5.1 Begriffsklärungen

Begriffe wie Teilhabe, Integration, Inklusion, Vernetzung, Diversität und Ganzheitlichkeit haben in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen in unserer Gesellschaft. Die Ursprünge dieser neuen Denk- und Handlungsweise reichen in die 1940er Jahre zurück, als Wissenschaftler um Norbert Wiener (Mathematiker, Zoologe, Philosoph) den Begriff Kybernetik prägen. Forscher aus Biologie, Ökologie, Philosophie oder Soziologie entwickeln neue Sichtweisen, indem sie das bisherige lineare Denken verlassen und ganze Systeme als nicht-lineare, ökologisch vernetzte Prozesse betrachten. Forscher wie Fritjof Capra, Ken Wilber oder Nassim Taleb sind zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt: wir müssen als Menschheit das lineare, monokausale Denken und Handeln überwinden und zu integrierenden Menschen werden.

Fritjof Capra (Physiker, Systemtheoretiker, Philosoph, Managementtrainer und Autor) bezeichnet als wichtigsten Unterschied zwischen den ökologischen Netzwerken der Natur und den unternehmerischen Netzwerken der menschlichen Gesellschaft, dass in einem ökologischen System kein Teil vom anderen ausgeschlossen wird. Capra beschreibt 2002 sechs lebenserhaltende Prinzipien der Ökologie, die auch für andere Systeme gelten:

  • Netzwerke: Lebendige Systeme kommunizieren miteinander und tauschen ihre Ressourcen untereinander grenzübergreifend aus.
  • Zyklen: Ökosysteme produzieren keinen Abfall; Materie bewegt sich kontinuierlich im System.
  • Solarenergie: Durch Fotosynthese betreibt die Solarenergie die ökologischen Zyklen.
  • Partnerschaft: Leben entsteht nicht durch Kampf, sondern durch Partnerschaft.
  • Diversität: Ökosysteme erreichen Stabilität mittels Vielfalt – je diverser, desto widerstandsfähiger.
  • Dynamische Balance: Ein Ökosystem ist ein immer schwankendes Netzwerk: Alle Variablen schwanken um ihre optimalen Werte; keine einzelne Variable wird optimiert (zit. nach Scharmer 2013, S. 113f).

Der Philosoph Ken Wilber versucht einen sehr umfassenden Ansatz von Integration, indem er «alle Ebenen» (Ich, Wir, Es) mit «allen Quadranten» (individuell – kollektiv / intern – extern) mit «allen Linien» (Ströme der Entwicklung) mit «allen Typen» (menschliche Typologien) und «allen Zuständen» (des Bewusstseins) in eine integrale Sicht bringt. Er zeigt an konkreten Beispielen aus Politik, Wirtschaft, Pädagogik und anderen Lebensbereichen, wie ein integrales Denken und Handeln verkrustete Denk- und Verhaltensmuster ablösen und den Menschen zu innovativen Lösungen inspirieren kann (Wilber, 2001).

Interessante Anregungen zu dieser Thematik bietet ebenfalls Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch ‹Antifragile› (2012). Nach Taleb versuchen wir in allen Gesellschaftssystemen – z.B. Finanzen, Gesundheit, Erziehung, Soziales – möglichst jegliche Volatilität (Schwankungen) zu verbannen. Das ständige Ziel der modernen Gesellschaft ist, alles widerstandsfähiger, vorhersehbarer, sicherer und geordneter zu machen. Zwar versuchen wir, uns zu Herrschern unserer eigenen Natur aufzuspielen, sind überzeugt, dass wir immer robustere und sicherere Systeme bauen würden. Tatsache ist aber, dass sich Volatilität nicht so einfach ausgliedern lässt: die Welt ist nicht sicherer und geordneter geworden. Im Gegenteil. Vom Gefühl her scheint uns alles brüchiger, fragiler, verletzbarer zu werden und auseinanderzufallen. Dieser Brüchigkeit stellt er die Anti-Brüchigkeit oder eben ‹Antifragilität› gegenüber. Unter antifragil versteht Taleb nicht unzerbrechlich oder robust, sondern vom Wesen her antifragil. Das Gegenpaar fragil/antifragil erklärt er über die Ausschliessung: «Ein fragiler Mensch, ein fragiles ökonomisches System mag keinen Zufall, keine Volatilität, keine Unsicherheit, keine Unordnung, keine Fehler. Antifragile Menschen, Institutionen und Systeme dagegen mögen all dies. Sie lernen daraus, sie passen sich an, sie profitieren bei positiven Schocks sogar davon.» (Iselin 2012, 24) Die Forderung von Taleb ist klar: sich der Vielfalt, der Volatilität (Schwankungen), dem Prozess und damit dem antifragilen Leben hingeben. Taleb verweist in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Hormesis, ein von Pharmazeuten beobachtetes Phänomen. Wir immunisieren uns gegenüber schädlichen Substanzen, indem wir kleine Dosen dieser Substanz zu uns nehmen. Die kleinen Dosen entsprechen den Anregungen und Anstössen, die wir in der Vielfalt erhalten und ohne die unser Leben monoton wird. Und anfälliger: Wenn ein System die kleineren Anstösse und Stresseinheiten nicht zulässt, wird es anfällig auf wirkliche Störungen. Anfang 2007 beschrieb Taleb in dem späteren Bestseller ‹Der Schwarze Schwan› die Anfälligkeit unserer modernen Gesellschaft für Ereignisse die unbekannt sind, extreme Ausmasse annehmen und unvorhersehbar bleiben (sogenannte ‹black swans›). Taleb war einer der wenigen, der die Finanzkrise tatsächlich auch vor der Finanzkrise vorhergesagt hat. Deshalb vertritt er die Ansicht, häufiger kleinere und kontrollierte Feuer zuzulassen, die grössere Waldbrände verhindern können. Zudem findet Taleb die Summe kleiner Schocks verträglicher für die Menschen als den Effekt eines gleich grossen Einzelereignisses. Er wendet sich gegen Differenzierung und Homogenität und vergleicht unsere Gesellschaft mit dem Riesen Prokrustes in der griechischen Mythologie: es wird alles in die gleiche Grösse gezwängt. Prokrustes bot Reisenden ein Bett an, auf das er sie niederlegte. Dann passte er seine Gäste auf die Grösse des Bettes an. Waren sie zu gross, hackte er ihnen die Füsse ab. Waren sie zu klein, streckte er ihre Glieder auf dem Amboss. Deshalb gibt Taleb den Rat: «Wir sollten unsere Überzeugungen nicht nach ihrer Plausibilität bewerten, sondern nach dem Schaden, den sie anrichten können.»

Der Begriff Soziodiversität stammt von Carl Christian von Weizsäcker, der zur Entstehung des Begriffs schreibt: Soziodiversität ist «ein Begriff, den ich im Anschluss an den Begriff der Biodiversität gebildet habe.» (von Weizsäcker 1999, 34). An anderer Stelle führt er aus: «Die Erhaltung der Artenvielfalt, die Biodiversität, ist ein allgemein anerkanntes ökologisches Ziel. Ich bin der Meinung, dass wir auch Soziodiversität dringend brauchen.» (ebd. 169) «Was nützlich ist, ist Soziodiversität, ist Vielfalt in den sozialpolitischen Konzepten und Problemlösungen. Abgesehen von einigen Dogmatikern glauben wir alle nicht zu wissen, wie der beste Weg zur Lösung unserer Probleme aussieht. Karl Poppers Begriff der offenen Gesellschaft als Gegenbegriff zum Totalitarismus beruht ganz wesentlich auf der Erkenntnis, dass wir weniger eine wissende als eine lernende Gesellschaft sind. Das Verfahren des Erkenntnisfortschritts ist ganz wesentlich das des ‹Trial and Error›. Friedrich August von Hayek spricht vom ‹Wettbewerb als Entdeckungsverfahren›. Dabei geht es nicht um den Wettbewerb zwischen Organisationen oder Personen» (ebd. 69). Auf die helfenden Systeme übertragen heisst das: es geht um den Wettbewerb der unterschiedlichen Problemlösungen, die in verschiedenen stationären Institutionen für ein vorgegebenes Problem versucht werden. Nach Weizsäcker ist unsere soziale Welt komplex und ihr Funktionieren ist von uns vielfach nicht hinreichend verstanden, so dass wir immer wieder neu nach Lösungen suchen müssen. Von Weizsäcker ist überzeugt, dass wir dabei als Menschen voneinander lernen können – wenn wir den Spielraum der Autonomie nutzen, wenn wir auf unnötige Vereinheitlichung in Monokulturen verzichten. Für ihn ist das Ziel der Soziodiversität eine grössere Freiheit des Individuums. Er zitiert Willy Brandt als dieser – altersreif und frei von allen Ämtern – seiner Partei zu bedenken gab: «Das Bedürfnis der Menschen nach Freiheit verändert die Welt, nicht die Sehnsucht nach Gleichheit.»

Soziodiversität ist inhaltlich identisch mit dem Begriff Heterogenität[1], der sich in der schulischen Pädagogik für die ‹Durchmischung von Schüler:innen mit verschiedenen lernrelevanten Merkmalen in einer Klasse› durchgesetzt hat (Tillmann/Wischer 2006). Diskutiert wird Heterogenität vor allem in Bezug auf schulische Leistungen, Alter, Geschlecht sowie sozio-kulturellem Hintergrund.

Für die Durchmischung in stationären Institutionen wird hier der Begriff der Soziodiversität bevorzugt. Zu den vorgängigen Kriterien sind zusätzlich die altersmässig erweiterte Durchmischung (12 bis 30-Jährige), die stark von einer Normalentwicklung abweichenden Biografien und die psychodiagnostischen Konstitutionsbilder mit sehr normabweichenden Stärken und Schwächen als pädagogische Aufgabe aufzuführen.


[1]     Heterogenität (griechisch: héteros = ungleich, verschieden; Genese = Entstehung, Entwicklung) bedeutet die «Herausbildung von Verschiedenheit».