7.2 Diskussion und Praxisbezug

Aus pädagogisch- psychologischer Sicht lässt sich einwenden, die Neurologie habe nicht eigentlich fundamental neue Erkenntnisse gebracht. Es ist seit langem bekannt, dass Lernen durch Vorzeigen und Nachahmen geschieht, dass Wiederholung das Gelernte festigt, dass Neues leichter gelernt wird als späteres Umlernen, dass Lernen unter Freude besser gelingt. All dies ist aus verschiedenen pädagogischen und psychologischen Theorien bekannt und ist nicht neu. Trotzdem müssten die Erkenntnisse der Neurologie in der Pädagogik aufhorchen lassen. Denn die Neurologie liefert neue Erklärungsmodelle, die eine neue Basis zur Bewertung erziehungswissenschaftlicher Theorien und pädagogischer Erfahrungen bilden. Diese neue Basis liefert sowohl ein besseres Verständnis und ermöglicht ein verändertes pädagogisches Vorgehen.

Dank der bildgebenden Verfahren konnte die Gehirnforschung in den letzten Jahren ausgiebig untersuchen, in welchen Situationen welche Hirnareale wie aktiviert werden. Die Ergebnisse zeigen klar, dass lernen dann am besten gelingt, wenn Motivation, Freude oder gar Begeisterung vorhanden ist. Der Aufruf geht an die Eltern und Pädagog:innen, bei Kindern und Jugendlichen die Lust am Lernen, am sich verändern, am sich entwickeln zu wecken. In solchen Situationen fühlt sich jeder Mensch bedeutsam, selbstwirksam und erlebt Selbstwert. Hüther wiederholt vor Lehrer:innen immer wieder, ihre einzige Aufgabe sei, die Schüler:innen einzuladen, zu ermutigen, zu inspirieren. «Lernen muss immer freiwillig geschehen, damit es gelingt» (Hüther 2016a).

Weder die Strukturen unserer Gesellschaft, noch das Lernen in der Schule und auch nicht die Methoden der Nacherziehung, mit denen Verhaltensänderungen angestrebt werden, entsprechen diesen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Forderungen.

Die Neurowissenschaften erklären nicht nur das Lernen, sondern auch regelmässige Wiederholungen wie soziales Verhalten, das Einhalten von Regeln und ethischen Grundsätzen durch die Neuroplastizität. Die heute verhaltensauffälligen Kinder resp. Jugendlichen haben früher entsprechende neuronale Verbindungen entwickelt, welche nun eben das unangepasste Verhalten hervorbringen. Die neuronalen Verbindungen wurden entwickelt, sind vorhanden und werden entsprechend benutzt.

Dies ist eine Erklärungsmöglichkeit, weshalb sich Jugendliche in Institutionen der Nacherziehung in schwierigen Situationen so verhalten wie sie es früher gelernt haben – auch wenn ihr Verhalten gar nicht mehr zur veränderten Realität passt. Das Gehirn benutzt einfach die vorhandenen Spuren. Sie können sich gar nicht anders verhalten als so, wie sie es gelernt haben, wie es in ihren neuronalen Bahnen abgespeichert ist und als Programm abläuft. Neue neuronale Bahnen anzulegen ist ein länger dauernder Prozess, der auf beiden Seiten hohen Aufwand und Engagement erfordert. Das verweist auf die Arbeit, die Pädagog:innen zu leisten haben. Es weist auch darauf hin, dass wir nicht erwarten können, dass Jugendliche nach unserer ersten Ermahnung oder verhaltenspädagogischen Sanktion die Regeln befolgen! Nacherziehung würde demnach aus Sicht der Neurowissenschaft heissen, die ‹falschen› existierenden Spuren zu ändern und ‹richtige› Spuren anzulegen. Wir können mit diesen neurologischen Erkenntnissen im pädagogischen Alltag doch auch gelassener reagieren. Nicht weniger konsequent – aber gelassener. Wir arbeiten an neuen neuronalen Bahnen! – und das braucht Zeit. Die Neurowissenschaftler:innen weisen darauf hin, dass dies mit grossem respektive «unverhältnismässig grösserem» Aufwand verbunden ist. Wie schon erwähnt: Diese Feststellung ist nicht neu und deckt sich mit den praktischen Erfahrungen der Nacherziehung. Durch die Neurologie ist der Aufwand von Nacherziehung ‹neue Spuren› zu legen und die Einsicht aller Beteiligten, dass dies nicht innerhalb einiger Monate oder eines Jahres geschehen kann, nachvollziehbarer geworden – und ist zusätzlich wissenschaftlich breiter und fundierter belegt. Durch diese neurologischen Erkenntnisse sind pädagogische Konzepte – beispielsweise hinsichtlich der notwendigen Dauer von Nacherziehung – besser begründet. Bis aus einem ersten zaghaften neuen Verhaltensschritt ein Trampelpfad, dann ein Weg und vielleicht später einmal eine Strasse wird, die ein neues gesichertes Verhalten ermöglicht, benötigt es viele gelingende Versuche und dabei auch die Fehlversuche.

 Die von Maturana dargestellte Haltung, der Mensch sei als strukturdeterminiertes System von aussen prinzipiell nicht gezielt beeinflussbar, sondern reagiere immer im Sinne der eigenen Struktur (Maturana 2001, 1998) wird in der Neurologie kontrovers diskutiert. Vor allem Roth und Singer negieren einen freien Willen des Menschen. Ob dies nun eine Vermutung oder Erkenntnis sei – das ist für die Pädagogik bedeutungslos. Denn die Jugendlichen müssen für ein gesellschaftlich und sozial verträgliches Zusammenleben eine willentliche Selbstkontrolle ganz einfach lernen. Das ist eine gesellschaftliche Forderung der Sozialisation. Die Pädagogik muss also, unabhängig von der wissenschaftlich diskutierten Existenz eines freien Willens, weiterhin davon ausgehen, dass jeder Mensch einen Willen hat und durch Erziehung oder Nacherziehung fähig werden kann, relativ frei Handlungssituation sozial adäquat zu entscheiden. Die Pädagogik ist hier mehr von sozialen und politischen Weltbildern abhängig als von neurologischen Erkenntnissen. Zudem ist die Problematik von wissenschaftlichen Untersuchungen, die Erziehungsmassnahmen im Zusammenhang mit Willensentscheidungen zum Gegenstand haben, in der Pädagogik bekannt und ausreichend reflektiert (vgl. Heid 1996).

Zum Schluss ein Beispiel aus der Praxis, das ‹alte Spuren› und das Anbahnen ‹neuer Spuren› im Gehirn erlebbarer machen kann.

Hauptakteure: Nick (23-jährig, gross, schmächtige Statur, frühere Drogenabhängigkeit, Psychiatrische Diagnosen: Verfolgungswahn, starke neurotische und paranoide Persönlichkeitsstörungen) und Ram (17-jährig, gross und kräftig, Gewalttäter, dessen Spezialität es war, in Konfliktsituationen seine Mitmenschen am Hals zu packen, anzuheben und in diesem Würgegriff an die Wand zu pressen). Zusätzlich fungieren zwei andere Schüler in Nebenrollen.

Vorgeschichte: Nick fühlt sich von den drei Schülern bedroht. Er hat im Werken Textil eine Stoffpuppe hergestellt und einer der Schüler hat in diese Puppe eine Stecknadel gesteckt. Der Schüler, der das gemacht hat ist vom Wesen her eher phlegmatisch, hilfsbereit und ungefährlich. Er sagt später, er habe das so aus Blödsinn gemacht und weil die Nadeln dort lagen. Nick fühlt sich durch die Tat der drei Jugendlichen massiv bedroht in seinem Leben, er sieht darin einen Voodoo-Angriff.

Vorfall: Nick bereitet in der Küche das Abendessen zu und ist am Gemüse rüsten. Ram tritt in die Küche. Sofort geht Nick auf ihn zu und fuchtelt mit dem Messer vor Rams Gesicht herum und ruft aus, er habe in der Küche nichts zu suchen. Bei Ram wird sofort das eingelernte Programm aktiviert: «Messer vor dem Gesicht = Bedrohung => sofort zuschlagen, damit der andere am Boden liegt und mir nichts geschieht» (Originalaussage von Ram). Dass der schmächtige Nick auch mit einem Messer keine Bedrohung für ihn darstellt, vielleicht ein grosser breitschultriger Mann mit Messer eine Bedrohung darstellen würde: eine solche Unterscheidung macht sein Gehirn nicht in diesem Moment. Es läuft automatisch das Programm «Bei Bedrohung den anderen sofort runter schlagen» ab. Er hat schon zum Schlag ausgeholt als ihm der Gedanke einfährt: «Wenn ich den jetzt runter schlage, schmeissen sie mich raus». Ram ist körperlich und seelisch hoch aktiviert, angespannt und aggressiv. Er macht einen Schritt zurück und verlässt zitternd die Küche.

Dieser Vorfall ereignete sich nach 15 Monaten intensiver Arbeit mit Ram in unserer Institution. Er hat als Gewalttäter während der 3 Jahre seines Aufenthaltes in den ersten Monaten einige Sachbeschädigungen begangen, die nach etwa einem halben Jahr aufhörten. Während des ganzen Aufenthaltes hat er nie Gewalt gegen Menschen angewendet.