Sigmund Freud untersuchte, diagnostizierte und behandelte wohl als erster durch Psychotraumata hervorgerufene Störungsbilder. In seinen ‹Studien über die Hysterie› (1896) beschrieb er Ausdruck und Folge von sexuellen Misshandlungen in der Kindheit. 1915 schilderte der deutsche Psychiater Emil Kraepelin die schweren Symptome bei tausenden von Soldaten des 1. Weltkriegs, die als «Kriegszitterer» bezeichnet wurden, weil sie unkontrolliert zitterten und so keine Waffen mehr bedienen konnten oder panische Angst vor Mützen oder Militärschuhen hatten. Die Psychiater und Psychologen gingen bei diesen Phänomenen von medizinisch-biologischen Störungen aus, indem sie erklärten, die Druckwellen der Explosionen hätten die Gehirne an die Schädelwände gedrückt und so beschädigt oder die lauten Explosionsgeräusche seien Ursache gewesen. Dagegen bezeichnet nur 10 Jahre später August Aichhorn in seinem Buch ‹Verwahrloste Jugend› (1925) explizit traumatische Erlebnisse als mögliche Ursache der auffälligen kindlichen Verhaltensweisen.
Ins allgemeine Bewusstsein trat die traumatische Störung aber erst durch den Vietnamkrieg, als hunderttausende Soldaten mit schwersten Störungsbildern und Persönlichkeitsveränderungen nach Amerika zurückkehrten und dort nicht mehr integriert werden konnten. Dadurch wurde 1980 die Diagnose der Posttraumatischen Stresserkrankung (PTBS = posttraumatische Belastungsstörung) in das damalige DSM III aufgenommen.
Nach Peter A. Levine, einem der Pioniere der Traumaforschung und Körperorientierten Traumatherapie, kann man ein Trauma[1] nicht an einem bestimmten Ereignis festmachen, sondern nur an der sichtbaren Reaktion der Betroffenen. Deshalb ist seine Definition von Trauma sehr offen formuliert. Eine traumatische Reaktion tritt dann ein, wenn das Bewältigungssystem eines Menschen vollkommen überfordert ist und er sich ausgeliefert, überwältigt und hilflos fühlt. Es ist ein Zu viel – Zu schnell – Zu plötzlich. Das traumatische Erlebnis wirkt wie eine innere Zwangsjacke, die eine Person innerlich erstarren lässt und einen erlebten Augenblick in ihrem Gedächtnis einfriert. Damit unterdrückt es «die Entfaltung des Lebens. Es unterbricht die Verbindung zu uns selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zu unserer geistigen Quelle.» (Levine 2015)
Die Traumapädagogik für Kinder und Jugendliche gründet in der Heilpädagogik. Der deutsche Erzieher, Heilpädagoge und Sozialtherapeut Michael Borbonus arbeitete ab 1973 in verschiedenen Einrichtungen der stationären Jugendhilfe und traf dort auf viele sexuell missbrauchte Mädchen. Um ihre psychisch-seelischen Verletzungen lindern zu können, kombinierte er verschiedene pädagogische Ansätze und gründete 1986 in Berlin die erste therapeutische Wohngruppe für sexuell missbrauchte Mädchen und jungen Frauen. Heute greift die Traumapädagogik auf bewährte Ansätze der Heilpädagogik, psychoanalytischen Pädagogik, milieutherapeutischen Pädagogik, systemischen Pädagogik zurück und verbindet diese mit Erkenntnissen der Psychotraumatologie, Bindungsforschung, Resilienzforschung oder Neurobiologie. Daraus werden traumaspezifische Förderansätze und Methoden entwickelt, die der Stabilisierung und Selbstbemächtigung von Kindern, Jugendlichen und ihren HelferInnen dienen.
Wenn Kinder und Jugendliche hochunsichere oder desorganisierte Bindungsmuster aufweisen finden wir in ihrer Biografie in den allermeisten Fällen schwerwiegende traumatisierende Erlebnisse. Diese äussern sich später im Alltag als Verhaltensstörungen, die eigentlich Bindungs- und Beziehungsstörungen sind. Denn traumatisierende Erlebnisse zerstören die inneren Arbeitsmodelle von Bindungen. Wie bei den Bindungsstörungen sind in unserer Kultur auch bei der Entstehung von Traumatisierungen in der Regel die primären Bezugspersonen beteiligt und wirken über einen längeren Zeitraum traumatisierend. Solche schwerwiegende und damit traumatisierende Erlebnisse, können sein:
Schwere emotionale und körperliche Verwahrlosung und Deprivation: Die schwersten Formen dieser Störungsbilder kennen wir nur aus Filmen, die in ex-jugoslawischen oder rumänischen Kinderheimen gedreht wurden. Da sehen wir Kinder mit einem völligen Rückzug aus der äusseren Welt in eine eigene innere Welt, erkennen eine generelle Unterernährung, leer blickende Augen als Folge fehlender Ernährung und Stimulation. Die stereotypen Bewegungsmuster dieser Kinder dienen der Selbststimulation, ebenso das selbstverletzende Verhalten mit Bisswunden oder Körperkratzen. Bei diesem Ausmass an Traumatisierung ist kein Bindungsverhalten sichtbar. Diese Kinder hinterlassen den Eindruck, dass sie jegliche Hoffnung auf eine helfende Beziehung verloren haben, denn sie reagieren auf äussere Reize nicht positiv, sondern vielmehr erschreckt, verängstigt und abwehrend. René A. Spitz (1985) hat diese totale Deprivation als «Marasmus» bezeichnet, als «Dahinwelken und schliessliches Verlöschen», da in Heimen bis zu 70% der Kinder an diesem Zustand starben.
Einem abgeschwächten Abbild begegnen wir bei Kindern, die von westeuropäischen kinderlosen Ehepaaren aus eben diesen Heimen adoptiert wurden. Spätestens wenn diese Kinder in die Pubertät kommen fühlen sich die Eltern dermassen überfordert, dass eine stationäre Lösung gesucht wird. Diese Adoptiveltern haben keine Kenntnis, dass traumatischen Erlebnisse einer kleinkindlichen Verwahrlosung oder Deprivation[2] sich nicht mehr in eine sichere Bindung nacherziehen lassen.
Verlust von primären Bezugspersonen: Der Verlust kann durch Unfall, Krankheit, natürlichen Tod, Suizid, Trennung, Heimeinweisung, Naturkatastrophen oder Krieg geschehen. Besonders traumatisierend scheinen plötzliche Trennungen und Verluste von Bindungspersonen in den ersten Lebensjahren zu sein. In dieser Phase sind die kindlichen Lernprozesse eng mit biologisch verankerten Bindungsprozessen verknüpft. Verschiedene WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Kinderpsychiatrie, Psychologie, Neurobiologie und Biologie haben in ihren Untersuchungen festgestellt, dass die Trennung von den primären Bezugspersonen beim Kleinkind eine starke Veränderung des Cortisol-Tagesprofils bewirkt. Sie gehen davon aus, dass eine Trennung beim Kind einen akuten Stress bewirkt, der objektiv oder subjektiv ihr körperliches-psychisches Gleichgewicht gefährdet. Der Körper dieser Kinder reagiert mit einer Aktivierung und schüttet signifikant messbar vermehrt Cortisol (Stresshormon) aus. Hält ein solcher Stressstatus über Tage oder gar Monate an, führt dies zu einer Dauerbelastung («allostatic load»), die vielfältige gesundheitlich negative Auswirkungen haben kann. Teicher et al. (2002) stellten in ihren Langzeitverlaufs-Studien bei Kindern das metabolische Syndrom, Störungen des Immunsystems, psychische und psychosomatische Störungen fest (vgl. Böhm et al. 2015; Böhm 2013). Das Kind scheint sich zwar als überlebend aber in einer unbekannt-neuen Situation völlig alleingelassen und hoch belastet vorzufinden. Insbesondere in den ersten Lebensjahren führen solche traumatisierenden Erfahrungen nicht nur zu einer desorganisierten Bindung, sondern zu Bindungsstörungen (Brisch/Hellbrügge 2012).
Durch Krieg und Katastrophen traumatisierte Jugendlich haben wir erstmals in den geschlossenen Institutionen in den 1990-er Jahren erlebt. Als Folge der Jugoslawienkriege tauchten Jugendliche in der Schweiz auf, die völlig desorganisiert waren, straffällig wurden und deshalb stationär eingewiesen wurden. Mit den Flüchtlingswellen aus Nordafrika gelangten dann ebenfalls mehrfachtraumatisierte Kinder und Jugendliche in die Schweiz und oft nachfolgend in die stationären Institutionen.
Rohe physische Gewalt oder sexuelle Gewalt: Gewalterfahrungen gehören zu den Erlebnissen, die am traumatisierendsten auf Kinder und Jugendlichen einwirken. Schon wenn Eltern streiten und einander anschreien löst das beim kleineren Kinde massive Ängste aus. Kommt noch physische Gewalt zwischen den Eltern dazu, in die das Kind häufig involviert ist, wirken solche Erlebnisse rasch traumatisierend. Das Kind kann in seinen es überflutenden Ängsten und seinem totalen Ausgeliefert-Sein weder die Situation selbst ‹verstehen›, noch die Polizeibefragung, den Arztbesuch, die (wiederholte) Trennung der Eltern, die vielleicht noch mit einem Hausfriedensbruch des Vaters einhergeht. Die Möglichkeiten des Kindes sich zu wehren sind sehr beschränkt. Es kann auf eine physische und räumliche Distanz zum Vater gehen, es kann ihn auch angreifen oder zu Nachbarn flüchten – aber es bleibt seinen Eltern dreifach existentiell ausgeliefert: in der physischen Versorgung, in der emotionalen Betreuung und im sozialen Schutz. Ein solches Kind erlebt in der Regel überflutende Belastungen mehrmals und über Jahre hinweg, was zu einer Traumatisierung führt.
Wenn ein Vater, ein naher Verwandter oder eine Bezugsperson wie Lehrer, Sozialpädagoge, Pfarrer, Sporttrainer auf ein Kind sexuelle Gewalt ausübt, wirken diese Handlungen auf die Bindungssicherheit des Kindes massiv störend und zerstörend. Rohe Gewalt und sexuelle Gewalt lösen beim Kind einen unlösbaren Bindungskonflikt aus, der erwiesenermassen zu schwerwiegenden Traumatisierungen führt (vgl. Brisch/Hellbrügge 2012; Tschan 2001). Als Folge entwickeln Kinder meist erhebliche psychopathologische Störungsbilder im Bindungsverhalten. Die Ursache dürfte hier in einem für das Kind unlösbaren Bindungskonflikt begründet sein. Auch ein gewalttätiger oder sexuell missbrauchender Vater wird im Alltag vom Kind als eine primäre Bindungsperson erlebt; als Vater, der ihm hilfreich, unterstützend, problemlösend zur Seite steht, mit ihm spielt, Spässe oder Ausflüge macht. Dagegen wird das Kind den Vater in der Gewalt- resp. Missbrauchssituation als bedrohlich, unverständlich, böse, unsensibel, gewalttätig, zerstörend erleben. Es kann ihm deshalb im Alltag nicht mehr frei und offen begegnen. Vielmehr wird das kindliche Verhalten geprägt von Hemmung, Angst, Unsicherheit und Distanz. Wenn es die väterliche Hilfe benötigen würde, kann es nie wissen, ob seine Annäherung zur Ursache für neue gewaltsame Übergriffe des Vaters werden könnte. So erlebt das Kind in sich zwei völlig verschiedene Bindungsmodelle, die in ihrer Unvereinbarkeit das Kind in einem unlösbaren Bindungskonflikt lassen. Es gibt Kinder, die halten solche Bindungskonflikte über Jahre aus und tragen sie still in sich. Solche Kinder sind im Alltag eher zurückgezogen. In Anwesenheit des Vaters verhalten sie sich noch stiller, gehemmter, zurückgezogener und weichen einem direkten Kontakt mit ihm aus.
Allerdings führen die traumatischen Erfahrungen auch bei diesen still-zurückgezogenen Kindern bei Beginn ihrer seelischen Pubertät zu massivsten Krisen. Die Pubertät mit ihren neuen Dimensionen der Selbst- und Fremdwahrnehmung, des Denkens und Fühlens erschüttert diese jungen Menschen in ihren Fundamenten. Sie werden hochgradig verhaltensauffällig, was in der Regel zu einer stationären Einweisung führt.
[1] Trauma (griechisch «traũma» = Wunde). Traumapädagogik bezeichnet als Sammelbegriff pädagogische Ansätze und Methoden in der Arbeit mit physisch/psychisch verletzten Kindern und Jugendlichen, insbesondere im stationären Bereich.
[2] Deprivation (lateinisch «deprivare» = berauben) bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von sensorischen Stimulierungen und emotionalen Beziehungen. Die Betroffenen erleben dies als Gefühl einer Benachteiligung.