9.3 Normalentwicklung in Pubertät und Adoleszenz

Für die meisten Menschen betrachten rückblickend die eigene Pubertät und Adoleszenz als einen markanten biografischen Lebenseinschnitt. Nach Zahnwechsel und Schuleintritt ist die Pubertät mit der Geschlechtsreife der zweite Übergang in eine neue Lebensphase. Die bisher mehr oder weniger geschützte Phase der Kindheit ist vorbei. Umwälzende Entwicklungen an Leib, Seele und Geist erfassen die gesamte Wesenheit des jugendlichen Menschen, wie dies vorher und nachher nie der Fall ist in der Biografie. Das zentrale Thema auf der physischen Ebene ist die Geschlechtsreife, auf der seelischen Ebene die Ablösung von den Eltern und auf der geistigen Ebene die Entwicklung von eigenen Lebensidealen und -inhalten.

Physische Ebene: Zuerst setzt die körperliche Geschlechtsreife ein, die bei den Mädchen durchschnittlich zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr und bei Knaben zwischen dem 11. und 16. Altersjahr einsetzt. Die körperliche Entwicklung umfasst die Bereiche Wachstum, erstes Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale und Ausreifung der primären Geschlechtsorgane. (Largo/Czernin 2011, 354f.; Largo/Prader, 1983a, 1983b).

Seelische Ebene: Die seelische Pubertätsentwicklung setzt ein, wenn das Kind sich aus der bisherigen Abhängigkeit von den Eltern zu lösen beginnt. Es hat die Geborgenheit der Kindheit verloren und muss sich auf die Suche nach einem neuen emotionalen Zuhause machen. Ein erstes seelisches Zuhause bieten die Gleichalterigen, Kolleg:innen, Freund:innen, Peer-Groups. Daraus entwickelt sich die Bereitschaft, eine Partner:inbeziehung einzugehen. Peer-Groups und Liebesbeziehungen sind Trainingsfelder für die spätere soziale Integration in die Gesellschaft. Das Schlimmste, was Jugendlichen in dieser Phase passieren kann, ist keine Freund:innen zu haben, sich allein, einsam und ‹anders› zu fühlen. Die Eltern erfahren diese Prozesse primär als Kontrollverlust, als ein Entgleiten des Kindes. Die Ablösung von den Eltern ist jedoch der zentrale Prozess der seelischen Pubertät und Voraussetzung, um ein selbständiges Individuum werden zu können. Eine weitere wichtige Aufgabe für die Jugendlichen ist die der Geschlechterdifferenzierung. Diese beinhaltet zuerst die Akzeptanz des eigenen männlichen oder weiblichen Körpers, den Aufbau einer sexuellen Orientierung und die Aufnahme neuer Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts. Später kommt die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen und die Ausbildung schulischer und beruflicher Interessen als Vorbereitung auf zukünftige berufliche und familiäre Rollen dazu (Steinebach 2003, 204).

Geistige Ebene: In der Adoleszenz (= Endphase des Jugendalters, Reifezeit) steht die geistige Entwicklung des Erwachsenwerdens im Zentrum. In der Pubertät entwickelt der Jugendliche eine neue Sicht auf Normen und Werte. In der Pubertät prüft er sich an Idealen. In der Adoleszent geht es um den Abgleich zwischen den Idealen und der Wirklichkeit. In Diskussionen untereinander schaffen Jugendliche die Welt neu. Oft geht es ihnen um eine universelle Moral, die für alle Menschen der Welt Gültigkeit haben sollte. Nach Largo ist es für die Gesellschaft «überaus wichtig, dass jede Generation aufs Neue das ethische Fundament der Gesellschaft hinterfragen und – bei Bedarf – Verbesserungen anbringen kann. Die Jugend ist der moralische Jungbrunnen der Gesellschaft» (Largo/Czernin 2011, 107).

Das Endziel der Pubertät ist das Finden der eigenen Individualität und die Integration dieser Individualität in die Gesellschaft der Erwachsenen. Dieser anspruchsvolle Entwicklungsweg ist in Abb. 23 zusammengefasst.

Abb. 22: Normale Entwicklung in Pubertät und Adoleszenz