8.4 Diskussion und Praxisbezug

Die Ergebnisse, dass 75 bis 80% der Kinder und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe unter traumatischen Erlebnissen und Belastungen leiden, fordern eine intensive Auseinandersetzung mit dieser Thematik.

Eben diese Erlebnisse und Belastungen sind die Ursache, dass die Kinder verhaltensauffällig geworden sind und in eine stationäre Institution eingewiesen wurden. Vor diesem Hintergrund erfassen einseitig verhaltenspädagogische aber auch erlebnispädagogische oder familiensystemische Konzepte mit noch einer bis zwei Stunden ‹Legitimations›-Therapie pro Woche die innere Problematik dieser Kinder und Jugendlichen nicht. Ebenso ist es aus meiner Sicht ein Armutszeugnis von professionellen stationären Institutionen, in Austrittsberichten festzuhalten, dass das hoch auffällige Verhalten von XY wohl in traumatischen Störungen begründet sei – und dann die Jugendliche zur Verfügung zu stellen. Mit einem kritischen Blick in die Verlaufsberichte darf man teilweise froh sein, wenn in stationären Einrichtungen nicht zusätzliche Traumaentwicklungsstörungen oder Retraumatisierungen stattgefunden haben.

Wir haben verschiedene Jugendliche kennengelernt, die nach einem Verlust der Beziehungsperson(en) als 3 bis 5-jährige Kinder durch die Sozialbehörde in ein Kinderheim eingewiesen wurden. Mit 14-jährig haben sie im schlechtesten Fall zwischen 10 und 20 Institutionswechsel erlebt. Als Ergebnis sind sie völlig traumatisiert und zu jeglichen tragfähigen Beziehungen unfähig. Ob Assistenzärzt:innen oder Psycholog:innen in ihren Gutachten diesen dissozialisierten Jugendlichen nach ICD-10 nun eine Diagnose als «Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen» (F43) oder differentialdiagnostisch gar als «Posttraumatische Belastungsstörung» (F43.1) oder als «Persönlichkeits- und Verhaltensstörung» (F60-F69) und differentialdiagnostisch als beispielsweise ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6) oder als «Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend» (F90-F98) zuschreiben ist doch völlig dritt- und vielleicht gar zehntrangig im Anblick des Gesamttragik, welche diesen Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zugemutet wird. Spätestens seit den Untersuchungen von Bowlby wissen Professionelle, dass einschneidende – und vielmehr noch wiederholte – Trennungserfahrungen sich schädlich auf die psychische Entwicklung des Kindes auswirken. Und trotz dieses gesicherten Wissens bringen wir es immer noch zustande, dass Kinder/Jugendliche zwischen 10 und 20 Platzierungen erleben müssen. Wenn sich in unserer Institution eine 14-Jährige vorstellt, die in den vergangenen 10 Jahren 12 Platzierungen erlebt hat und der längste Aufenthalt in einer dieser Institutionen 8 Monate betrug, können sich doch alle an diesem ‹Fall› beteiligten Professionellen nur noch Asche auf das Haupt streuen und «mea culpa» rufen. Das Einzige, was solche Kinder/Jugendliche von uns Erwachsenen lernen, ist, dass es im Leben keine Konstanz gibt, sondern nur Abbrüche und Wechsel und dass es für das eigene Überleben sinnvoll und notwendig ist, sich emotional nie an einen Menschen zu binden, weil der mich sowieso wieder verlässt. Die Mitarbeitenden von Sozialbehörden und stationären Einrichtungen können in all diesen Fällen eine Mitverantwortung an den ‹Produkten› von höchst bindungsauffälligen, dissozialisierten Jugendlicher nicht von sich weisen.