7.1 Neurobiologie für PädagogInnen

Gerald Hüther, Manfred Spitzer, Gerald Roth, Wolfgang Singer oder Joachim Bauer sind Vertreter der Neurologie, Neurobiologie oder Neuropsychologie, die engagiert den Fachlaien ihre Thematik verständlich machen. Ihre Bücher dienen als Quelle der folgenden Inhalte. Diese Wissenschaftler sind sich bei verschiedenen wesentlichen Forschungsergebnissen einig. So vertreten sie bei der Anlage und Umweltfrage einhellig die Ansicht, dass wir «Menschen nicht als Rohlinge (im doppelten Wortsinn von roh) zur Welt kommen. … Vielmehr lehrt die Biologie gerade der letzten Jahre, dass Fairness, Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn (wenn nicht gar Nächstenliebe) genauso zum Menschen gehören wie seine hochspezialisierten Hände oder sein aufrechter Gang» (Spitzer 2007, 170). Anlage und Umwelt beeinflussen sich gegenseitig, und zwar so, dass sich beide Faktoren multiplizieren. Besonders die Gehirnarchitektur scheint einem genetisch angelegten Bauplan zu folgen, der zwar stark modifizierbar ist aber vor allem durch frühe Erfahrung und Lerneffekte geprägt wird. «So erhält jeder Mensch erst durch seine individuelle Biographie sein ganz persönliches neuronales Netzwerk» (Wettig 2008, 20).

Was lehrt die Neurobiologie an neuen Erkenntnissen? Jedes Neuron besitzt baumartige Verzweigungen (Dendriten) und einen langen Fortsatz, das Axon. Sowohl an den Dendriten als auch am Zellkörper des Neurons enden die Axone anderer Neuronen. Die Dendriten (griech. Dendron = Baum) dienen zum Empfangen der vielen Impulse, die in bis zu 10’000 Fasern von anderen Neuronen ankommen. Die Dendriten ähneln vorne Antennen, sie haben kleine Verdickungen. Das sind Synapsen (= Nevenzellendigungen, verknüpfende Endknöpfchen). Die Synapsen verbinden auf vielfältigste Art die einzelnen Nervenzellen miteinander (siehe Abb. 17).

Abb. 17: Neuron

                                                     Quelle: Spitzer 2000, 19

Im Gehirn werden Informationen mittels elektrischer Impulse von einer Nervenzelle auf die andere durch die Synapsen übertragen. Im synaptischen Spalt, der Lücke zwischen den Nervenzellen, wird zur Signalübertragung ein elektrischer Impuls auf chemischem Weg mittels Botenstoff (Neurotransmitter) übertragen. Je nach Stärke der Übertragung kann der gleiche Input das eine Neuron anregen, das andere jedoch nicht.

Die Neurobiologie geht davon aus, dass die etwa 20 Milliarden Neuronen des Grosshirns mit jeweils bis zu 10’000 anderen Neuronen verbunden sind und dadurch ein unüberschaubares Netzwerk bildet, das alles Denken, Lernen, Fühlen und Handeln hervorbringt. Die Lehrmeinung der heutigen Neurobiologie lautet deshalb, dass alle Leistungen des Gehirns aus den Integrationsleistungen einzelner Nervenzellen resultieren. Das Gehirn ist damit das anpassungsfähigste Organ des Menschen und zugleich das komplexeste Gebilde des Universums (vgl. Hüther 2012; Friedhuber 2010; Beck 2003; Spitzer 2000).

Abb. 18: Neuron Abb. 19: Synapse mit synaptischem Spalt
 Quelle: von der Burchard, H-J. Total phänomenal. Netzwerk Nerven. SWR 2007

Dieses Wissen lernen Gymnasiast:innen heute im Unterricht. Sie müssen lernen welche Ionenkanäle, Neurotransmitter und Rezeptoren an den Übertragungen beteiligt sind. Interessant ist jedoch – und das wird in der Schule häufig nicht vermittelt: Weshalb gibt es diese Synapsen? Ohne Synapsen ginge die Übertragung nämlich viel einfacher: das Gehirn müsste nicht elektrische Impulse in chemische Abläufe umwandeln und diese wieder in elektrische Impulse. Das würde weniger Energie verbrauchen und wäre im Ablauf viel schneller.

Die grosse Besonderheit ist – und das ist die wohl wichtigste Erkenntnis der Neurobiologie der letzten 20 Jahre – dass sich die Synapsen durch die Impulse verändern. Je nach Anzahl der elektrischen Impulse wachsen oder verkümmern sie. Wenn viele Impulse über eine Synapse laufen, wächst sie und leitet die nächsten Impulse stärker weiter. Laufen keine Impulse über eine Synapse wird sie kleiner und verkümmert schliesslich ganz.

Die Hardware Gehirn verändert sich also ständig und zwar in Abhängigkeit von den Software-Erfahrungen, welche auf der Hardware laufen und ihre Spuren hinterlassen. Dieser Vorgang wird als Neuroplastizität bezeichnet. Einfacher gesagt: Lernen verändert die Strukturen des Gehirns.

Abb. 20: Zwei Synapsen: eine wenig benutzte (links) und eine viel benutzte (rechts)

Quelle: elektronenmikroskopische Abbildung aus Toni, N. u.a. LTP promotes formation of multiple spine synapses between a single axon terminal and a dendrite. Nature 402, 1999, 421-425

Zusammenfassend lauten die Erkenntnisse der Neurowissenschaft:

  • Synapsen verändern sich, wenn sie benutzt werden.
  • Das Gehirn ändert sich dauernd, indem es benutzt wird.
  • Wenn der Mensch lernt, ändern sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen.

Seit über 100 Jahren gibt es den Begriff der Gedächtnisspur, welche alsBild diesen Prozess sehr anschaulich beschreibt. Spitzer verwendet in seinen Vorträgen folgende Metapher für die Gedächtnisspuren: Stellen Sie sich einen Park von oben vor, mit Neuschnee. Dort hat es eine Glühweinbude und in einiger Entfernung eine Toilette. Wer viel Glühwein getrunken hat, muss auch mal auf die Toilette. Deshalb bildet sich zwischen Glühweinbude und Toilette ein Trampelpfad im Schnee. Das ist eine gebrauchsabhängig entstandene Spur. Am nächsten Tag hat diese Glühweinbude nicht geöffnet, dafür bietet sein Nachbar Glühwein an. Wie laufen die Leute jetzt, wenn sie auf die Toilette müssen? Sie gehen nicht den direkten, kürzesten Weg, sondern sie gehen um die Ecke und benützen den bereits bestehenden Pfad vom Vortag, weil da schon eine Verbindung vorhanden ist. Denn trotz des kleinen Umweges ist es einfacher, in ausgetretenen Spuren den Schnee zu durchqueren als eine neue Spur zu treten. Was passiert mit dieser Verbindung? Sie wird durch die weitere Benutzung besser und breiter.

Genauso verhält sich nach Spitzer auch das Gehirn: Wenn im Gehirn eine Verbindung angelegt und vorhanden ist, dann wird sie nachweislich benutzt. Sie wird auch dann weiterbenutzt, auch wenn sie gar nicht mehr zu einer inzwischen veränderten Realität passt. Das Gehirn benutzt die Spur, weil sie vorhanden ist. Deshalb folgert Spitzer (2008) für die Pädagogik:

  • Das Üben und Wiederholen als Basis des Lernens bilden neuronale Spuren im Gehirn;
  • Es ist wichtig in der Erziehung von Kindern darauf zu achten, dass von Anfang an die ‹richtigen Spuren› gelegt werden!
  • Wenn beim Kind am Anfang in der Erziehung ‹falsche Spuren› angelegt werden, dann ist es später viel schwieriger, eine ‹richtige Spur› zu machen;
  • Der Aufwand, existierende Spuren zu ändern ist unverhältnismässig grösser als die richtigen gleich anzulegen.

Was folgt nun daraus? Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens. Das gilt nicht nur für das bewusste Lernen von Schulstoff, sondern für alles, was wir lernen, ohne es zu merken. Dazu gehören das Laufen, Sprechen, der Gebrauch unserer hochspezialisierten Hände oder die individuellen Verhaltensweisen und Bewertungsmuster. «Wer glaubt, Kinder und Jugendliche müssten dies von selbst hervorbringen, der irrt» (Spitzer in Brumlik 2007, 178). Dieses Lernen gilt ebenso für die Haltungen und Werte, welche unsere individuellen Verhaltensweisen wie Fairness, Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn bestimmen. Genauso wie wir in einer Sprachgemeinschaft aufwachsen, findet durch die vorgelebte Wertegemeinschaft eine entscheidende Prägung statt. «Wir überfordern die Jugendlichen fortwährend, wenn wir ihnen nicht die ritualisierten Stützen bieten» (Spitzer, ebd., indem er Bueb (2006, 45) zitiert).

Die Arbeiten von Maturana und die in den vergangenen Jahren veröffentlichten Ergebnisse der Hirnforschung zeigen das Bild einer selbstreferentiellen (= auf sich selbst zurückbezogenen) Geschlossenheit unserer Wahrnehmung. «Als strukturdeterminierte Systeme sind wir von aussen prinzipiell nicht gezielt beeinflussbar, sondern reagieren immer im Sinne der eigenen Struktur» (Maturana 2001, 18). Arnold (2004, Teil 1, 2) beschreibt diesen Vorgang folgendermassen: «Wir erleben nicht das, was uns begegnet, sondern das, was wir schon kennen – auch wenn dies überhaupt nicht in dem enthalten ist, auf das wir zu reagieren glauben». Das heisst: wir sehen, was wir sehen (können) – und was wir nicht sehen können oder nicht gelernt haben zu sehen, das ist für uns nicht existent (‹sehen› wird hier im Sinne von wahrnehmen verwendet). Aus pädagogisch-psychologischer Sicht ist dem anzufügen, dass wir nur das sehen können, was wir aushalten, ertragen und verarbeiten können (vgl. Arnold 2005).

Diese Aussagen werden durch die Hirnforschung einhellig gestützt. So stellt Singer seine wahrnehmungsphysiologischen Untersuchungen zusammenfassend dar, «…dass Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines ausserordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muss, bei dem das Gehirn die Initiative hat» (Singer 2002, 72). Die synaptische Verschaltungsarchitektur des Gehirns scheint bereits mit der Pubertät «starr» zu werden (ebd. 92) und die während der Kindheit einmal «geknüpften Verbindungen» haben sich bei den Jugendlichen allmählich zu Mustern verdichtet, welche in strukturähnlichen Situationen (re-) aktiviert werden. Das Gehirn entwickelt aufgrund der gesammelten Erfahrungen ständig Hypothesen, mit deren Hilfe es «das Wirrwarr der Sinnessignale nach ganz bestimmten Gesetzen ordnet und auf diese Weise die Objekte der Wahrnehmung definiert» (ebd. 80). Aus diesem Grund ‹begegnen› uns die Situationen der Aussenwelt nicht so wie sie sind, sondern in der Form, wie unsere Hypothesenmuster aktiviert werden. Diese Hypothesenmuster aber folgen der Logik früherer Erfahrungen, die in uns als ‹innere Struktur› ablaufen und in den synaptischen Verschaltungen physisch sichtbar eingelagert sind. Die eigenen Erfahrungen sind der ‹Stoff›, der unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmt (vgl. Hüther 2012; Spitzer 2008; Maturana 2001; Bion 1990).

Aufgrund dieser Befunde gehen die Neurowissenschaftler:innen und die Konstruktivist:innen davon aus, dass mit Disziplin in Form von Druck in der Erziehung nicht viel erreicht wird, da Kinder und Jugendliche (und wohl auch die Mehrheit der Erwachsenen) dies als strafend, abwertend und somit negativ im Gehirn abspeichern. Sie vertreten deshalb die Überzeugung, dass der Mensch dann lernt, wenn seine Gefühle positiv angesprochen sind.  Der Mensch lernt dann, wenn ihm etwas wichtig ist, für ihn bedeutsam ist oder wenn er etwas gerne macht. Dann erlebt sich der Mensch als Subjekt und dies löst in ihm ein positives Gefühl aus. In der Erziehung lernt das Kind, wenn es Achtung, Wertschätzung, Akzeptanz erfährt, denn dann fühlt es sich als Subjekt, als wahrgenommen – und diese Zustände sind mit einem positiven Gefühl verbunden. Wenn jedoch Erwachsene erwarten, dass das Kind eine bestimmte Leistung erbringt, wird es zum Objekt dieser Leistungserwartung gemacht. In diesen Fällen ist Lernen nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Aus neurowissenschaftlicher Sicht sind somit Strafen und Sanktionen pädagogisch nicht indiziert. Bei Regelübertretungen soll vielmehr dem Kind und Jugendlichen durch eine warmherzige und verständnisvolle Art – aber konsequenten und konfrontativen Erinnerung – vermittelt werden, dass diese Regel der Erwachsene und damit die Gemeinschaft als sinnvoll und wichtig hält. Die Regeln müssen, gerade bei Jugendlichen, selbstverständlich nachvollziehbar und damit legitimiert sein.