8.3 Pädagogische und therapeutische Aspekte

Die Traumapädagogik griff in den letzten Jahrzehnten bewährte pädagogische Ansätze aus der Heilpädagogik, psychoanalytischen, milieutherapeutischen oder systemischen Pädagogik auf und verknüpfte diese mit den aktuellen Erkenntnissen der Psychotraumatologie und weiteren interdisziplinären Forschungsansätzen wie zum Beispiel der Bindungsforschung, Resilienzforschung oder Neurobiologie. Daraus entwickelte sie traumazentrierte pädagogische Förderansätze und Methoden zur Unterstützung der Stabilisierung und der Selbstbemächtigung von Kindern, Jugendlichen und Helfer:innen.

Bei allen modernen traumapädagogischen und -therapeutischen Methoden steht am Anfang der Behandlung eine Stabilisierungsphase (vgl. Reddemann/Dehner-Rau 2013, 71f.; Ding 2013, 62; Ruf 2012, 92f.; Brisch/Hellbrügge 2012, 122; Huber, 2009, 91f.). Um bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen eine Stabilisierung zu erreichen werden in der Literatur übereinstimmend verschiedene Strukturen, Ebenen oder Prozesse genannt, die zu stärken sind. Am Anfang steht die Raumstruktur als einem «sicheren Ort» und die Zeitstruktur als «sichere Abläufe» mit klaren Anhaltspunkten in der Tagesstruktur.

Raum- und Zeitstrukturen sind Grundbedingungen menschlicher Sicherheit. Kinder, die ihren Lebensraum verloren, die Grenzverletzungen erlebt haben, deren Lebensstruktur eingebrochen ist, benötigen zuerst einmal nur einen neuen «sicheren Ort» als eigenen Rückzugsraum, der nur ihnen gehört und wo sie sich sicher fühlen können (Raumebene). Nach Traumata leiden viele Kinder unter Rhythmusstörungen. Deshalb benötigen sie einen klar strukturierten Alltag (Zeitebene). Erst auf dieser Basis von Sicherheit und Konstanz kann überhaupt die Möglichkeit gedeihen, neue Gewohnheiten erwerben zu können. Als weitere Strukturierungsebene kommt die Beziehungsebene dazu, die von zwei bis drei konstanten Bezugspersonen abgedeckt werden muss. Der erlebte Verlust an Vertrauen in den Menschen und ins Leben führte bei diesen Kindern ja erst zu fehlender sozialer Sicherheit und zu Misstrauen. Dieses verlorene Vertrauen in die Bindung mit Menschen, muss wieder aufgebaut werden. Die wiederkehrenden konstanten Kontakte dienen dazu, langsam eine Beziehung anzubahnen, die sich allmählich in eine «sichere Bindung» entwickeln soll.

Das Ziel der Stabilisierung ist, dass das Kind, der Jugendliche wieder «Boden unter die Füsse» bekommt. Wie Brisch richtig feststellt, kann diese Stabilisierungsphase «bei schweren Traumatisierungen viele Monate und länger dauern» (Brisch/Hellbrügge 2012, 122).

In der dann anschliessenden Traumabearbeitungsphase liegt die Hauptarbeit bei speziell ausgebildeten Psychotherapeut:innen, die mit Traumaexplorationstechniken die traumatischen Erlebnisse bearbeiten. Die Erfahrungen zeigten, dass Gespräche über die traumatischen Ereignisse keine Erleichterung bewirkten, sondern dass die Symptome sich dadurch grösstenteils noch verstärkten. Deshalb entwickelten Traumatherapeut:innen verschiedene Vorgehen für die Traumabearbeitung wie die Beobachtertechnik, Bildschirmtechnik, TRIMBâ (Trauma Recapitulation with Imagination Motion and Breath), EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), EMI (Eye Movement Integration) oder die von Luise Reddemann entwickelte ‹Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT› (2008). Die Durchführung der Traumabearbeitung erfolgt mit Vorteil unter Anwesenheit der Bezugsperson als «sichere Bindung» und für die Rückkoppelung zwischen Alltag und Traumatherapie. Im Zentrum der Therapie steht, dass die Jugendliche verstehen lernt, warum sie sich so verhält und in welchem Zusammenhang bestimmte Empfindungen, Gedanken, körperliche Reaktionen und Denken mit den Traumatisierungen stehen und diesen zugeordnet werden können. Wichtig ist zudem, dass in dieser Phase der Täterkontakt begrenzt oder aus diesem Kontakt ganz ausgestiegen wird mit dem Ziel, die Traumatisierungen und Retraumatisierungen zu beenden.

Die 3. Phase wird allgemein als Integrationsphase bezeichnet. Dabei geht es um die weitere Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse mit dem Ziel einer Integration des Erlebten in die persönliche Lebensgeschichte. Diese Arbeit betrifft zuerst einmal die biografische Ebene (Ding 2013, 62ff). Die Jugendlichen müssen die Geschehnisse sind als Teil des eigenen Lebens verstehen und zunehmend zu akzeptieren versuchen – um sich selbst und in der eigenen Biografie besser verstehen zu lernen. Ein solches Verständnis wiederum verbessert die Kontrolle über Gefühls- und Körperzustände, verringert die Symptome, eröffnet neue Lösungen für Probleme und hilft mehr ‹Sinn› im eigenen Leben zu finden. Häufig müssen die Jugendlichen in dieser Phase erneut eine lange Trauerarbeit leisten, ihre aktuelle Lebenssituation überprüfen und sich neu in ihrem Leben orientieren. Während dieser Prozesse verändert sich ihr Selbst- und Fremderleben, das eigene Lebensgefühl, so dass sie ganz neue Bewältigungsstrategien entwickeln müssen.

Zu den nicht einfach verstehbaren Phänomenen der psychotraumatischen Symptome gehören die beim Opfer auftretenden Schuld- und Schamgefühle. Es erscheint ja paradox, dass Kinder/Jugendliche, die Opfer geworden sind, sich schämen und sich schuldig fühlen. Die Trauma-Forschung geht heute davon aus, dass ein Opfer von extremen Gewalterfahrungen oder massiven Grenzüberschreitungen diese Erlebnisse nicht in sein «Ich» integrieren kann, weil seine Ich-Funktionen sonst zusammenbrechen würden. Das Opfer vollbringt daher psychisch-seelisch die Leistung, ein gewisses Verständnis für den Täter und seine Taten aufzubringen. Indem das Opfer die Perspektiven des Täters übernimmt, identifiziert es sich bis zu einem gewissen Grad mit dem Täter. Dies wird als «Täter-Introjektion» (vgl. Fischer/Riedesser 2009) bezeichnet. Sich als Opfer zu erleben und zugleich ein Verständnis für den Täter aufzubringen führt jedoch beim Opfer zu einer Identitätsdiffusion. «Aber sich so intensiv mit den destruktiven Absichten eines anderen zu beschäftigen, dem man bedingungslos ausgeliefert ist, sich innerlich an seine Stelle zu setzen, um seine Absichten zum besseren Selbstschutz zu erahnen, das hinterlässt intrapsychische Spuren: Der andere beginnt in uns zu leben, als Rollenbild, als Interaktionsmodell, als Täter-Introjekt, als Imitat.» (Peichl, 2013, 224). In der Integrationsphase geht es auch darum, dass sich das Opfer dieser Zusammenhänge bewusst wird, die Ich-Diffusion klärt und somit das eigene Ich stärken kann. Die diffusen Gefühle von Scham, Schuld, Trauer, Wut, Sühne müssen ins Bewusstsein geholt, und besprochen werden. Erst dann können sie innerlich losgelassen werden – um im besten Fall eine Vergebung und Versöhnung zu erreichen. Das wäre die Voraussetzung, um ein neues Leben beginnen zu können.

Diese Prozesse geschehen nun vor allem über die Sprachebene. In der Therapie bedeutet dies, dass die traumatischen Erlebnisse soweit bearbeitet sind, dass sie einer normalen Therapie über die Sprache zugänglich sind. Die erlittenen Erfahrungen können nun erzählt, besprochen, verstanden und umgedeutet werden. Da kann auch die Durchführung von (Teil-) Familiengesprächen sinnvoll werden. Aber auch Imagination, Rituale, Geschichten erfinden, Rollenspiele, künstlerisches sich Ausdrücken und Gestaltungstherapie wirken heilend.

In der pädagogischen Situation benötigt das Kind mit traumatischen Erlebnissen über die ganze Zeit der drei Phasen in besonders ausgeprägtem Mass Lob, Anerkennung = positive Erlebnisse, die zur Stärkung seines Selbstbewusstseins und seiner Selbstwahrnehmung dienen. Verbote, Strafen oder Sanktionen verfehlen jegliche pädagogische Wirkung und sind damit sinnlos. Als einzige Reaktionen auf Strafen und Sanktionen sind Sätze zu erwarten wie «Lass mich in Ruhe», «Das ist mir doch egal» oder «Das ist dein Problem», «Du kommst überhaupt nicht draus».

Dagegen bewirkt auf der Sprachebene eine ruhige, freundliche Kontaktgestaltung, in der sich das Kind wahrgenommen, geschätzt, gehört, gesehen und gemeint vorkommt, viel mehr. Kinder, die Grenzverletzungen erlebt haben, machen verständlicherweise spätestens als Jugendliche selbst Grenzverletzungen! In all diesen Fällen ist eine verbale deutlich-klare und eindeutige Grenzsetzung notwendig. Das Kind zu bitten, bewirkt gar nichts. Eine kurze und klare Formulierung «Sven, hör auf!» bewirkt mehr als Erklärungen oder Hinweise auf die Regeln. Auch Sätze wie «Ich mag es nicht, wenn du mich so anschreist» sind in diesen Situationen kontraindiziert. Bei allen Grenzsetzungen, Konflikten, Konfrontationen ist es wichtig, dass Pädagog:innen die Haltung vermitteln können: «Ich achte dich als Mensch. Aber ich akzeptiere dein Verhalten nicht.»

In stationären Institutionen gleicht sich das Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit traumatischen Erlebnissen, einer starken fehlgeleiteten Sozialisierung oder massiven Bindungsstörungen in gewisser Weise: sie alle verhalten sich den klassischen pädagogischen Interventionen gegenüber zunehmend immun. Interventionen wie verbale Zurechtweisungen, Strafen und Belohnungen laufen bei ihnen ins Leere und gegenüber Druckausübung reagieren sie unempfindlich, abgehärtet, entziehen sich innerlich diesen Systemen. Allein diese Reaktionen des ‹Nicht-ansprechbar-sein› weisen von den Phänomenen her darauf hin, dass solche Jugendliche starke Beziehungsstörungen zu sich und den Mitmenschen aufweisen. Je ausgeprägter diese Beziehungsstörungen, desto unwirksamer verpuffen die üblichen klassischen Massnahmen der Pädagogik. Jede Institution in der Nacherziehung und Sozialisierung läuft da mit bisherigen Konzepten auf. Die Pädagog:innen stehen auf sich zurückgeworfen vor der Frage: Was könnte jetzt noch hilfreich sein? Was könnte eine Veränderung bewirken?