9.5 Nacherziehung ist Erziehung auf drei Baustellen

Nach Juul (2010) ist die Pubertät für alle Jugendliche «pay-back-time». Im Vergleich zur «pay-back-time» einer normalen Pubertät und Adoleszenz gestaltet sich diese Lebensphase bei Jugendlichen in stationären Institutionen meistens noch einiges komplexer. Die Rückzahlung erfolgt hier vor allem an die professionell Betreuenden, als stellvertretende der ‹Erwachsenenwelt›. Die in dieser Phase durchzuführende Nacherziehung ist häufig eine Arbeit auf drei Baustellen (Abb. 23). Bei einzelnen Jugendlichen könnte man auch von einer Arbeit auf drei Schlachtfeldern sprechen.

1. Baustelle normale Pubertätsentwicklung: Sie verlangt auch in einer stationären Einrichtung eine möglichst altersgemässe Erziehung. Die Jugendlichen sollen so wenig wie möglich in ihren Rechten eingeschränkt werden (vgl. Goffman 2010). Dazu gehört, dass sie altersgemässe Themen der Pubertätsentwicklung – wie die Rollenfindung als Mann und Frau, sexuelle Erfahrungen unter Gleichaltrigen, Grenzen suchen und austesten, sich in verschiedenen Rollen versuchen – leben wollen und sollen. Eine nicht auflösbare Schwierigkeit bietet dabei die Tatsache, dass diese Jugendlichen vor ihrem Eintritt in eine stationäre Institution meist grosse und altersunangemessene Freiheiten erlebten und nun innerhalb definierter Möglichkeiten und klarer Grenzen der Institution alles als Einschränkung, Freiheitsentzug und Kontrolle erleben. Viele der stationär platzierten Jugendlichen müssen es hinnehmen, die Pubertät unter eingeschränkteren Freiheiten zu erleben als ihre Gleichaltrigen, die bei den Eltern aufwachsen.

Als Ideal ist anzustreben, dass die Jugendlichen ihren stationären Aufenthalt auch als einen Gewinn und eine Chance sehen. Wissenschaftlich heisst das: sie sollen eine Compliance, d.h. ein Einverständnis mit der Behandlung entwickeln und einschränkende Regeln als Hilfe zu ihrer Alltagsbewältigung verstehen (Tölle 1999, 325ff.). Nach unserer Erfahrung dauert es häufig ein Jahr und länger bis diese beziehungsgestörten Jugendlichen ihren Aufenthalt tatsächlich als Chance und Gewinn verstehen und dies auch verbal äussern können.

Abb. 23: Die drei Baustellen der Nacherziehung in Pubertät und Adoleszenz

2. Baustelle Entwicklungsdefizite: Die vorhandenen Entwicklungsdefizite offenbaren sich in der Regel rasch nach einem Eintritt. Die Jugendlichen müssen bezüglich ihrer Fähigkeiten und Defiziten dort ‹ abgeholt› werden, wo sie entwicklungsmässig stehen. Denn wie jeder andere Mensch sind diese Jugendlichen auf der Suche nach Selbstbestätigung, Liebe, Zuwendung, Geborgenheit, Trost, Sinn und einer eigenen stabilen Identität. Deshalb macht es z.B. durchaus Sinn, ihnen in den ersten Wochen eine Eingewöhnungszeit an die geltenden Regeln und Strukturen zu gewähren, bevor das pädagogische Konzept dann zur Anwendung gelangt. Eine klare Tagesstrukturierung, die unter anderem in einem individuellen Tages- und Wochenplan schriftlich vorliegt, sowie transparente Regeln schaffen für alle Beteiligten Klarheit.

Solche Grundlagen sind für die Jugendlichen von elementarer Bedeutung, weil sie entlastend wirken und zudem die Regressionsneigung mildern können (Lehnert 2005, 13). In der Wohngruppe sollen alle Jugendlichen verschiedene Aufgaben und ‹Ämtli› als Verantwortungen übernehmen. Aufgaben wie Weckdienst, Frühstück zubereiten, Tisch decken, Abwaschen, Abtrocknen, neue Bewoher:innen beim Einkauf begleiten usw. helfen, schrittweise Verantwortung zu übernehmen und im Realraum der Gruppe sich und andere zu integrieren oder selbständig mit kleinen Konflikten umzugehen.

Es ist mir bekannt, dass diese Aufgaben und Verantwortungen heute in den stationären Institutionen nicht mehr geübt werden: das Frühstück wird den Jugendlichen zubereitet hingestellt, den Abwasch erledigt die Abwaschmaschine, Einkäufe sind Sache des Hausdienstes, für die Sauberkeit sind Reinigungskräfte angestellt, wer nicht aufstehen mag kann auch den Tag im Bett verbringen. Diese ‹neuzeitgemässe Pädagogik› vergibt sich da im normalen Tageslauf viel an pädagogischen Übungssituationen, die eine selbständige Alltagsbewältigung und Integration fördern! Denn über solche integrierende Tätigkeiten, die durch Pädagog:innen eng begleitet werden müssen, können mehrere wertvolle Zielsetzungen einer stationären Massnahme etabliert werden wie z.B. die Jugendlichen mit neuen Werten bekannt machen, Regelmässigkeit und Verantwortung einüben, die Integration in die Gruppe fördern oder neue Verhaltensweisen ausprobieren.

Wenn ich die letzten 40 Jahre zurückblicke, stelle ich fest, dass die Entwicklungsdefizite in den vergangenen 10 Jahren nochmals zugenommen haben. Viele Jugendliche können nicht mehr einen Tisch decken, Abwaschen oder Abtrocknen, sich etwas kochen, das eigene Zimmer oder die Wäsche aufräumen. Die kleinste Verantwortung übernehmen zu müssen erscheint manchen eine unakzeptable Anpassungsleistung, für andere bedeutet es eine psychisch-soziale Überforderung oder einige finden, dass dazu die Sozis (Sozialpädagog:innen) angestellt sind. Das heisst: diese Jugendlichen haben in ihrer Kindheit wichtige Basiskompetenzen von ihren Eltern nicht lernen können. Wann sollen sie es lernen, wenn nicht jetzt!

3. Baustelle ‹Dissozialisierende Erfahrungen›: Die Mehrheit der Jugendlichen hat vor einer Einweisung in eine stationäre Einrichtung Erwachsenenwelt-Erfahrungen gemacht. Sie haben sich, ihren Bedürfnissen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechend, an verschiedenen (Sub-) Kulturen, Lebensstilen und Werten orientiert. Sie haben einen Teil ihrer noch brüchigen Identität aus ihrer ‹Szene› bezogen und verschiedene Lebensstile, Freunde und Feinde, Musikpräferenzen und Konsumorientierungen entwickelt. Mit etwas Glück haben sie in ihrer Szene Zugehörigkeit, Solidarität und Selbstbestätigung erlebt. Mit weniger Glück haben sie sich prostituiert oder an illegalen Geschäften beteiligt mit Gewalt, Übergriffen, Gewinn und Verlusten. Diese Erlebnisse wirken nach in der Seele – sie müssen besprochen, als Teil der eigenen Biografie akzeptiert, vielleicht gar verstanden werden. So können sie heilend in die Persönlichkeit integriert werden. Zugleich müssen neue und im Regelfall sozial verträglichere Verhaltensmuster an die Stelle früherer Überlebensstrategien treten. Die Jugendlichen müssen meist mühsam lernen, Beziehungen aufzunehmen oder in Beziehungen selbst- und fremdverantwortlicher zu handeln. Sie müssen lernen, Aufgaben zu übernehmen und dabei Sinn und Wert zu erfahren. Das setzt voraus, dass die stationäre Institution eine klare Kultur etabliert hat, die sich gegen die Werte der Knast-, Drogen- oder Gassenszene oder auch gegen die ‹Psychiatriekultur› durchsetzen kann. Jugendliche, die sich auf eine Einrichtung mit abstinenzorientiertem Setting und Urinkontrollen einlassen können, erfahren in der Regel raschere Fortschritte. Denn sie erleben die eigene Persönlichkeit in den Stärken und Schwächen direkter, klarer und können bewusster darüber reflektieren und entsprechende Verhaltensänderungen Ich-gestützt einüben.