In stationären Institutionen ist die sichere Bindung selten, die unsicher-vermeidende, die unsicher-ambivalente und die desorganisierte-desorientierte Bindung dagegen überproportional anzutreffen.
Die ersten Studien über die Verteilung der Bindungsrepräsentationen von Kindern und Jugendlichen in stationären Institutionen wurden ab dem Jahr 2000 in Deutschland, Holland und England durchgeführt.
In einer Untersuchung von Schleiffer und Müller im Jahr 2002 bei 72 Jugendlichen einer stationären Institution in der BRD (39 männlich, 33 weiblich; Alter zwischen 12 und 23 Jahren), deren Bindungsrepräsentanz mit dem Erwachsenenbindungsinterview (AAI) erhoben wurde, «zeigte sich, dass die Jugendlichen fast ausschliesslich als unsicher gebunden klassifiziert werden mussten. Lediglich bei drei Jugendlichen wurde ihr Interview als sicher gebunden eingeschätzt.» (Schleiffer 2015, 118) Zu ähnlichen Resultaten gelangt eine Studie aus Holland, in der delinquente Jugendliche in einer Erziehungseinrichtung untersucht wurden. Von 81 mit dem AAI untersuchten Jugendlichen verfügten nur 6 über eine sichere Bindungsorganisation (Zegers et al. 2006). In einer Studie aus England mit 39 Jugendlichen in einer psychiatrischen Klinik wiesen lediglich 4 Patienten eine sichere Bindung auf. Im Interview gaben 36 Patienten ein noch unverarbeitetes traumatisches Verlusterlebnis an (Wallis/Steele 2001).
In der Schweiz mangelte es lange an epidemiologischen Untersuchungen von Kindern und Jugendlichen in Heimeinrichtungen. Dieser Thematik hat sich dann mit grossem Engagement PD Dr. Marc Schmid, leitender Psychologe und Bereichsleiter Forschung der Universitären Psychiatrische Kliniken Basel, Kinder- und Jugendpsychiatrische Forschungsabteilung, angenommen.
In dem von Schmid geleiteten Modellversuch waren 592 Kinder und Jugendliche (davon 190 weiblich, 32%) aus 64 sozialpädagogischen Institutionen aus allen drei Sprachregionen der Schweiz beteiligt. Bereits die Betrachtung der Biographien und psychosozialen Risikofaktoren zeigt die hohe psychische Belastung der Jugendlichen. Die Mehrzahl von ihnen akkumuliert mehr als vier Risikofaktoren:
- 28% Sucht mindestens eines Elternteils
- 30% psychiatrische Auffälligkeiten der Kindsmutter
- 11% Kindsvater im Gefängnis
- 45% mindestens ein Schulwechsel wegen disziplinarischen Schwierigkeiten
- 50% der über 16jährigen waren vor der aktuellen Massnahme mindestens einmal fremdplatziert. 30% wiesen zwei oder mehr vorhergehende Platzierungen auf
- 3% der Heranwachsenden fünf oder mehr
- 80% der Jugendlichen berichten über mindestens ein traumatisches Erlebnis
- 49% über mehr als drei.
«Die Resultate bezüglich der kategorialen psychischen Belastung belegen, dass 74% der Schweizer Heimjugendlichen unter mindestens einer psychischen Erkrankung leiden und in standardisierten klinischen Interviews mindestens eine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose er-halten. Über 40% davon erfüllen die Diagnosekriterien für zwei oder mehr psychische Erkrankungen nach ICD-10/DSM-5-TR. Die Ergebnisse bestätigen die Befunde aus internationalen Studien und zeigen, dass viele fremdplatzierte Kinder und Jugendliche einen sehr hohen pädagogischen Bedarf aufweisen und neben der milieutherapeutischen Unterstützung häufig auch kinder- und jugendpsychiatrische/-psychotherapeutische Hilfe benötigen. Erfreulich ist, dass die Kinder und Jugendlichen, die bereits mehrere Jahre in Fremdplatzierung leben, deutlich seltener Diagnosekriterien für psychische Erkrankungen erfüllen.» (Schmid 2013, 146). Die von Dölitzsch et al. 2014 veröffentlichten Untersuchung zu Mehrfachdiagnosen bei Schweizer Heimjugendlichen zeigt auf, «dass über 80% der Kinder und Jugendlichen, die in der stationären Jugendhilfe betreut werden, von mindestens einem traumatischen Lebensereignis berichten sowie die Hälfte von mehr als drei traumatischen Lebensereignissen» (Dölitzsch et al. 2014). Diese Resultate wurden im Modellversuch bestätigt, der nachfolgend im Auftrag des Bundesamtes für Justiz in sozialpädagogischen Institutionen des stationären Massnahmenvollzuges durchgeführt wurde: «Mit 483 in Schweizer sozialpädagogischen Einrichtungen platzierten Heranwachsenden im Alter von 6 bis 25 Jahren wurden klinische Interviews zur Diagnostik psychischer Störungen durchgeführt. … Die Prävalenz psychischer Störungen lag bei 74%. Von den Betroffenen erfüllten 60% die Kriterien für mehrere Diagnosen, etwa 25% litten an komplexen psychischen Störungen mit emotionalen und externalisierenden Symptomen.» (Schmid et al. 2017)