9.2 Sensibilität und Vulnerabilität

In Gesprächen mit diesen Kindern und Jugendlichen fällt rasch auf: es sind sehr sensible, empfindsame, dünnhäutige Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Das ist eine Erfahrung, die viele Mitarbeitende in stationären Institutionen machen – sie ist quasi ‹empirisch-intersubjektiv›. Man darf sich nicht durch das physische Auftreten von teilweise massigen oder muskelbepackten Körpern bei den Männern oder das sexistische, rotzfreche Verhalten der Frauen beeindrucken lassen. Hinter solchen Fassaden versteckt sich mehrheitlich ein kleiner ängstlicher Knabe oder ein völlig verunsichertes Mädchen. Es scheint immer mehr Kinder und Jugendliche zu geben, welche die Welt nicht verstehen. Sie verstehen ihre Umwelt nicht (Geschehnisse in ihrer Alltagsumgebung) und ihre Mitwelt nicht (Verhalten der Mitmenschen). Äusserungen wie «Ich checke nicht was da läuft», «Ich bin im falschen Film!», «Ja, ja: am Schluss bin immer ich schuldig» oder «Die spinnen, die Menschen!» weisen darauf hin. Die Folge einer solchen Entwicklung ist: wenn ich die Welt nicht verstehe, schaffe ich eine Distanzierung zwischen mir und der Welt. Meine Umwelt und Mitmenschen sind für mich nicht mehr mit Sinn und Bedeutung erfüllt. Beides sind Prädispositionen für psychische Krankheiten oder dissoziales Verhalten.

Es könnte für diese Jugendlichen eine gewisse Tragik in der Tatsache liegen, dass ihre Persönlichkeitsstrukturen mit den heute als wissenschaftlich definierten Methoden nur sehr unvollständig zu erfassen sind. Empirische ForscherInnen können zwar Aussagen machen über das Alter, das Geschlecht, die Dimensionen dissozialen Verhaltens (Drogenkonsum, Schulschwänzen, Opposition, Aggression, …), die Intelligenz, die Konzentrationsleistung, klinisch-kategoriale Einstufungen (DSM-5 oder ICD-10) und auch über beobachtbare Emotionsregulationen. Ein Persönlichkeitsmerkmal wie Gefühlsansprechbarkeit oder Sensibilität ist dagegen mit empirischen Methoden nicht direkt erfassbar. Natürlich gibt es den Rorschach- oder den Zulliger-Test, die wie kaum ein anderes Testverfahren Aufschluss geben über die affektive Seite der Persönlichkeit. Aber nur die Erwähnung eines Rorschach- oder Zulliger-Tests lässt die Gilde der Wissenschaftlichkeit aufstöhnen. Denn: solche Tests sind projektive Testverfahren, die als unwissenschaftlich gelten. Dafür erfassen genau diese Tests das Mass der Gefühlsansprechbarkeit, der emotionalen Reagibilität (= Fähigkeit, sehr sensibel zu reagieren) und des Angesprochenseins von der Aussenwelt. Die Summe der Farbwerte (Fb*) zeigt das Ausmass der Gefühlsansprechbarkeit. Die Farbwertverteilung gibt Aufschluss über die Art der Affektkontrolle von ‹überangepasst› über ‹ausgewogen› bis ‹unkontrolliert›.

Als Psychologe und Gutachter an der Viktoria-Stiftung Richigen erstaunten mich in den 1990-er Jahren die oftmals weit überdurchschnittlich hohen Farbwerte bei Jugendlichen, welche in die Geschlossenen und Halboffenen Abteilungen eingewiesen waren. Inzwischen habe ich den Zulliger-Test (3 Tafeln) mit Dutzenden von Jugendlichen durchgeführt. Mit der Zeit gelangte ich zur Hypothese: wir haben es hier grossmehrheitlich mit überdurchschnittlich sensiblen, feinsinnig-empfindsamen und empfänglichen Jugendlichen zu tun, die gerade auch deshalb verletzbarer sind. Wer empfindsamer ist hat zwar den Vorteil rasch und viel wahrzunehmen. Dies beinhaltet aber auch den Preis einer grösseren Verletzbarkeit.

Steiner hat im ‹Heilpädagogischen Kurs› 1924 wohl als erster auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. Er nannte dies «seelisches Wundsein». Er weist darauf hin, dass diese Kinder ihre Umgebung viel zu stark erfassen und in sich aufnehmen. Dadurch entsteht in ihnen eine furchtbar belastende Überempfindlichkeit. Diese seelische Überempfindlichkeit beschreibt er in einem Vergleich: «Nun, Sie brauchen sich nur vorzustellen, Sie haben irgendwo die Haut geritzt und Sie greifen ein Ding an mit einer wunden Fläche, mit einer Fläche, wo Sie die Haut abgeschürft haben, wo Sie empfindlich sind. … Dadurch entsteht ganz selbstverständlich das Erlebnis einer Hyperempfindlichkeit, einer hyperempfindlichen Hingabe an die ganze Umgebung. Es empfindet dann ein solches Menschenwesen viel stärker, viel intensiver die Umgebung, spiegelt sie auch viel stärker in sich» (Steiner 2010a, 80). In der Entwicklungspsychologie hat sich innerhalb der Resilienzforschung der Begriff der Vulnerabilität etabliert. «Vulnerabilität bezieht sich auf die Prädisposition eines Kindes unter Einfluss von Risikobelastungen verschiedene Formen von Erlebens- und Verhaltensstörungen zu entwickeln» (Wustmann 2004, 22). Die Psychologie geht heute davon aus, dass Erlebens- und Verhaltensstörungen auftreten, weil gewisse Kinder und Jugendliche in ihrer Veranlagung seelisch verwundbarer oder überempfindlicher sind als andere. Dies könnte ein Erklärungsansatz sein, warum viele Jugendliche in stationären Institutionen von Lebensereignissen völlig aus der Bahn geworfen werden, welche durchschnittlich empfindsame Jugendliche eigentlich verkraften und in ihr Leben integrieren können. Es ist zu hoffen, dass die Wissenschaft mit ihren Methoden fähig wird, weiter in diese Richtung zu forschen. Wenn es sich herausstellen würde, dass ein grosser Teil dieser Jugendlichen tatsächlich sensibler und verletzbarer ist, müsste eine solche Erkenntnis Veränderungen im Umgang bewirken – insofern eine Gesellschaft über die Einsicht verfügt, dass überdurchschnittlich sensible Menschen eben dieser Gesellschaft als wertvolle Gradmesser dienen.