In stationären Institutionen sammeln sich «schwierige Kinder», und «schwierigste Jugendliche». Die Mehrheit dieser Jugendlichen entwickelt jedoch erst während der Pubertät massive Verhaltensauffälligkeiten. Auf den ersten Blick erscheinen uns Kinder und Jugendliche als TäterInnen. Wenn sie uns mit ihrem uneinsichtigen und dauernd querulanten Verhalten stressen, erscheinen sie uns als eigentliche Wiederholungs-TäterInnen – sicherlich nicht als leidende Opfer. Betrachten wir jedoch die Phänomene ihrer Körpersprache, ihre Körperhaltung, Mimik und Gestik oder ihren Sprachausdruck und ihr Gesamtverhalten, weisen alle diese Phänomene darauf hin, dass diese Kinder und Jugendlichen von tiefen Unsicherheiten und Ängsten gequält, von unendlicher Wut und unfassbarer Enttäuschung getrieben sind, die ein grundsätzliches Misstrauen den Erwachsenen gegenüber ausdrücken.
Die Ursachen, Hintergründe, Ausdrucksweisen und Risiken einer dissozialen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter sind vielfältig und äussern sich im Einzelfall völlig unterschiedlich. Ein unangepasst-dissozialisiertes Menschenwesen kann sich am Schluss manifestieren als verwahrlost, distanzlos, oppositionell, aggressiv, drogenabhängig, teilnahmslos, zurückgezogen angsterfüllt oder überangepasst. Sichtbar sind die seelischen Verwirrungen nur als äussere Konflikte mit den Eltern, mit Gleichaltrigen, der Schule oder dem Gesetz.
Die Ursachen von auffälligem Verhalten sieht die Wissenschaft übereinstimmend in einem Zusammenspiel verschiedener psychischer, sozialer und biologischer Einflüsse (Lehmkuhl et al., 2012; Groen & Petermann, 2011; Cichetti & Toth, 1998), die als ‹Multikausale oder multimodale Modelle› bezeichnet werden. Ein solches multikausales Modell von möglichen Faktoren und ihre Wechselwirkungen, die als Ergebnis eine Entwicklung sozialer Störungen verursachen, zeigt folgende Abbildung:
Abb. 21: Multikausales Entstehungsmodell dissozialer Störungen

Quelle: Wittchen & Hoyer (2011)
Generell verfügen diese Kinder/Jugendlichen aufgrund von angeborenen Anlagen und einer ungünstigen biografischen Entwicklung nicht über ausreichend entwickelte Ressourcen um ihr Leben erfolgreich meistern zu können. Ihre Biografien weisen vielfach frühkindliche Störungen, fast immer familiäre Trennungen und mehrheitlich traumatische Erlebnisse auf. Sie leiden unter diesen in keiner Weise verarbeiteten Erlebnissen. Diese Belastungen führen bei ihnen zu psychisch-seelischen Reaktionen und Traumaverarbeitungs-Reaktionen, die sich in Beziehungsstörungen, kommunikativen Defiziten und geringer Frustrationstoleranz äussern und als Ergebnis immer mit Entwicklungsstörungen einhergehen (Streeck-Fischer 2006). Das zeigt sich beispielsweise sehr deutlich, wenn Forderungen an die Jugendlichen gestellt werden oder wenn sie in Konfliktsituationen geraten. In solchen Situationen gelingt ihnen kein übliches, einigermassen situationsadäquates Reagieren, sondern sie müssen rasch ausrasten, verbal oder tätlich aggressiv reagieren oder sich entziehen, auf ‹die Kurve› gehen oder sich selbst verletzen. Teilnahmslos und unerreichbar scheinende Jugendliche können bei einem an sich kleinen und belanglosen Reiz plötzlich in eine völlig überbordende Aufregung geraten, voll auf Angriff schalten und ein Riesentheater inszenieren. Diese Verhaltensweisen sind nicht gesellschaftsfähig und verunmöglichen es, sich gelingend in die Gesellschaft zu integrieren.
Die Entwicklungspsychologie kennt das epigenetische[1] Prinzip in der besagt, dass die Entwicklung eines Menschen nach einem Grundplan erfolgt, der für alle Menschen gleich ist. Dieser Grundplan ist in einzelne Stufen bzw. Entwicklungsaufgaben gegliedert, die das Ziel haben, ein funktionierendes Ganzes entstehen zu lassen. „Dieses Prinzip lässt sich dahin verallgemeinern, dass alles, was wächst, einen Grundplan hat, dem die einzelnen Teile folgen, wobei jeder Teil eine Zeit des Übergewichts durchmacht, bis alle Teile zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind (Erikson 1973, 57). Erikson geht also davon aus, dass die gesamte Entwicklung des Menschen, von seiner Geburt bis zum Tod, einem Programm unterworfen ist, in dem in jedem Lebensabschnitt Krisen entstehen, die gelöst werden müssen. Psychische Defekte entstehen in diesem Modell dann, wenn eine dieser Krisen nicht gemeistert werden kann. (vgl. Stangl, 2019).
Kinder und Jugendliche in stationären Institutionen stammen zu einem grossen Teil aus Familien, in denen sich eine Reihe von Lebenserschwernissen und –risiken bündelten, welche ihnen früh eine Auseinandersetzung mit erschwerten Lebensbedingungen abverlangten. In vielen Biografien sind Brüche vorhanden, die es genauer zu betrachten gilt. Häufig ist schon in der Kindheit eine besondere Vulnerabilität[2] vorhanden. Dies kann sich als extrem angepasstes Verhalten mit einer starken Tendenz zu innerem Rückzug und ebenso als einem extrem unruhigen reizbaren Verhalten gezeigt haben. Trennungen oder Verlust von wichtigen Bezugspersonen, häufige Umzüge, schwere körperliche Erkrankungen oder über Jahre angespannte konflikthafte Familiensituationen, seelische und/oder körperliche Misshandlungen gehören häufig zum Erfahrungsfeld dieser Kinder und Jugendlichen. Ihre individuelle seelische Last äussert sich als soziale Belastung der Gesellschaft. Diese Kinder und Jugendlichen mit ihren hoch verhaltensauffälligen Persönlichkeitsmerkmalen hält niemand gerne aus.
Eine Einweisung in eine stationäre Institution weist darauf hin, dass die Tragkraft der Familie in irgendeiner Weise überfordert war. Das Aufwachsen in ‹Multiproblemfamilien› bedeutet aber nicht nur schwere bis traumatisierende Sozialisationsbedingungen erlebt zu haben. Diese Kinder/Jugendlichen haben sich immer auch Kompetenzen erarbeitet. Sie haben gelernt, sich in ihren familiären Strukturen zu bewegen und mit diesen Strukturen umzugehen. Häufig sind es gerade diese selbst erarbeiteten Handlungskompetenzen, die in zweifacher Hinsicht zur sozialen Desintegration beitragen. Erstens geraten die Kinder/Jugendlichen mit ihren Kompetenzen, die meistens Überlebenshilfen oder Selbstheilungsversuche sind, in Konfrontation mit den Normen und Werten der Gesellschaft und Institutionen. Zweitens beinhalten diese Kompetenzen keine Grundlagen, um den gesellschaftlichen Anforderungen im Leistungs- respektive Verhaltensbereich in einer Schule oder Lehre entsprechen zu können. Daraus resultieren nicht nur oftmals brutale Bildungsbenachteiligungen, sondern auch schmerzvolle gesellschaftliche Desintegrationsprozesse für die Jugendlichen, welche auf die Dissozialisierung beschleunigend wirken. Wenn Kinder/Jugendliche über längere Zeit oder wiederholt in verschiedenen sozialen Bereichen eine Desintegration und Ausgrenzung, dieses «Ich gehöre nicht dazu» erleben, hinterlässt dies Wunden und Narben. Es wird für sie immer schwieriger, sich überhaupt noch mit gesellschaftlichen Standards zu identifizieren, den gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen nachzukommen. Dieses Abdriften geht immer einher mit vielfältigen kompensatorischen Handlungsweisen. Einzelne grenzen sich äusserlich ab mit betont auffälligem Auftreten und Verhalten, andere grenzen sich innerseelisch ab und entziehen sich den familiären, schulischen und gesellschaftlichen Strukturen. Ob am Ende solcher Desintegrationsprozesse Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Verhaltensäusserungen bei der Juga oder der KESB und in der Folge als Massnahme in einer stationären Institution der Nacherziehung oder in der Jugendpsychiatrie landen, scheint oftmals vor allem ein Offenbarwerden der jeweiligen individuellen Persönlichkeitsstrukturen zu sein.
Wenn Jugendliche sich in diesem fortgeschrittenen Zustand der Desintegration befinden, wird immer wieder besonders deutlich, dass weder Familie, Schule, Abklärungs- oder Beratungsstellen, Juga oder Vormundschaften, psychiatrische Kliniken oder pädagogische Institutionen mit ihren tradierten Interventionsformen diese Prozesse umkehren können. Weder wechselseitige Schuldzuweisungen oder Abgrenzungen noch Druck und Sanktionen resp. Isolation oder Medikamente bringen eine gewünschte Umkehr in Richtung Integration. Gerade deshalb müssen wir die zentralen Fragen angehen:
- Wie sind Desintegrationsprozesse umkehrbar?
- Welche Faktoren können in fortgeschrittenen Desintegrationsprozessen eine Veränderung in Richtung Integration bewirken?
- Wo können wir – bisher vielleicht unbeachtete – Integrationspotentiale ausmachen, die wir in Zukunft besser einbeziehen müssen?
Solche Fragen sind nicht auf einer allgemeinen Ebene pauschal zu beantworten – sie müssen vielmehr ganz auf die individuelle Situation der einzelnen Jugendlichen bezogen beantwortet werden. Diese Fragen sind nicht auf die Strukturen der bestehenden Institutionen beschränkt zu klären – sie fordern zu neuen Strukturen heraus. Eine subjektbezogene Sicht heisst: nicht die Institution mit ihrem Angebot steht im Zentrum, sondern das Kind, der Jugendliche mit den je eigenen Stärken und Schwächen und ihren Bedürfnissen stehen im Zentrum. Damit werden traditionelle Konzepte und tradierte Ressortgrenzen in Frage gestellt «und nur in der Überschreitung dieser lassen sich vielleicht die Potentiale entdecken, die sich integrationsfördernd erweisen könnten» (Störmer 2003, 123).
Die Persönlichkeitsstrukturen der verhaltensauffälligen Jugendlichen haben sich in den vergangenen 20 bis 30 Jahren nicht verändert. Bei psychodiagnostischen Abklärungen ergeben die Resultate der Persönlichkeitstests identische Normabweichungen:
- Ich-Stärke: unterdurchschnittlich => Ich-Schwäche, Selbstunsicherheit. Es geht um Verhaltensmerkmale, die einem Jugendlichen die Anpassung an seine Umwelt erschweren wie z.B. geringe Frustrationstoleranz, emotionale Labilität, Erregbarkeit, Empfindsamkeit und depressive Tendenzen. Es ist davon auszugehen, dass die Jugendlichen unter diesen Eigenarten leiden und dass hier (Mit-) Ursachen ihrer Anpassungsschwierigkeiten zu finden sind (siehe ‹soziale Erwünschtheit›).
- Aggressivität: unter- oder überdurchschnittlich:
- gering: bei Jugendlichen, die oft in gleichem Mass als ruhig und angepasst wie als adynamisch, phlegmatisch bezeichnet werden.
- hoch: weist auf eine permanente, innere, aggressive Gereiztheit mit teilweisem Zwangscharakter hin. Bei der Lösung sozialer Konflikte wird wenig nach Übereinstimmung gesucht, die konsequente Durchsetzung des eigenen Willens wird als Primat angesehen.
- Soziale Erwünschtheit: unterdurchschnittlich, eher schwache Normorientierung und z.T. formale Unangepasstheit.
- Antriebsspannung: oft überdurchschnittlich eher hohe innere Anspannung und Unruhe aufgrund gewisser gestörter Umweltbeziehungen. Dieser Faktor äussert sich primär in zwanghaften Handlungen als Suche nach Sicherheit, Drang nach Selbstbehauptung. Manchmal ist auch eine bewusste Ablehnung der Umwelt vorhanden.
- Leistungsmotiviertheit: unterdurchschnittlich => eher geringe Leistungsmotiviertheit. Manchmal als Bescheidenheit und Integrationsbereitschaft aufgrund von Selbstunsicherheit; geringes Dominanz- und Geltungsstreben. Oft auch Indiz, dass die vorhandenen Kräfte mehrheitlich von den innerpsychisch-seelischen Problemen absorbiert werden.
[1] Der Begriff „Epigenetik“ ist zusammengesetzt aus den zwei Wörtern Genetik und Epigenese, (= Entwicklung eines Lebewesens). Epigenetik gilt als das Bindeglied, als Verbindung zwischen Umwelteinflüssen und Genen.
[2] Vulnerabilität (lat. vulnus = Wunde) bedeutet Verwundbarkeit oder Verletzbarkeit