssen die Eltern zuverlässig erreichbar sein. Es entsteht nun eine Gegenseitigkeit in der Beziehung. Bei ängstlich-überbehütenden oder bei tyrannisch-bestimmenden Müttern kann das Kind das Gefühl von Freiheit und Autonomie nicht erleben und es kommt zu einer Störung des Forscherdrangs und der Autonomie.

Störungssymptome beim Kind: Je nach Persönlichkeits- und Familienstruktur entwickeln sich hier unterschiedliche Problemverhalten. So kann sich beispielsweise das Kind ins Zentrum stellen (es holt sich was es kriegen kann, will immer beachtet werden, nascht, will gierig alles für sich) oder es stellt sich an den Rand (verhält sich ängstlich, abwehrend, unsicher, rasch weinend) oder wirkt aggressiv-abwehrend (beisst, kneift, schreit, schlägt um sich) oder verhält sich passiv-klammernd (klammert sich an, ist unsicher, sucht ängstlich die Bindung).

Hilfestellungen/Therapie: Die professionelle Hilfe muss dem Kind Raum geben. Sie soll dem Kind gegenüber nicht direktiv aber aufmerksam und helfend zugewandt sein. Die professionelle Hilfe muss als innere Haltung Vertrauen in die Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten des Kindes haben und eine Beziehung aufbauen, die auf maximaler Hinwendung bei optimaler Distanz beruht.

Vierte Phase: Freiheit – Einsamkeit

Zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr – normalerweise im dritten – beginnt die Trotzphase. Das Kind hat jetzt die Ich-Du-Trennung vollständig vollzogen und beginnt erstmals und bewusst «Ich » zu sagen, anstatt wie bisher seinen Namen zu nennen. Dieses Ich beginnt nun das Gegenüber abzutasten, zu testen und seine Grenzen herauszufordern. Das Kind sagt «Nein», zwängt und verhält sich frech. Das ist Ausdruck, dass sich das Kind unabhängig vom Du und der Umwelt erleben kann, zu diesen eine gewisse Distanz wahrnimmt. Es beginnt in dieser Phase ein eigenes Verhältnis zu den Mitmenschen und der Welt zu entwickeln. Da liegt der Beginn der eigenen bewussten Identitätsentwicklung; die Welt wird erfahrbar, gestaltbar und formulierbar. Das Kind gewinnt mehr Vertrauen in sich selbst und in die eigenen Möglichkeiten. Aber es kann nur so viel an Vertrauen entwickeln, wie es vorher Vertrauen zum Du entwickeln konnte und sich in diesen Kontakten sicher fühlen konnte. Das Selbstbild und die eigene Identität sind noch sehr abhängig vom sicheren Gegenüber, sind noch sehr empfindlich gegenüber Kränkungen, Zurückweisungen oder nicht verstehbaren ambivalenten Verhaltensweisen.

Wenn dieser Prozess gelingt und das Kind, im physischen und symbolischen Sinn, ‹auf eigenen Beinen stehen› lernt, kann der Prozess des Loslassens ohne Angst und Verkrampfung geschehen. Bei einer gelingenden Entwicklung kann das Kind nun seelisch und physisch Distanz halten und aushalten, seine Autonomie und Freiheit und seinen Selbstrespekt weiterentwickeln. Bei einer nicht gelingenden Entwicklung muss das Kind weiterhin Festhalten, Klammern oder Verkrampfen.

Sinneswerkzeug: Gleichgewichtssinn. Das Kind lernt in dieser Phase das Gleichgewicht von oben und unten, vorne und hinten, links und rechts halten. Ein gut entwickelter Gleichgewichtssinn ist menschenkundlich Voraussetzung, damit das Kind später eine eigenständige Urteilbildung entwickeln kann, die wiederum den Boden für eine moralische Entwicklung bildet. Je mehr Gleichgewichtskräfte das Kind entwickeln kann, desto stärker werden später seine moralische Integrität und seine Entscheidungsfreiheit des Ich.

Eltern müssen weiterhin empathisch, helfend, aber auch deutlich und konsequent sein, indem sie dem Kind Grenzen setzen, Ich-Botschaften geben und in der Trotzphase ein Fels in der Brandung sind. In dieser Phase müssen sie zudem dem Kind seine eigenständige Daseinsberechtigung geben, sich von eigenen Idealbildern oder Wünschen lösen – und dafür vielmehr die Eigenheit des Kindes wahrnehmen und akzeptieren.

Störungssymptome beim Kind: Zeigt das Kind Problemverhalten, stammt dies häufig aus Fehlentwicklungen in den früheren Phasen. Das Kind zeigt jetzt entweder eine Scheinselbständigkeit, eine Angst vor Nähe, ein krampfhaftes Sich-selbst-Behaupten. Oder es offenbart seine innere Unsicherheit in einem altersunangemessenen Klammern, in zu grosser Abhängigkeit. Oder das Kind ist in grosser Verwirrung wie es sich verhalten soll, äussert Scham, Zweifel und Kränkungen, die darauf hinweisen, dass es sich nicht als eigenständiges Wesen mit genügend Distanz erlebt.

Hilfestellungen/Therapie: In dieser Phase geht es um Freiheit versus Einsamkeit. Das Kind muss Akzeptanz erfahren in seinen individuellen Eigenheiten, die jetzt sichtbar werden. Es muss Raum = Freiheit erhalten für seine individuelle Entwicklung. Wenn es da Unterstützung erfährt, wird sein Selbstvertrauen gestärkt. So kann es lernen, seine Bedürfnisse zu formulieren, keine Angst vor Auseinandersetzungen zu haben, zu verhandeln und Kompromisse einzugehen. Andernfalls bleibt es in seiner inneren Einsamkeit und seelischen Isolation gefangen.

Abb. 15: Die 4 Entwicklungsphasen zwischen Geburt und 4. Lebensjahr

                                                                                                                          Quelle: Bijloo 2011, 190

Ergebnis der Phasen 1 bis 4: Kreativität – Ohnmacht

Wenn das Kind sichere und vertrauensvolle Bindungen erfährt, lernt es daraus, auch sich selbst zu vertrauen. Es kann somit zu anderen Menschen und zu sich selbst Bindungen eingehen und diese auch wieder loslassen. Als Ergebnis kann das Kind jetzt selbständig sein, eigenständig in der Welt stehen und handeln. Kinder spielen in diesem Alter oft Rollenspiele, in denen sie sich in andere Menschen hineinversetzen, verschiedene Situationen spielen und so verstehen lernen. In diesen Rollenspielen erlebt es prozesshafte Kreativität, innere Gefühle in äussere Initiative umzusetzen und soziale Anpassungsleistungen zu erbringen. So wird das Kind selbstsicher und lernt, sich selbst und die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen.

Auf dieser Basis kann sowohl die Gegenseitigkeit in Beziehungen als auch die eigene Autonomie weiter ausgebaut werden. So kann es sich zunehmend besser wahrnehmen, bekommt ein Gespür für seine Fähigkeiten, sein Können, seine Schwächen und kann sich dem eigenen Selbst und seiner Aufgabe auf der Erde öffnen. Sein Mut und das eigene Willensleben entwickeln sich weiter. Diese Entwicklungen setzen jedoch empfangene Akzeptanz und Liebe voraus.

Wenn die Bindung unzureichend vorhanden ist, zeigen sich verschiedene Verhaltensformen. Ihnen gemeinsam ist, dass das Kind in eine innere Ohnmacht verfällt, unfähig ist, den eigenen Raum einzunehmen und angemessen selbständig zu sein. Die in der vierten Phase beschriebenen Störungssymptome verstärken sich. Bei zu grosser Abhängigkeit bleibt eine eigene Willensentwicklung weitgehend aus. Bei einer Weigerung, abhängig zu sein, kann sich keine soziale Nähe zum Menschen entwickeln. Bei grosser Verwirrung ist die Ohnmacht umfassend. Darin zeigen sich die drei Typen unsicherer Bindung:

  • ängstlich-ambivalent
  • ängstlich abwehrend
  • ängstlich desorganisiert.

Das unsicher gebundene Kind benötigt für seine eigene Sicherheit Abwehrmechanismen, die es bereits im frühkindlichen Alter auszubauen beginnt Es sind die aus der psychoanalytischen Psychologie bekannten Abwehrmechanismen der Projektion, Verneinung, Verdrängung, Verschiebung oder Rationalisierung.

In diesen Entwicklungsphasen zwischen Geburt und 4. Lebensjahr werden die Grundlagen für die weitere Entwicklung des Kindes gelegt. Die Phänomene, denen wir bei verhaltensauffälligen Jugendlichen begegnen, haben vielfach hier ihre Ursachen. Gravierend erlebte Vernachlässigungen in den ersten drei Lebensjahren, die einen sicheren Beziehungsaufbau verunmöglichten, sind später nicht wieder gutzumachen.

Bijloo (2011) setzt als Ergebnis dieser 4 Entwicklungsphasen die ‹Kreativität› bei der gelungenen Entwicklung – und andernfalls äussert sich das Kind in seiner ‹Machtlosigkeit› (Abb. 16).

Abb. 16: Ergebnis am Ende der 4 Entwicklungsphasen

Nach: Bijloo, 2011, 190


[1]    Symbiose (griechisch «symbioun») = zusammenleben. Nach der Geburt ist das Kind körperlich und seelisch gänzlich von der Mutter abhängig. Es kann noch nicht zwischen sich und der Mutter unterscheiden und erlebt die Mutter noch als Teil seiner Person, sich als untrennbare, symbiotische Einheit mit ihr.