Am eindrücklichsten und deutlichsten mit der Tatsache, was traumatisierte Kinder und Jugendliche an Belastungen mit sich bringen, konfrontierten uns in den 1980-1990-er Jahren Kindern, die in Ex-Jugoslawien, Ungarn oder Bulgarien in Kinderheimen aufgewachsen waren und dann im Alter von ein- bis dreijährig in unsere Kultur adoptiert wurden. Nach jahrelangen ambulanten Interventionen wurden wohl die meisten dieser Kinder mit Beginn der Pubertät in eine stationäre Institution eingewiesen. Trotz grösstem Einsatz, hoher Präsenz und Konstanz in der Arbeit ist es mir nie gelungen, frühverwahrloste und damit traumatisierte Kinder im Jugendalter noch zu sicheren Bindungen zu führen, damit sie als Erwachsene nicht nur Beziehungsabbrüche produzieren müssen und eigene Kinder möglichst behalten und selbst erziehen können. Die bei solchen Kindern/Jugendlichen im jungen Erwachsenenalter diagnostizierten bipolaren-, multiplen Persönlichkeits- oder Borderline-Störungen sind nicht mehr heilbar. Der Grund dafür ist, dass die frühkindlichen Erlebnisse zwar im Unbewussten gespeichert, aber dem Bewusstsein später nicht zugänglich – und damit auch nicht einfach ‹therapierbar› sind. Das zumindest ist meine persönliche Erfahrung.
Wer heute mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeitet, trifft die immer wieder gleichen Symptome und Syndrome. Die Komplexität der Psychodiagnostik von DSM-5 und ICD-11 vereinfachend, könnte man all diese Störungsbilder als Bindungs- und Beziehungsstörungen diagnostizieren. Phänomenologisch handelt es sich immer um gestörte Beziehungen zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zur Umwelt. In allen Fällen ist eine Identifikation mit der Erwachsenenwelt, den erwachsenen Bezugspersonen der Familie, den Lehrpersonen, im weiteren Sinn mit den Zielen, Normen und Werten der Gesellschaft missglückt. Ebenso liegen den einzelnen Verhaltensweisen wie Gewalttätigkeit, destruktives oder selbstverletzendes Verhalten, Drogenkonsum, Leistungsverweigerung, Depression, Psychose, Borderline immer gestörte Beziehungen zu sich selbst und zu den Mitmenschen respektive zur Um- und Mitwelt zugrunde.
Diese Aussagen sind mit Ergebnissen verschiedener empirischer Untersuchungen über Beziehungsabbrüche bei delinquenten Jugendlichen klar und bestätigt:
Je mehr in der Vorgeschichte Hilfsmassnahmen gescheitert sind und je mehr Beziehungsabbrüche Jugendliche erlebt haben,
- desto geringer und schlechter ist die Wirksamkeit der aktuellen Hilfemassnahme und desto höher ist das Risiko für weitere Abbrüche (Macsenaere/Knab 2004; Schmidt u.a. 2002);
- desto höher und schwerer ist die Delinquenz (Ryan/Testa 2005);
- desto stärker ist die Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigt auf dem weiteren Lebensweg (Aarons u.a. 2010);
- desto höhere Folgenkosten sind im medizinischen Bereich vorhanden (Rubin u.a. 2004);
- desto schlechter ist die Bindungsqualität (Macsenaere/Esser 2012; Schleiffer 2014, Pérez/Schmid 2012);
- desto höher ist die Belastung für die Fachkräfte, die eine emotionale Beziehung zum einzelnen Kind und Jugendlichen eingehen müssen (Schmid 2010);
- desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Wiederholungen der Beziehungserfahrungen aus dem Herkunftssystem (Schmid 2010).
Aus den zahlreichen Forschungen über das Bindungsverhalten scheinen diese Tatsachen empirisch abgesichert. Als kritische Betrachter:in könnte man sich fragen: Weshalb werden diese Erkenntnisse von Politiker:innen und Erziehungswissenschaftler:innen in den staatlich finanzierten stationären Institutionen nicht umgesetzt? Die Erziehungswissenschaftler:innen werden antworten, dass sie zwar wissenschaftliche Untersuchungen durchführen und Ergebnisse bereitstellen – aber für die Umsetzung nicht zuständig sind. Die Politiker:innen können antworten, dass sich nur ein kleiner Teil dieser Erkenntnisse spezifisch auf die institutionelle Fremdbetreuung in Tagesstätten oder Heimen bezieht. Und diese wenigen Ergebnisse würden sich vor allem auf Säuglinge und Kleinkinder beziehen. Und sie hätten beide recht.
In der Tat finden sich in der Literatur bemerkenswert wenige Forschungsergebnisse aus der stationären Betreuung von Kindern und Jugendlichen (vgl. Macsenaere/Esser 2012, 7; Schleiffer 2014, 114; Lengning/Lüpschen 2012, 38f.; Ahnert 2008, 256ff.; Rutter 2006, 104). Erst nach dem Jahr 2000 haben Wissenschaftler:innen begonnen, sich mit der Frage nach der Wirkungsforschung und Wirkungsorientierung von stationärer Erziehung zu beschäftigen. Mittlerweile liegen in Deutschland jedoch über 100 Wirkungsstudien vor (Macsenaere/Esser 2012, 7). In der Schweiz dürften es gegen 20 Studien sein, die noch laufenden miteingerechnet. Diese Studien bedeuten für die stationären Institutionen zweifelsohne einen grossen Fortschritt. Sie bieten neue und notwendige Erkenntnisse – oder bestätigen die vorhandenen Dilemmata. Trotzdem bleiben viele Fragen weiterhin offen. Die Frage, wie Bindungsstörungen bei verhaltensauffälligen Jugendlichen behandelt werden können oder die Frage, ob es beispielsweise altersspezifische Effekte gibt und wenn ja, welches die Unterschiede sind, ist wissenschaftlich nahezu unberührtes Feld. Der emeritierte Professor für Psychiatrie in der Heilpädagogik, Roland Schleiffer, kritisiert in Deutschland, dass im Jahr 2012 für die Jugendhilfe insgesamt 3.26 Milliarden Euro ausgegeben wurden, aber eigentlich keine Wirkungsforschung bestehe – das könne «wahrlich nicht befriedigen» (2014, 114). Im Gegensatz zu Deutschland bestehen in der Schweiz nicht einmal Angaben über die Gesamtkosten der ambulanten resp. stationären Hilfeleistungen – ob diese Situation als ‹wahrlich noch viel weniger befriedigend› oder als ‹völlig ungenügend› bezeichnet wird, ist Ermessenssache.
Aufgrund der vorhandenen Forschungsergebnisse muss sich die stationäre Erziehung folgenden Ergebnissen stellen:
Bindungsperson/en. Es gilt der Grundsatz: Bindungserfahrungen lassen sich nur im Umgang mit Bindungspersonen machen.
Damit ein stationärer Aufenthalt Kindern und Jugendlichen korrigierende Bindungserfahrungen ermöglichen kann, müssen Erzieher:innen die Funktion von Bindungspersonen übernehmen. Dies setzt voraus, dass sie sich als Mensch, als Bindungsperson zur Verfügung stellen. Die Notwendigkeit dieser Bindungsfunktion wird in allen bindungsrelevanten Situationen besonders deutlich: Wenn die Kinder und Jugendlichen Sorgen oder Krisen haben, wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie krank sind und Schmerzen haben. Wir können aber nicht jeder betreuenden Person gleich die Qualität einer Bindungsperson zusprechen, nur weil sie irgendwann eine bindungsrelevante Handlung vollbringt. Diese Qualifikation ist für Personen reserviert, die mehrheitlich anwesend, innerlich offen und tragfähig sind, die für das körperliche und seelische Wohl des Kindes/Jugendlichen sorgen, «wenn nicht schon dauerhaft, so doch über eine lange Zeit, verantwortlich sind, diese also versorgen und sich Sorgen machen» (Schleiffer 2014: 242f).
Hauptbindungsperson ist diejenige Person, die sich am meisten um das Kind, den Jugendlichen kümmert (Brisch 2015; Schleiffer 2014; Lengning/Lüpschen 2012; Bowlby 2011a). In stationären Institutionen arbeiten häufig auch PädagogInnen mit 30-50%-Anstellungen als Bezugspersonen. De facto können sie mit einer Anwesenheit von 14 bis 20 Stunden/Woche (minus Rapporte, Sitzungen, Büroarbeiten) gar nicht Hauptbindungsperson von Kindern/Jugendlichen werden, da sie zu wenig anwesend sind um ihnen Beziehungskonstanz anzubieten.
Es ist bisher wissenschaftlich ungeklärt, wie und wieweit die unterschiedlichen und wechselnden Bezugspersonen in stationären Institutionen auf die internalen Arbeitsmodelle[1] von Kindern und Jugendlichen wirkt (Lengning/Lüpschen 2012, 36). Das heisst, es ist unklar, ob sie diese Wechsel einfach in ihre vorhandenen Beziehungsstörungen integrieren oder ob ein Heimaufenthalt im schlechtesten Fall sogar die vorhandenen Störungen verstärkt. Schleiffer (2015, 120) äussert sich in professoraler Vorsicht, wenn er vermutet, «dass im Heim die Vielzahl schon an den Schichtdienst gebundener und damit kaum jemals exklusiver Beziehungen eine solche Entwicklungsaufgabe noch zusätzlich erschwert.» Wenn Institutionen die Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Traumapädagogik ernst nehmen, müssen sie nicht nur den Schichtdienst abschaffen, sondern auch die oft 14-tägig wechselnden Arbeitspläne und die niederen Anstellungsprozente in der direkten Betreuung. Alle diese Punkte sind heute in der Heimerziehung kontraindiziert.
Allen Evaluationsstudien gemeinsam ist das Ergebnis, dass eine kooperative, persönliche und zunehmend tragfähige Beziehung zwischen den Kindern/Jugendlichen und ihren professionellen Helfer:innen die Wirksamkeit von Heimerziehung ausmacht oder zumindest entscheidend beeinflusst. Diese Aussage wird gestützt durch Untersuchungsergebnisse von ehemaligen Heimbewohner:innen. Schon Wieland et al. (1992) kamen zum Ergebnis, dass die von ihnen befragten jungen Erwachsenen ihren Heimaufenthalt als Kind/Jugendlicher dann als positiv bewerteten, wenn sie die Beziehung zu ihren Betreuer:innen als persönlich, exklusiv beschreiben konnten. Auch Gehres (1997) kommt bei der Befragung von dreissig ehemaligen Heimkindern zu ähnlichen Ergebnissen. Die inzwischen Erwachsenen gaben an, dass die persönliche Beziehung zu ihren Bezugspersonen den grössten Einfluss auf ihre Entwicklung hatte. Die umfassendste Studie stammt vom deutschen Heilpädagogen und Heimleiter Klaus Esser. Er verschickte 2008 für seine Dissertation einen Fragebogen an 1’550 ehemalige Bewohner:innen, die zwischen 1945 und 2008 in sechs verschiedenen katholischen Kinderheimen und -dörfern lebten. Auch wenn schlussendlich ‹nur› 344 Personen antworteten, ist dies eine beachtliche Anzahl für eine Studie in stationären Einrichtungen. Bei den Ergebnissen machte Esser als besondere Problemgruppe diejenigen Kinder und Jugendliche aus, die mit traumatischen Erlebnissen eingewiesen wurden und im Heim keine Bindungsperson fanden resp. suchten. Traumatisierung war sowohl Einweisungsgrund als auch ein negativer Wirkfaktor während des Heimaufenthaltes. Die meisten Befragten gaben an, im Heim eine Bindungsperson gefunden zu haben. Diese Befragten bewerteten ihre Heimerfahrungen und erhaltenen Hilfeleistungen besser. Macsenaere und Esser (2012, 81) kommen zum Ergebnis, es liege «ein klarer Nachweis dafür vor, dass die Bindungsperson der zentrale Schlüssel für die Wirkung der stationären Jugendhilfe ist.»
Bei der Gruppengrösse gilt die Erkenntnis: Je kleiner die Gruppe, desto wahrscheinlicher kann eine Entwicklung in Richtung ‹sichere Bindung› geschehen.
Oder wie Lengning/Lüpschen (2012, 38) formulieren: «Nur in kleinen Gruppen kann die dem Kind entgegengebrachte Sensitivität die Bindungssicherheit vorhersagen.» Die Feststellung erscheint plausibel, dass in einer kleineren Gruppe von dissozialisierten Jugendlichen bessere Entwicklungschancen in Richtung einer sicheren Bindung bestehen als in einer grösseren Gruppe. Sie kann höchstens zu Diskussionen Anlass geben, was denn eine kleine Gruppe sei. Sind es nur zwei, drei, vier oder können es sechs, acht oder gar zehn Jugendliche sein? Unserer Erfahrung nach setzt ab drei, sicher aber ab vier Jugendlichen mit gleichen Stärken und Schwächen die Negativspirale der Monokulturen ein. Zwei bis drei und maximal vier dissozialisierte oder psychisch auffällige Jugendliche erscheinen ideal. Sie fühlen sich nicht ganz allein, sondern haben ihnen entsprechenden Austausch – ohne dass eine negative Gruppendynamik einsetzt. In grösseren Gruppen müssen die Erzieher:innen sensitiv (= empfindsam, feinfühlig, feinsinnig) und responsiv (= ansprechbar) sein der ganzen Gruppe gegenüber. Bindungssicherheit kann hier nur erreicht werden, wenn das Erzieher:innenverhalten empathisch ist und diese Empathie auf das ganze Gruppenklima bestimmend wirkt (vgl. Ahnert 2008, 256ff.).
Fazit ist, dass die heutigen Institutionen mit durchschnittlich 8 Jugendlichen pro Gruppe und 20 bis 60 Jugendlichen pro Institution dieser Forderung nicht entsprechen. Das Ziel von zwei bis vier Jugendlichen pro Wohn- und Lebenseinheit, als ‹Gruppe›, wird als Ziel anzustreben sein. Dies zwingt die Institutionen zu massiven strukturellen Veränderungen.
Bezüglich Anzahl Betreuungspersonen gilt: In den Gruppen müssen genügend Betreuungspersonen anwesend sein und zur Verfügung stehen.
In den Institutionen für Nacherziehung ist diese Anforderung in der Regel erfüllt. Die kantonalen Aufsichtsstellen oder das BJ gegeben einen Minimalstellenplan und den Anteil an Fachpersonal vor. Zum Beispiel verlangt das BJ einen Stellenplan für eine Gruppengrösse von 6-10 Jugendliche minimal 460% pädagogisch ausgebildetes Fachpersonal. Je nach Kanton muss der Anteil an pädagogischem Fachpersonal am Gesamtstellenplan minimal 50%, 66% oder 75% betragen.
Fazit ist: Die Forderung nach genügend Betreuungspersonal ist in den Institutionen erfüllt. Die Mehrheit der Institutionen dürfte sich in ihrem Eigeninteresse an diese Vorgaben halten, um den normalen Alltag bewältigen zu können.
Konstant anwesende Betreuungspersonen: Es gilt die Erkenntnis: Die Betreuungspersonen sollen möglichst konstant vorhanden und verfügbar sein.
Der Anforderung nach möglichst konstant vorhandenen und verfügbaren Betreuungspersonen wird in den Institutionen für Nacherziehung in keiner Weise nachgelebt. Die Institutionen arbeiten in der Regel mit drei Arbeitsschichten pro Tag: Zwei bis drei Pädagog:innen bestreiten den Morgen und arbeiten bis am Nachmittag, dann decken zwei bis drei Pädagog:innen den Nachmittag und Abend ab und eine Person macht anschliessend die Nacht. Wenn noch die Lehrer:innen oder Lehrmeister, die Ateliermitarbeitenden und Therapeut:innen dazu gezählt werden, summiert sich das pro Tag rasch auf 10 bis 15 Personen, welche die Jugendlichen in irgend einer Weise erziehen, betreuen und beschäftigen.
Halten wir uns vor Augen: es handelt sich um Jugendliche, die durchwegs an Beziehungsstörungen leiden und möglichst noch in Richtung einer ‹sicheren Bindung› entwickelt werden sollen. Wenn man ein Konzept entwickeln müsste, um bindungsunsicheren Jugendlichen nicht konstante Beziehungen anzubieten – man käme auf die heute bestehenden Arbeitspläne in stationären Institutionen, inklusive Kliniken.
Kinder und Jugendliche mit Beziehungsstörungen können eine sichere Bindung nicht zu 10 bis 15 Erwachsenen einüben. Beziehungslernen geschieht als Prozess zuerst zu wenigen Bezugspersonen, die dafür konstant anwesend sind und zu denen exemplarisch eine sichere Bindung geübt werden kann. Das heisst in der Konsequenz für die Nacherziehung: man muss mit den Jugendlichen zusammen leben. Matějček weist schon 1974 auf die negativen Folgen der Heimerziehung hin, indem er die positiven und wünschenswerten Merkmale des Familienlebens charakterisierte und diese von der Kollektiverziehung in Heimen unterschied. Während Eltern sich Tag und Nacht um das Kind kümmern, tun dies professionelle Betreuer:innen primär während ihrer Dienstzeit. Ein weiteres Charakteristikum der Familie ist nach Matějček die Tiefe und Beständigkeit emotionaler Bindungen zwischen Eltern und Kind. Eine solche Beständigkeit ist in der heutigen kollektiven Heimerziehung schlicht unerreichbar (Matějček 1974, nach Šturma 2006, 166). Mollenhauer weist ebenfalls auf diesen sehr wichtigen Faktor der pädagogischen Beständigkeit und Beziehungskonstanz hin: «Sofern wir mit Kindern leben, müssen wir – und es geht nicht anders – mit ihnen unser Leben führen … Das ist zwar eine Trivialität, aber gleichsam die erste und ernsteste pädagogische Tatsache» (Mollenhauer, 2008, 20). Rost (2002, 14) schreibt: «In der Praxis müssen wir auch den Dialog mit Kindern und Jugendlichen führen und vor allem mit ihnen leben».
In der gelebten Realität ist für fast alle Mitarbeitenden die pädagogische Arbeit in Institutionen der Nacherziehung Arbeitsstelle – aber nicht Lebens- und Wohnort.
Fazit ist: Institutionen mit Schichtbetrieb sind in der Nacherziehung und Betreuung von Jugendlichen mit Beziehungsstörungen eigentlich absolut kontraindiziert. Wir haben als Gesellschaft ein Problem, wenn geschätzte 95% aller Institutionen in der Nacherziehung und Jugendpsychiatrie völlig ungeeignete Konzepte aufweisen, die gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse nicht berücksichtigen und umsetzen.
Konstanz von Beziehungsmustern: Es gilt: Es konnte in keiner Studie belegt werden, dass ein Bindungsmuster, das ein Kind einmal entwickelt hat, während seines ganzen Lebens stabil bestehen bleibt (Brisch 2015; Spangler/Zimmermann 2011).
Bindungsmuster neigen zwar zu Stabilität. «Dennoch sind Veränderungen sowohl von einer sicheren zu einer unsicheren Bindung als auch umgekehrt möglich. Diese Änderungen müssen jedoch nicht zwingend stabil sein» (Lengning/Lüpschen 2012, 33). Eine Veränderung des Bindungsmusters ist bei einschneidenden Veränderungen der Lebensumstände möglich wie z.B. der Tod einer Bezugsperson, die Trennung oder Scheidung der Eltern als wichtige Bezugspersonen. Solche gravierend-kritische Lebensereignisse können sich traumatisierend auswirken und eine Veränderung der Beziehungsmuster zur Folge haben, so dass sich «infolgedessen sogar eine desorganisierte Bindung entwickelt» (Lengning/Lüpschen 2012, 32). Diese wissenschaftlich eruierten Ergebnisse der Veränderung von Beziehungsmustern in kritischen Lebenssituationen sind in der praktischen Nacherziehungsarbeit bekannt.
Fazit ist: Die Tatsache, dass Bindungsmuster veränderbar sind, legitimiert jegliche pädagogisch-therapeutischen Anstrengungen in der Nacherziehung. Der Eintritt in eine stationäre Institution ist für alle Kinder/Jugendliche ein einschneidendes Lebensereignis und der Aufenthalt müsste von den Pädagog:innen daher als Anlass zur Veränderung der bisherigen Beziehungsmuster gestaltet werden.
Veränderung von Beziehungsmustern. Es gilt die Erkenntnis: Eine Veränderung der internalen Arbeitsmodelle wird mit zunehmendem Alter des Kindes, Jugendlichen immer schwieriger (Brisch 2015; Spangler/Zimmermann 2011).
Es ist nachvollziehbar, dass eine Veränderung der anerworbenen Beziehungsmuster mit zunehmendem Alter des Kindes, Jugendlichen immer schwieriger wird. Dies ist mit ein Grund, dass die Nacherziehung von 14 bis 22-Jährigen von Pädagog:innen einen nahezu existenziellen Einsatz, viel Durchhaltevermögen und eine hohe Frustrationstoleranz fordert. Die Phase der Pubertät und Adoleszenz ist biografisch auf die Ablösung von den erwachsenen Bezugspersonen ausgerichtet. In dieser Situation eine sichere Bindung zu etablieren ist für Jugendliche und Pädagog:innen doppelt anspruchsvoll.
Als ein Problem vieler Studien zum Bindungsverhalten ist folgender Sachverhalt zumindest darzustellen: Bei der absoluten Mehrheit der Studien zeichnen Professor:innen oder Mehrfach-Doktorierte als Studienleitende und Verfassende. Aus wissenschaftlicher Sicht und Reputationsgründen ist dies heute für die Wissenschaftler:innen zwingend. Theoretisch-fachlich sehr versiert und oft brillant verfasst ist ihren Ausführungen eine gewisse Praxisferne jedoch nicht abzusprechen. Diese Tatsache darf gerade in der Bindungstheorie nicht übersehen werden. Aus ihrem eigenen Lebenshintergrund und ihrer Erfahrung heraus propagieren die Professor:innen bei Bindungsstörungen als Behandlungsansatz durchgehend und einseitig psychotherapeutische Massnahmen. Dies ist absolut nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Fachbücher von Professoren und Fachärztinnen stammen wie Besser, Brisch, Grossmann, Hellbrügge, Riedesser oder Schleiffer, um nur einige zu nennen. Dass Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ihre psychiatrisch-therapeutischen Ansätze als geeigneten Zugang betrachten liegt in ihrem theoretisch-wissenschaftlichen Rollenverständnis begründet. Etwas verallgemeinernd lässt sich feststellen: Je universitärer die Autor:innen, desto therapeutischer ihre Sichtweise.
In der Realität zeigt sich die Sache jedoch anders: Im Alltag wird die eigentliche Arbeit der Nacherziehung von Pädagog:innen geleistet! Wenn die gesicherte Erfahrung ernst genommen wird, dass die Hauptbindungsperson diejenige Person ist, die zeitlich am häufigsten anwesend ist und sich am meisten um das Kind, den Jugendlichen kümmert, sind dies immer Pädagog:innen. Therapeut:innen kommen da mit einer bis zwei Sitzungen pro Woche ziemlich weit hinten. Wenn der pädagogisch hohe Stellenwert des Alltagserlebens, der Milieutherapie oder der «lebensweltorientierten Jugendhilfe» (Thiersch 2001) ernst genommen wird, dann sind bindungsrelevante Themen immer Teil des gemeinsam erlebten Alltags. Pädagog:innen können es sich oft gar nicht leisten, auf ein stark gestörtes Bindungsverhalten von Kindern und Jugendlichen nicht zu reagieren, weil diese sonst die ganze Gruppensituation zerstören. Im strukturierten ‹den Alltag erleben› sind die Pädagog:innen bezüglich Dauer, Intensität, Vielheit von bindungsrelevanten Erlebnissen im Vergleich zum eng begrenzten Rahmen einer Psychotherapie von offensichtlicher Wichtigkeit. Nur ganz am Rande erwähnt sei zudem die ebenfalls grosse Wichtigkeit der Peers, die, zumindest in einer soziodiversen Institution, in ihrem Bindungsgeschehen aufeinander sehr korrigierend und therapeutisch einwirken. Mit diesen Ausführungen will ich in keiner Weise die Wichtigkeit der Psychotherapie torpedieren. Es geht mir vielmehr darum, dass in der Bindungstheorie und der daraus folgenden Arbeit mit stark bindungsunsicheren Kindern/Jugendlichen in stationären Institutionen in Zukunft vermehrt die Wichtigkeit des pädagogisch-therapeutischen Alltags ihren Platz findet.
Es ist zu hoffen, dass in Zukunft vermehrt Pädagog:innen aus stationären Institutionen ihre praktischen Erfahrungen und Konzepte im Umgang mit bindungsauffälligen und traumatisierten Kindern und Jugendlichen in die Diskussion einbringen.
[1] Internale resp. Innere Arbeitsmodelle sind anerworbene, verinnerlichte Beziehungsmuster, die Wissen über die eigene Person und über die Bindungspersonen beinhalten. Sie steuern primär das Bindungsverhaltenssystem und dienen zur Erklärung von Bindungserfahrungen auf das Verhalten gegenüber den Bezugspersonen.