Die Pubertät ist in einer normalen biografischen Entwicklung die erste tiefgreifende Krise. Krisen treten im Leben dann auf, wenn Bisheriges für die Zukunft nicht mehr tauglich ist. Sie werfen immer Fragen nach der Zukunft auf und zwingen den Menschen zu Veränderungen seines bisherigen Verhaltens. Jeder Mensch kennt das Wesen der Krise aus der eigenen Biografie: auch wenn wir spüren, dass eigentlich eine Änderung anstehen würde, versuchen wir zuerst solange wie möglich mit unseren erprobten Alltagsstrategien weiterzuleben. Das gelingt jeweils auch über eine gewisse Zeit. Aber irgendwann versagen die bewährten Alltagsstrategien. Wir finden uns in einer die ganze Persönlichkeit erfassenden und umfassenden Ohnmacht wieder. Die Krise ist spürbar als eine Ohnmacht vor sich selbst. Die häufigste Reaktion ist in dieser Situation, zuerst die Schuld auf andere Menschen zu schieben, sich über die Eltern, den Partner, die Lehrer zu ärgern. Damit haben wir den Punkt noch nicht erreicht, der als die eigene Existenz umfassende Ohnmacht gemeint ist. «Erst wenn man empfindet, dass der Kern der Krise eine Ohnmacht vor sich selbst ist, dass man an sich selbst ohnmächtig ist, dass man vor sich selbst darnieder liegt in einem Versäumnis, einer Schuld, einem Versagen, einer Illusion – erst dann ist eine Öffnung der Situation möglich, aus der Anschluss an die Sphäre der Aufrichtung gefunden werden kann» (Wais 2011, 17).
Um das Wesen der Krise besser verstehen zu können, ist das Modell der verschiedenen Ich hilfreich. Seit Prechts Bestseller ‹Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?› (2007) ist das Modell von verschiedenen Ich-Instanzen beinahe Allgemeinwissen geworden. Eine gut verständliche Unterscheidung beim Ich ist die zwischen den zwei Ebenen Alltags-Ich und Höheres Ich (vgl. ‹Das Ich› Kap. 12.3).
Der Weg aus einer Krise geschieht nicht einfach durch eine Analyse, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Die Lösung liegt vielmehr in der Einfühlung in etwas Neues, das heisst Zukünftiges. Es geht bei Krisen immer um die Grundfrage des Menschseins: Wer bin ich? Wer bin ich? – neben meinem Besitz, meinen Rollen, den Kenntnissen und Fähigkeiten, mit denen ich es im Leben zu etwas gebracht habe. Wer bin ich? – neben all diesen Dingen, die mir jetzt in dieser Krise nichts helfen? Daran schliesst sich die Frage: Was bin ich eventuell noch nicht? Das heisst: Was müsste ich entwickeln? Welche Aufforderung liegt für mich in diesen Ereignissen, damit mir so eine Erfahrung in Zukunft nicht mehr widerfährt? Krisen weisen damit immer auf ein Neues, das in der Zukunft liegt. Sie zeigen persönliche Entwicklungsnotwendigkeiten auf – oder weisen zumindest darauf hin. Es ist ja nicht so, dass der Mensch in solchen Momenten jeweils die notwendige Selbsterkenntnis besitzt, die Aufforderung für eine zukünftige Entwicklung zu hören, zu verstehen und in seinem Leben umzusetzen. Das macht aber nichts. In diesem Fall wiederholen sich Krisen einfach. Das Schicksal ist in diesen Dingen sehr geduldig. Wenn der Mensch nicht hinhört, die Aufforderung nicht versteht oder sie nicht umsetzt, führt das Schicksal ihn mit absoluter Sicherheit in die nächste Krise – solange, bis der Mensch verstanden hat.
Was als Schicksal (oder Zufall[1]) bezeichnet wird, kann auch als die Tätigkeit des Höheren Ich verstanden werden. Es führt Begegnungen mit anderen Menschen herbei, die uns unvermittelt treffen in unserer tiefsten Existenz als eine grosse Liebe oder ein grosser Konflikt. Wenn wir das Schicksal, den Zufall oder das Höhere-Ich nicht annehmen, kann dies den Menschen in einen Unfall oder eine Krankheit führen. Biografisch ist dies erstmals in der Pubertäts-/Adoleszenzkrise möglich – und dann das ganze Leben hindurch.
Für viele Eltern in durchschnittlich-gelingenden Familien bedeutet die Pubertätskrise der eigenen Kinder eine grosse Herausforderung an die Tragkraft. In den meisten Familien tauchen während dieser Phase Spannungen und Konflikte auf. Umso schwerer belasten pubertierende Jugendliche diejenigen Familiensysteme, die aus verschiedensten Gründen über eine eingeschränkte Tragkraft verfügen (Eltern in Trennung, Ehezerwürfnisse, alleinerziehende Eltern, Arbeitslosigkeit, Suchtmittelkonsum, Krankheit, …). Gerade wenn Kinder schon vor der Pubertät Verhaltensauffälligkeiten zeigten, sind solche (Teil-) Familiensysteme mit Jugendlichen in der Pubertät rascher überfordert. Denn jede Krise verlangt von den Menschen des direkten Umfeldes eine vermehrte Tragkraft. Vielfach schlittern Jugendliche aus solchen bereits vorbelasteten Familiensystemen in der Pubertät in eine massivere Krise, werden klar verhaltensauffällig und müssen ambulant betreut oder gar stationär platziert werden.
[1] Wem der Begriff Schicksal zu esoterisch daherkommt, kann dies auch Zufall nennen. Zufall ist das, was mir in meinem Leben an Ereignissen zu fällt – noch deutlicher: es fällt mir zu. Und dann sind wir inhaltlich wieder gleich weit.